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2.1Das Forschungsdesign als Gesprächsrahmen

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Qualitative Forschungsdesigns erfüllen drei Funktionen, die in den verschiedenen Phasen einer Studie verschiedene Anforderungen an eine adäquate Forschungsstrategie stellen:

•im Vorfeld der Planung und des Forschungseinstiegs schaffen sie die Voraussetzungen für die Durchführung einer Analyse;

•für die Forschungsabwicklung sehen sie Maßnahmen zur Sicherstellung der Qualität der Ergebnisse vor;

•zum Abschluss einer Studie machen sie das gewonnene Wissen verfügbar.

Eine nähere Beschäftigung mit dem Verlauf qualitativer Studien macht nachvollziehbar, welche Entscheidungen in den verschiedenen Forschungsphasen anfallen und welche Bedeutungen diesen für die Durchführung qualitativer Forschungsgespräche zukommen. Sinnvollerweise lassen sich hierbei vier Phasen unterscheiden (vgl. Froschauer/Lueger 2009b):

a)Die Planungsphase

Diese erste Forschungsphase dient der gedanklichen Vorbereitung einer Studie, indem man sich mit den möglichen Anforderungen eines Forschungsfeldes vertraut macht. In ihr werden Lernpotenziale hergestellt und Rahmenbedingungen ausgelotet, die eine möglichst sinnvolle Sammlung oder Erhebung von Materialien sowie deren intensive Nutzung erlauben. Im Zuge dessen schafft man die organisatorischen Voraussetzungen für die Realisierung des Vorhabens.

In Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand sind Überlegungen nötig, welche unterschiedlichen Varianten des Zugangs möglich sind, welche Datenmaterialien man höchstwahrscheinlich für das Verständnis des Feldes braucht und wie man diese erhalten könnte. All dies erfordert die sorgsame Prüfung der sozialen Voraussetzungen des Zuganges zu einem Forschungsfeld, insbesondere bei Forschungsfeldern, die sich nach außen hin abschließen (z. B. eine Haftanstalt, die Entwicklungsabteilung eines Automobilkonzerns).

Forschungsseitig setzt dies voraus, sich über das eigene Erkenntnisinteresse Klarheit zu verschaffen und damit auch die Eignung einer qualitativ orientierten Forschungsstrategie zu prüfen (siehe Kap. 7). Um eine möglichst offene Vorgangsweise zu gewährleisten, bedarf es einer sehr vagen Frageformulierung oder Themenstellung, in deren Zentrum das Interesse an der sozialen und kollektiven Form der Herstellung von Wirklichkeit und deren Folgen für die soziale Dynamik in einem sozialen System steht. Man stellt Fragen nach Bedeutungen, Kontexten, Konstellationen, Relevanzen, Prozessen, um herauszufinden, warum und wozu ein bestimmter Kontext die Akteur*innen motiviert, welche Entwicklungskräfte und Dynamiken in bestimmten physischen und sozialen Umgebun-[20]gen aufzuspüren sind und was dabei genau vor sich geht, was typische Muster sind und wie diese vor welchem Hintergrund entstehen oder auch, warum jemand etwas als Faktum betrachtet, also wie Bedeutungen entstehen und verändert werden und wie diese mit welchen Folgen von wem in die Argumentation eingebracht werden und wie sie dabei das soziale Feld verändern.

Die Zentrierung auf ein soziales Problem (wie dies mitunter im Fall von Auftragsforschung vorkommt) ist dafür wenig hilfreich, weil jede Problemdefinition bereits eine Betrachtungsperspektive einschließt und damit die Sicht auf die Funktionsweise eines sozialen Systems einschränkt. Tauchen in der Forschungskonzeption Problemstellungen auf, so ist in der Analyse jedenfalls zu erkunden, warum etwas aus welcher Perspektive überhaupt als Problem betrachtet wird (d. h. was ein ‚Problem‘ zu einem ‚Problem‘ macht). Eine solche Problemreflexion ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine differenzierte Analyse. Zu vermeiden ist auch eine einfache Suche nach Faktoren oder Motiven oder Kausalitäten. Die interpretative Sozialforschung erweitert solche Fragestellungen in der Regel, indem man nicht bloß nach Faktoren fahndet, sondern erkundet, was diese zu Faktoren macht, inwiefern sie relevant wofür sind und in welche Prozesse sie eingebunden sind; bezüglich der Motive erkundet man den Kontext ihrer Entstehung und ihre Bedeutung für individuelle oder soziale Vorgänge; Kausalitäten werden als dynamische Konstellationen analysiert, deren Geschichte, Bedingungen, Verläufe oder Folgen sowohl für die direkt oder indirekt betroffenen Akteur*innen als auch für die Umwelt genauer in den Blick genommen werden.

Qualitative Studien sind erfahrungsgemäß immer wieder mit verschiedensten Interessen konfrontiert: beispielsweise im Rahmen von Forschungsaufträgen, aber auch bei der Begutachtung von Qualifizierungsarbeiten oder von Beiträgen, die in Fachzeitschriften zur Veröffentlichung eingereicht werden, und nicht zuletzt von jenen Gatekeepern, die über den Zugang zu manchen Forschungsfeldern entscheiden). Die empirische Forschungsarbeit muss sich von solchen Einflussnahmen freispielen, um sich nicht vereinnahmen, methodische Einschränkungen auferlegen oder sich in die soziale Dynamik des Feldes verstricken zu lassen. Eine gut überlegte Artikulierung der Forschungsfrage kann viel zum Aufbau einer Vertrauensbeziehung beitragen.

Darüber hinaus ist es wichtig, in dieser Vorbereitungsphase die erforderlichen Kompetenzen (z. B. in Hinblick auf Erhebungs- und Interpretationsmethoden) zu bestimmen, um ein geeignetes Forschungsteam zu bilden bzw. um ein unterstützendes Forschungsumfeld zu schaffen (z. B. Kolleg*innen; eventuell kann eine Supervision hilfreich sein). Im Fall von Forschungsteams ist eine gemeinsame methodologische Perspektive notwendig (um sich nicht über Gebühr in Grundsatzdiskussionen zu verlieren), das Team sollte aber bezüglich der methodischen und inhaltlichen Kompetenzen sowie hinsichtlich der Anforderungen des Untersuchungsgegenstandes möglichst heterogen zusammengesetzt sein. Entschei-[21]dend ist hier die Steigerung des Forschungspotenzials, ohne zu viel Reibungsflächen zu schaffen.

In diesem fiktiven Probierstadium zur kognitiven Strukturierung des Forschungsfeldes verschafft man sich aus einer Außenperspektive einen ersten Überblick über den Forschungsgegenstand (eventuell auch unter Einbeziehung von Expert*innenmeinungen) und klärt die eigenen Erwartungen und Vorannahmen. Im Zuge dessen ist zu prüfen, welche Vor- und Nachteile mit unterschiedlichen Feldzugängen verbunden sind: Bildet die Geschäftsführung eines Unternehmens die entscheidende Kontaktstelle, so kann dies gravierende Probleme nach sich ziehen, wenn diese Geschäftsführung gerade ein Personalabbauprogramm vorbereitet. Auch wenn das Untersuchungsvorhaben mit diesem Programm nichts zu tun hat, könnte ein bereits vorhandenes Misstrauen gegenüber der Geschäftsführung auf das Projektteam übertragen werden. In einer solchen Situation kommt es daher darauf an, das Vertrauen der Mitarbeiter*innen zu gewinnen. Dies bedeutet, dass man – egal ob die Geschäftsführung, die Gewerkschaft, außenstehende Vermittlungsinstanzen etc. den Eintritt in das Forschungsfeld ermöglichen – mit Zuschreibungen konfrontiert ist, die man selbst nur bedingt steuern kann. Aber man kann darauf achten, welche möglichen Zuschreibungen auftauchen könnten und welche Strategien sich anbieten, ungünstige Zuschreibungen zu vermeiden oder aufzufangen.

Um ein System kennenzulernen, ist es wichtig, sich mit den Handlungsweisen des Feldes vertraut zu machen. Dafür bietet sich an, Strukturierungsleistungen des Feldes für die Forschung zu nutzen: Wie ein soziales Feld mit externen Forscher*innen umgeht, sagt beispielsweise viel über die Strukturierung der Außengrenze eines sozialen Systems aus (vgl. Lau/Wolff 1983). Man sollte daher bereits während der Planung darauf achten, dass der Forschungseinstieg das erste Analysematerial verfügbar macht. Um dieses Material auch forscherisch nutzen zu können, sollte man auf die Dokumentation dieses Einstiegs vorbereitet sein. Darüber hinaus könnte man bereits im Vorfeld überlegen, wie man die Akteur*innen in einem sozialen System in den Forschungsprozess einbindet, indem man etwa bestimmte Agenden (wie die Zusammensetzung von Gesprächsrunden) an Akteur*innen im sozialen System überträgt oder mit diesen die Vorgangsweise im Studienverlauf diskutiert. Hinsichtlich der Durchführung von Gesprächen ist zu prüfen, welche Vor- und Nachteile dieses Verfahren in Hinblick auf die Untersuchung einer Forschungsfrage aufweist. Dabei sind Fragen zu klären wie:

•Inwiefern sind Gespräche anderen möglichen Verfahren (wie etwa Beobachtung oder Artefaktanalysen) überlegen?

•Welche Differenzierungen des Untersuchungsgegenstandes vermittelt dieser nach außen und welche Schlüsse sind daraus für den Forschungszugang zu ziehen?

•[22]Welche Gruppen von Akteur*innen in einem sozialen System bzw. dessen Umfeld kommen für Gespräche in Frage und welche Besonderheiten des Feldes könnten dabei aus dem Blick geraten?

•Gibt es mögliche Zugangsrestriktionen und wie kann man diese überwinden?

•Welche Erwartungen, die mögliche Ansprechpartner*innen an die Forscher*innen herantragen könnten, sind antizipierbar und welche Konsequenzen hat das für den Zugang zum Feld?

•Welche Kompetenzen werden für die Forschungsdurchführung benötigt, um eine adäquate Durchführung und Analyse der Gespräche zu gewährleisten, und wie können eventuelle Kompetenzdefizite beseitigt werden?

•Welche Möglichkeiten zur Anregung von Strukturierungsleistungen bestehen?

b)Die Orientierungsphase

Diese Phase setzt die in der Planung vorgesehenen Schritte erstmals um. In heiklen Forschungsfeldern (etwa im Fall von Zugangsrestriktionen in abgeschlossenen Bereichen wie Haftanstalten, Ministerien, Schulen oder Forschungsabteilungen in Unternehmen, aber auch in Familien) ist diese Eröffnung des Kontaktes zum untersuchten sozialen System besonders wichtig, weil in deren Verlauf Kommunikationsschnittstellen etabliert und Möglichkeiten der weiteren Forschungsorganisierung im Feld erschlossen werden.

Ersten Beziehungen kommt eine besondere Bedeutung zu, weil sie den Rahmen für Folgekontakte schaffen und Zuschreibungen auslösen, die den Zugang zu weiteren Kontaktstellen oder -personen verändern (d. h. erleichtern oder eventuell blockieren). In dieser Phase spielt sich das Forschungssystem auf drei Ebenen ein: (a) Forschungsseitig bedarf es in vielen Fällen einer Regulierung und Normalisierung der internen Arbeitsbeziehungen im Forschungsteam (insbesondere wenn die Teammitglieder noch nie in der gewählten Konstellation zusammengearbeitet haben oder über wenig Forschungserfahrungen verfügen). (b) Dazu kommt der Aufbau tragfähiger Beziehungen zum Untersuchungsfeld, um die weitere Vorgangsweise abstimmen zu können (z. B. wer den Kontakt zu welchen Personen hält, welche Informationen an welche Personen weitergegeben oder vertraulich behandelt werden). (c) Auch das untersuchte System beginnt, sich auf die Forschungsaktivitäten einzustellen (etwa indem Mitglieder des untersuchten Systems sich über die Erfahrungen mit der Forschung austauschen).

In diesem Zugangsprozess wird auch die Eignung verschiedener Verfahrensweisen im Forschungsfeld geprüft (vgl. z.B. Lueger 2000). Das betrifft die ersten Entscheidungen sowohl bezüglich der Erhebung als auch der Interpretation. Am Beginn sind dies meist sehr offene Gespräche mit externen Expert*innen (um etwa die Zugangsmöglichkeiten und die Rahmenbedingungen einer Forschungsarbeit zu erkunden) oder mit sogenannten Gatekeepern im sozialen Feld (um [23]sich im Verlauf der Eröffnung des Zuganges einen ersten Überblick zu verschaffen).

Für die in dieser Phase geführten ersten Gespräche ist zu berücksichtigen, dass sie eine wichtige Funktion für die Aushandlung einer für das soziale System verträglichen Vorgangsweise übernehmen und ein positives Forschungsklima herstellen sollten. Daraus folgt, dass der sozialen Dimension der Forschungsorganisierung in den ersten Gesprächen besonderes Augenmerk geschenkt werden sollte. Im Zuge dessen erhält man erste Informationen über den Umgang eines sozialen Systems mit externen Personen und über interne Prozesse. In dieser Phase ist daher die Überlegung folgender Fragen nützlich:

•Wer könnte (speziell wenn dem Forschungsteam das zu untersuchende System sehr fremd ist) vertrauenswürdige Informationen zur ersten Orientierung über das zu untersuchende soziale System geben (externe Expert*innen)?

•Wer sind erste Ansprechpartner*innen im sozialen System (z. B. Gatekeeper, die den Weg in das System erschließen)?

•Wie kontaktiert man diese Personen?

•Wann erscheint der Zeitpunkt zur Kontaktaufnahme geeignet und welche Zeitstrukturen könnten hier von Bedeutung sein?

•Wo sollen die erste Kontaktnahme und das erste Gespräch stattfinden (unter der Annahme, dass die Erhebungssituation Effekte für das produzierte Material hervorruft)?

•Auf welche Weise könnte das System bereits bei der Kontaktaufnahme Systeminformationen produzieren (z. B. Umgang mit einem Forschungsansinnen) und was muss daher bei der Strukturierung der ersten Kontaktsituation beachtet werden?

•Welche Informationen sollte man dem untersuchten System über das Forschungsvorhaben geben, um ein Vertrauensverhältnis zu den potenziellen Gesprächspartner*innen aufzubauen?

•Welche organisatorischen Maßnahmen zur Sicherung des Vertrauensverhältnisses werden ergriffen?

•Welche Informationen benötigt man aus dem sozialen Feld, um eine sinnvolle Auswahl von Gesprächspartner*innen treffen zu können?

•Welche Informationen sind zur erfolgreichen Kontaktierung von Gesprächspartner*innen erforderlich?

•Wie lassen sich unterschiedliche Formen von Expertisen im fokussierten sozialen System und in dessen Umwelt identifizieren?

•Wie kann die Forschungsfrage nach den ersten Erfahrungen reformuliert werden?

Auf inhaltlicher Ebene holt man in den Gesprächen Informationen über die Selbstbeschreibung des sozialen Systems ein und versucht Wege zu bestimmen, wie man sich jenes Wissen aneignen kann, das für ein Verständnis des Systems nötig ist.

[24]Diese Phase ist abgeschlossen, wenn man den weiteren Zugang für die Analyse geregelt hat und über eine grobe Vorstellung über die Struktur des sozialen Systems verfügt. Bereits in diesem Schritt erfolgen die ersten grundlegenden Analysen der in den Einstiegsgesprächen gewonnenen Materialien, um den Übergang in die Hauptforschungsphase systematisch planen zu können.

c)Die zyklische Hauptforschungsphase

In der dritten Phase erfolgt der intensive, nunmehr explizit zirkulär angelegte Forschungsprozess. Die einzelnen Forschungszyklen verkörpern hierbei den Kerngedanken qualitativer Sozialforschung und treiben die inhaltliche und methodische Entwicklung des Forschungsprozesses voran. Das Grundprinzip ist, die Organisierung der Forschung möglichst mit den Strukturierungsleistungen des Feldes zu verkoppeln, um sich zumindest temporär und partiell der Logik des Feldes auszusetzen. Gleichzeitig erfordert die Auslegung des Materials immer wieder ein Zurücktreten hinter die eigenen Erfahrungen und die distanzierte Analyse des gesamten Forschungshandelns. Die Basiskomponenten dieser Phase reflektieren besonders deutlich die zentralen Elemente interpretativer Sozialforschung und die methodologischen Basisüberlegungen, nämlich (a) das unentwegte Ineinandergreifen von Erhebung und Interpretation; (b) die permanente Reflexion des Forschungsstandes auf inhaltlicher und methodischer Ebene; (c) die Abgrenzung von klaren Lehrbuchmethoden zugunsten einer flexiblen und variablen Gestaltung der Erhebungs- und Interpretationsverfahren; (d) die kontinuierliche sorgfältige Überprüfung und Modifikation der vorläufigen Ergebnisse; (e) die laufende Erstellung von vorläufigen Teilanalysen.

Die Dynamik des Forschungsprozesses wird gleichsam entlang der kontinuierlichen inhaltlichen Entwicklung der Erkenntnisse über das soziale System und die während der Forschungsarbeit gesammelten methodischen Erfahrungen angetrieben. Dieser Entwicklungsprozess wird unterstützt durch aufbauende, aber dennoch voneinander relativ getrennte Analysezyklen, auf deren Basis über die methodische und inhaltliche Reorganisierung und Modifikation des jeweils nächsten Zyklus entschieden wird. Jeder Analysezyklus setzt sich hierbei aus Erhebungen, Interpretationen, die Prüfung der bisherigen Vermutungen (u. a. Kontrollinterpretationen durch andere Interpret*innen, Anwendung anderer Methoden; siehe Kap. 6) und die Bündelung der gewonnenen Erkenntnisse in Zwischenresümees zusammen. Die vorläufigen Ergebnisse helfen bei der systematischen und theoretischen Aufarbeitung des Wissens über das soziale System, unterstützen die methodische Kontrolle des Forschungsprozesses und die kritische Diskussion im Forschungsteam.

In jedem Zyklus wird nur wenig Material systematisch analysiert (auch wenn deutlich mehr Material erhoben werden sollte). Das erfordert eine sorgfältige Auswahl des zu interpretierenden Materials aus dem Pool insgesamt verfügbarer Materialien und strategische Entscheidungen über eine möglichst sinnvolle Erhebung. In diesem Prozess übernehmen die Reflexionsphasen zwischen den Ana-[25]lysezyklen eine wichtige Unterbrechungsfunktion: In diesen wird eine inhaltliche und methodische Standortbestimmung durchgeführt, wobei anhand der spezifischen Stärken und Schwächen der eingeschlagenen Forschungsstrategie und der gewählten Verfahren über die weitere Vorgangsweise entschieden wird. Der Reflexionsprozess unterstützt die Entwicklung und Steuerung des Forschungsprozesses, durchleuchtet die Rahmenbedingungen der Forschungsdurchführung (etwa die Wechselwirkung zwischen Forschung und Gegenstandsbereich, teaminterne Kooperationsstrukturen, die Anwendbarkeit von Forschungsverfahren, die Bedeutung von externen und internen Erwartungshaltungen) und fördert den kontrollierten Aufbau von Wissensstrukturen bzw. theoretischer Konzeptionen durch immer wieder zu etablierende gewissenhafte Prüfverfahren.

Dem theoretischen Sampling (vgl. Glaser/Strauss 2010: 61ff.) kommt hierbei als Auswahlstrategie für das neu einzubeziehende Material eine Schlüsselstellung zu. Im Rahmen des theoretischen Samplings wird die Durchführung und die Interpretation von Gesprächen (bzw. die Erhebung und Interpretation anderer Materialien) von zwei Entscheidungsprinzipien geleitet:

•Das erste Prinzip besagt, dass man Materialien erheben bzw. analysieren sollte, die mit hoher Wahrscheinlichkeit geeignet sind, die bisherigen Annahmen zu widerlegen. Insofern begibt man sich auf die Suche nach Gesprächspartner*innen, die mutmaßlich entweder konträre Positionen vertreten oder ‚Grenzfälle‘ des sozialen Systems markieren. Diese Inklusion auf der Basis maximaler struktureller Variation bestimmt die Reichweite und Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse und klärt die Grenzen und Spezifika einer theoretisierenden Argumentation.

•Das zweite Prinzip besagt, dass man Materialien der Analyse verfügbar machen sollte, die mit hoher Wahrscheinlichkeit die bisherigen Ergebnisse bestätigen. Mit dieser Strategie begibt man sich auf die Suche nach vergleichbaren Fällen und spricht mit Personen, deren Aussagen vermutlich zu ähnlichen Analyseergebnissen führen. Diese Inklusion auf der Basis der Unterschiedsminimierung dient der Prüfung bisheriger Annahmen. Dadurch versucht man Unschärfen der theoretisierenden Argumentation aufzuspüren, indem man genau jenen Bereich fokussiert, der mit den bisherigen Analysen bereits abgedeckt sein müsste. Identifiziert man dabei neue oder widersprüchliche Erkenntnisse, so deutet dies auf Probleme der Theoriekonstruktion hin, was eine genauere Erforschung spezifischer Teilbereiche bzw. die Modifikation der Ergebnisse erzwingt.

Dieser schrittweise Einbezug neuer Materialien in die Analyse wird so lange fortgesetzt, bis sich die Interpretationen stabilisieren und weitergehende Analysen (nach dem Prinzip der maximalen Variation) keine neuen Erkenntnisse mehr bringen. Unter dieser Bedingung bezeichnet man die gewonnene theoretische Argumentation als gesättigt. Ab diesem Zeitpunkt würde der Aufwand [26]weiterer Analysen den daraus zu ziehenden Erkenntnisgewinn beträchtlich übersteigen.

Für die Analyse mittels Forschungsgespräche bedeutet dies, sich zumindest am Ende eines jeden Analysezyklus mit folgenden Fragen zu befassen:

•Welche Erkenntnisse hat man bisher gewonnen und welche Lücken oder Unklarheiten lassen sich identifizieren?

•Welche Strategien in der Auswahl der Gesprächspartner*innen eignen sich zur Beseitigung dieser identifizierten Analysedefizite?

•Welche Modifikationen in der Gesprächsführung sind dafür erforderlich?

•Inwiefern könnte die Art der Gesprächsführung die spezifischen Ergebnisse beeinflusst haben und wie lassen sich daraus resultierende mögliche Einseitigkeiten beseitigen?

•Sind außer der Gesprächsanalyse eventuell andere Analyseverfahren zur adäquaten Bearbeitung der Forschungsanforderungen notwendig?

•Sind die Mitglieder des Forschungsteams adäquat eingesetzt und gewährleisten sie sowohl die Anschlussfähigkeit zu den einzelnen Teilbereichen des untersuchten sozialen Systems als auch die Sicherung der Interpretationsqualität oder sind Umstrukturierungen im Team erforderlich?

d)Die Ergebnisdarstellung

Ohne Kommunikation der Erkenntnis leistet auch die brillanteste Untersuchung weder einen Beitrag zur Wissenschaft noch einen zur gesellschaftlichen Entwicklung. Sozialwissenschaftliche Forschung muss daher anschlussfähig zu relevanten Bezugskollektiven gehalten werden. Berichte machen Ergebnisse zugänglich und setzen sie dadurch einer kritischen Rezeption aus. Für Forschungsarbeiten sind (neben der Gesellschaft allgemein) Angehörige des konkreten Untersuchungsfeldes (bzw. auch Auftraggeber*innen) und das Wissenschaftssystem primäre Adressat*innen. Speziell Letzteres zeichnet sich durch sein spezifisches (intern differenziertes) Erkenntnisinteresse aus und erhebt besondere Ansprüche an die Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse. Folglich stellt sich hier die Aufgabe, die Thematik, die Vorgangsweise und das erlangte Wissen systematisch zu erläutern und Hinweise zu geben, die künftige Forschungsarbeiten auf ähnlichen Gebieten erleichtern. Das aus dem Produkt erwachsende Verständnis des Untersuchungsbereichs und die Anregung des Wissenschaftssystems sind die substantiellen wissenschaftlichen Leistungen (siehe Abschnitt 6.2). In diesem abschließenden Schritt lassen sich zwar keine Anforderungen an die Durchführung und Analyse von Gesprächen ableiten, jedoch an die Präsentation der aus diesen gewonnenen Erkenntnisse. Dabei sind folgende Fragen zu klären:

•Wer sind die Adressat*innen einer Studie?

•Welche Ergebnisse sind für die Adressat*innen (und nicht nur für das Forschungsteam) von besonderer Bedeutung?

•[27]Welche Informationen über die Forschungsdurchführung sind erforderlich, damit die Adressat*innen den Ergebnissen vertrauen können?

•Welchen Beitrag leistet die durchgeführte Studie für die Adressat*innen und inwiefern konnte die Wissenschaft auf diese Weise vorangetrieben werden?

Der geschilderte Forschungsprozess ist vereinfacht in Abbildung 1 dargestellt.

Abbildung 1: Forschungsprozess


Quelle: Eigene Darstellung

Eine solche Vorgangsweise erfordert aufseiten der Forscher*innen eine hohe Ungewissheitstoleranz, weil sie sich vorweg nicht auf alle Eventualitäten einstellen können, keiner durchgehenden detaillierten Planung folgen können und ständig den Anforderungen des Forschungsprozesses entsprechend ihre Vorgangsweise ändern müssen. Folgende Punkte sind deshalb wichtig, weil sie erfahrungsgemäß immer wieder (mit negativen Folgen für die Forschungsqualität) übergangen werden:

•Generell sollte man sich mittels sehr offener Vorgangsweisen das Feld in der inhaltlich und methodisch sinnvollsten Weise erschließen, dagegen Absicherungsstrategien oder stärkere Vorstrukturierungen (wie etwa Interviews mit persönlich bekannten Personen, genaue Leitfäden für die Befragung, zu starke Berücksichtigung der [28]Sichtweise der hierarchischen Spitze eines sozialen Systems) meiden, weil dies blinde Flecken eher verstärkt als überwindet.

•Da gerade der Forschungszugang wichtige Einsichten in die Selbstbeschreibung und das Selbstverständnis sozialer Systeme gewährt, sind bereits die Erstkontakte zu einem sozialen System möglichst umfassend zu dokumentieren und einer besonders sorgfältigen Analyse zu unterziehen. Die ersten Analysen bilden das Fundament für die weitere Arbeit – und dieses Fundament sollte möglichst solide gestaltet werden.

•Die Interpretation des Materials im Rahmen der zyklischen Hauptforschungsphase bildet den Schwerpunkt der Analyse. In den meisten Fällen mangelt es nämlich nicht an Material, sondern an der extensiven Auslegung ausgewählter Materialien und an systematischen Forschungsentscheidungen, die nur eine gewissenhafte Interpretation ermöglicht.

•Für die Analyse sollte man grundsätzlich folgende Regel beherzigen: Langsamer ist schneller und informativer. Weil der Beginn einer Textinterpretation aufgrund der für die Analyse noch unbekannten Gesprächsdynamik die gewagtesten Schlussfolgerungen erzwingt (die den Blick erweitern), ist die erste Interpretationsphase eines Textes besonders gründlich durchzuführen (wobei die Feinstrukturanalysen den Systemanalysen oder Themenanalysen meist vorangehen).

Das qualitative Interview

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