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Sie radelte wie der Teufel. Über Gehsteige, Plätze, gegen Einbahnstraßen, durch schmale Gassen, alle paar Ecken Passanten gestoppt und befragt, schließlich sogar gegen gellendes Hupkonzert ein Stück über den Standstreifen einer Stadtautobahn – total verschwitzt und schnaufend stand Nelli endlich in einem Vorortindustriegebiet vor dem Glasportal des Verlagshauses, in dem die Reporterin ihr Büro hatte.

Nelli bugsierte ihr Fahrrad kurzerhand durch die Schiebetür in die Empfangshalle, nutzte den Protest des Mannes am Infoschalter, um nach Fiona Herolder zu fragen, da kam sie im selben Moment hereinmarschiert und staunte nicht schlecht, dass Nelli sie per Fahrrad abgehängt hatte.

»Es tut mir wirklich leid«, begann sie, versuchte, nicht allzu reuig zu wirken, und nahm aufatmend zur Kenntnis, dass sie ihre Chance nicht verspielt, sondern vielleicht sogar Punkte gesammelt hatte.

Die Herolder zog eine Zigarettenpackung aus ihrem schwarzen Lackhandtäschchen, ohne ein Wort zu sagen, klopfte sich eine Zigarette zurecht, steckte sie in den Mund, nahm sie wieder heraus, als sie den drohenden Blick des Pförtners sah, und gab Nelli einen Wink mit dem Kopf. Die wollte ihr Fahrrad mitnehmen, Fiona Herolder stoppte sie per Handzeichen, zeigte an den Pförtner gewandt mit dem Finger darauf, der nickte, und Nelli stellte es an Ort und Stelle ab.

Sie gingen aus dem Empfangsraum durch eine Glastür in einen Gang mit regelmäßig abzweigenden Türen, gelangten über eine Schleuse in ein Nebengebäude, folgten dort weiteren Gängen, bis sich eine Art Atrium öffnete, eine grün bepflanzte Insel Freiluft inmitten des Gebäudekolosses. Die Herolder setzte sich auf ein Bänkchen, klopfte mit der flachen Hand auf die Sitzfläche neben sich, wobei ihre Ringe auf dem Holz ein vielstimmiges Klock-Klack veranstalteten, und Nelli folgte der wortlosen Einladung.

»Gefallen hat mir das nicht, was Sie da eben abgezogen haben«, sprach sie das erste Mal seit ihrer Wiederbegegnung an Nelli vorbei in die Rauchwolke des ersten Lungenzuges hinein.

»Sie hätten dem Jungen ne Chance geben können«, entgegnete Nelli trotzig.

Die Herolder nahm einen zweiten tiefen Zug und schüttelte beim Auspusten den Kopf.

»So nicht. Das läuft ausschließlich über die Personalabteilung. Aber vorher soll er eine Kurzbewerbung per Mail einreichen.«

»Aber ...«

»Nichts aber. Wir sind kein Wald-und-Wiesen-Blättchen, sondern ein internatonal tätiger Verlagskonzern. Der Junge bricht sich auf dem Weg zu einem unserer Treffen den Haxen und behauptet dann, er sei unser Mitarbeiter. Zum Beispiel. Der Depp wäre ich. Ganz zu schweigen von dem, was er mit Ihrer Story für einen Mist machen könnte, wenn er der falsche Hund ist, für den ich ihn halte.«

»Also, jetzt hören Sie mal ...«

Die Herolder wendete abrupt den Kopf, schaute Nelli erstmals direkt in die Augen und schnitt ihr das Wort ab:

»Sind Sie hier als Mentorin eines Kleinstadt-Nachwuchsjournalisten oder um Ihre Story zu verkaufen?«

»Muss das eine das andere ausschließen?«

»Ganz klar: ja. Also?«

»Also zur Story«, lenkte Nelli ein.

Die Herolder sog die Glut bis an den Filter, ließ den glimmenden Stummel zwischen ihre Füße fallen und dort weiter vor sich hinstinken.

»Sie waren also auf Weltreise. Wie lang?«

»Sieben Jahre lang«, antwortete Nelli abgelenkt. Sie hatte das Bedürfnis, die Glut auszutreten, aber das rechte Bein der Herolder war im Weg.

»Hatte das sexuelle Gründe?«

Nelli vergaß den qualmenden Stummel und riss den Kopf hoch.

»Wie bitte?«

»Na, sagen Sie schon. Durch die Welt ziehen und die freie Liebe genießen, so was in der Art? Mal alle Kulturen und ihre Sexpraktiken durchprobieren et cetera pepe ... Hat sich daraus diese mörderische Auseinandersetzung im Gletscher ...«

Nelli sprang auf, und die Herolder folgte ihrer Bewegung mit einem coolen, spöttischen Blick.

»Das ist doch völliger Blödsinn!«, empörte sich Nelli. »Krank und absurd. Sie unterstellen ...«

»Nur die Ruhe.«

Die Reporterin lächelte, tätschelte Nelli die Hand und fischte sich eine neue Zigarette aus der Packung.

»Vergessen Sie die Frage. Nehmen Sie wieder Platz.«

Nelli dachte nicht daran und blieb stehen.

»Was soll das eigentlich?«

»Keine Tabus. Das soll es bedeuten. Sie fordern viel Geld, und Sie haben recht, es zu fordern. Aber dafür verlange ich Antworten, und zwar auf alle Fragen. Nur, dass wir da klare Gesprächsvoraussetzungen schaffen.«

»Aber mein Sexualleben ist doch wohl ...«

»Wenn es zur Story gehört, ist auch das kein Tabu. Und das wird Ihnen übrigens bei jeder Zeitung so gehen, bei der Sie es versuchen, bei jedem Fernseh- und Radiosender, bei jedem Buchverlag, egal ob die Ihnen mehr anbieten als wir oder weniger. Wollen Sie noch einen Tag Bedenkzeit?«

Nelli schaute sie an, begriff den Sinn der Provokation und setzte sich wieder.

»Was? Nein, meinetwegen, aber wie ist es mit dem, was Sie schreiben? Kriege ich wenigstens das noch mal zu sehen?«

»Klar – wenn Sie sich die betreffende Ausgabe Von Frau zu Frau am Kiosk kaufen, dann können Sie alles in Ruhe lesen.«

»Ich meine natürlich vorher!«

»Und dann soll ich mit Ihnen jede Formulierung diskutieren und kürzen und streichen und umschreiben und vielleicht noch Ihre Lieblingslebensweisheit einfügen, wo es Ihnen gerade gefällt? Keine Chance.«

Nelli überlegte. Sie folgte mit einem langsamen, gründlich jedes Detail begutachtenden Blick dem Verlauf des kaminartigen Atriums bis zu dem kleinen Fleck Himmel, der irgendwo im 10ten Stock aus einem Rahmen von chrom- und glasglänzenden Bürofenstern leuchtete. Sie hatte keine Ahnung von Baumaterialien und architektonischen Kniffen, aber dieser Ort hier und der ganze Rest des Gebäudes, den sie gesehen hatte, sah ihr nach verdammt viel Geld aus. Sie fasste einen Entschluss, schaute die Herolder an und nickte ihr zu.

»Meinetwegen. Aber unter den Bedingungen will ich 200.000 plus Spesen.«

»Was denn für Spesen, bitte?«

»Solange ich mich für Interviews in München aufhalte, will ich in einem Hotel wohnen, und zwar in einem schönen. Das ist übrigens auch in Ihrem Interesse. Wenn man die Nacht in einem Zelt am Waldrand verbringt, riecht man am nächsten Tag nicht besonders gut, wie Sie vielleicht schon gemerkt haben.«

Die Herolder ließ ihr Wegwerffeuerzeug schnippen, ein erster Rauchfaden stieg auf, und Nelli staunte, wie schnell der Qualmgeruch zu ihrer Nase gelangte, obwohl er doch nach oben abzuziehen schien.

»Hotel geht in Ordnung, wir haben da was für Geschäftsbesucher zwei Straßen weiter, ich schreib Ihnen eine Berechtigungskarte. Wenn Sie aber meinen, in den Interviewpausen München verlassen zu müssen, dann geht das voll auf Ihre Rechnung. Ebenso wie Hotel in den Pausen.«

»Wieso Pausen?«

»Ich hab auch noch andere Storys.«

»Und wann gehts los?«

»Von mir aus morgen. Sofern ich das Okay für die 200.000 bekomme.«

Sie stand auf, schnippte die angerauchte Zigarette in den kleinen künstlichen See im Pflanzengrün in der Mitte des Atriums, und Nelli hörte das Zischen mit einer solchen Empörung, dass sie abgelenkt war und nachfragen musste:

»Was?«

»Morgen um neun beim Pförtner. Und wenn Sie schon vorhaben zu duschen, dann kaufen Sie sich ruhig auch mal ein paar neue Klamotten. Könnte sein, dass jemand von der oberen Etage dabei ist, wenn wir den Vertrag unterschreiben.«

Mit gemischten Gefühlen passierte Nelli die Glasschiebetür. Die Herolder hatte ihr ein Bestätigungsformular ausgefüllt, das es ihr ermöglichen sollte, an der Rezeption als Gast des Verlages einzuchecken – bargeldlos und ohne peinliche Fragen, wobei sie Nelli von oben bis unten gemustert hatte, als sei dies ein Service für besonders exzentrische Gäste.

»Exclusiv Hotel«, las Nelli auf dem Formular und betrachtete die Bilder: glänzende Fassade mit Balustrade, darunter ein vorfahrender Porsche, luxuriös ausgestattete Lobby mit Edelholz und verschwenderischem Grünpflanzenschmuck, Blick in eines der Zimmer mit Doppelbett, Fernseher, Leseecke mit Sessel und Stehlampe, offene Tür zur Terrasse, Wellness-Bereich mit Pool. Na, die würden sich über einen Gast wie sie bestimmt sehr freuen. Vielleicht sollte sie sich doch erst mal wenigstens mit neuen Klamotten ausstatten?

Nein, erst duschen und das Fahrrad sicher parken. Zum Einkaufen dann mit dem Bus. 200 Euro in bar hatte sie für diesen Zweck bekommen – nicht gerade üppig.

Nelli wollte den Briefumschlag mit Geld und Bestätigungsformular für den Weg ins Hotel in ihren Bauchbeutel stecken, da sah sie im Augenwinkel etwas, das ihre Aufmerksamkeit weckte, das ihr bekannt vorkam. Sie blickte auf und zur Seite. Eine hellgrüne Ente parkte schräg gegenüber. Hinter dem Seitenfenster erkannte sie Rolfs Milchgesicht, er hatte zu ihr herübergesehen und sie beobachtet. Als er sich ertappt sah, versuchte er hastig, den Motor zu starten.

Nelli lehnte ihr Fahrrad an die Einfassung der Rasenfläche vor dem Verlagsgebäude, drehte sich weg, hörte es scheppernd umfallen, fluchte, aber rannte trotzdem los. Rolf gelang es nach langem Orgeln, den Motor zu starten. Ruckend und schaukelnd lenkte er sein Gefährt aus der Parklücke. Als Nelli gerade den Mittelstreifen der Straße erreichte, sah sie die Ente nur noch von hinten und hörte den Motor jaulend beschleunigen, als ginge es um Leben und Tod. Erst als die kleine grüne Karre nur noch ein Fleck zwischen anderen bunten Tupfern im Verkehrsgewühl war, fiel ihr das Nummernschild ein. Wieder nicht aufgepaßt! Aber diesmal ging es nicht um eine Entschuldigung ihrerseits.

Von Autos umtost blieb Nelli noch eine ganze Weile mitten auf der Straße stehen und starrte in die Ferne. Ein Scheißgefühl war das. Es war das Andi-Gefühl: belauert und verfolgt werden, in die Enge getrieben, fest verschnürt und zum Objekt degradiert, ignoriert und herumgestoßen – Todesangst.

Nelli blies die Luft aus, schüttelte energisch den Kopf. Blödsinnige Ängste in diesem Zusammenhang. Das war kein Monster wie Andi, sondern ein zu groß geratener kleiner Junge, der sich ausgenutzt und im Stich gelassen fühlte, mehr nicht. Der Schreck, von ihr ertappt worden zu sein, würde ihn aus der Stadt und nach Hause getrieben haben. Den würde sie, hoffentlich, nie wiedersehen. Hoffentlich.

Tiefpunkt - Thriller

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