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1Einführung

„Berücksichtigen Sie die Beschaffenheit der empirischen Welt und bilden Sie eine methodologische Position aus, um diese Berücksichtigung zu reflektieren.“

(Blumer 1981: 143f.)

Dieser Satz, mit dem Blumer einen Artikel über den methodologischen Standort des Symbolischen Interaktionismus zusammenfasst, kann als zentrale Richtlinie für die vorliegende Arbeit gelten. Vorgefertigte Theorien und Methoden sind demzufolge unzureichende Mittel, um die soziale Welt angemessen verstehen zu lernen. Hingegen lautet die zentrale Forderung, dass sich empirische Untersuchungen an die Eigenschaften ihres Untersuchungsgegenstandes anpassen müssen. Dies erfordert Dreierlei: erstens ein Grundverständnis über den möglichen Aufbau des fokussierten sozialen Systems, um überhaupt in die empirische Analyse einsteigen zu können (forschungspragmatische methodologische Ausgangsposition). Zweitens ein methodisches Instrumentarium, das diesem Grundverständnis gemäß in hohem Maße offen gegenüber den Besonderheiten des Untersuchungsgegenstandes ist (flexibles Verfahrensrepertoire). Drittens müssen anhand der Reflexion der Berücksichtigung der Beschaffenheit der empirischen Welt sowohl das Grundverständnis als auch die angewandten Verfahren modifizierbar sein (reflexive Forschungsstrategie). In diesem Sinn dienen die im Untersuchungsprozess sukzessive gewonnenen Ergebnisse der laufenden Neubestimmung und Modifikation der Anforderungen an die Erhebungs- und Interpretationsverfahren. Umgekehrt wiederum eröffnet diese laufende Justierung der gewählten Forschungsverfahren die Chance, neue Erkenntnisse zu gewinnen.

In den folgenden Ausführungen versuchen wir, die theoretischen Anforderungen und Grundprinzipien in handhabbare Hilfen für konkrete Vorgangsweisen umzuwandeln und so etwas wie Richtlinien zur Durchführung und Interpretation von qualitativen Interviews zu erstellen. Dennoch bleiben sie nur Hinweise, die ständig zu reflektieren sind und im jeweiligen Fall adaptiert oder auch verworfen werden müssen.

Unserer Erfahrung nach besteht bei Forscher*innen, die sich erstmals in die qualitativ orientierte Empirie vorwagen, häufig Unsicherheit über die Wissenschaftlichkeit des eigenen Vorgehens und Unsicherheit darüber, was überhaupt bei der Durchführung qualitativ orientierter empirischer Studien alles zu beachten ist. Die unterschiedlichen methodologischen Positionen, die Vielfalt an Techniken der Interviewdurchführung und der Variantenreichtum an Interpretationsverfahren verwirren noch zusätzlich. Erschwerend kommt dazu, dass viele dieser Angebote in spezifischen Forschungskontexten erarbeitet wurden und daher nur bedingt auf andere Thematiken übertragbar sind. Dieses Buch versucht hier eine Orientierung [12]anzubieten, indem es jeweils auf die Basisüberlegungen hinweist, die eine spezifische Forschungsstrategie oder ein Forschungsverfahren begründen, und diese dann in ihrer praktischen Umsetzbarkeit beschreibt. Forscher*innen obliegt in diesem Sinn nicht die mechanische Umsetzung methodischer Vorgaben, sondern sie entwickeln auf der Grundlage fundierter Überlegungen eine Forschungsstrategie, die sie im Analyseprozess adaptieren, immer mehr verfeinern und in der sie die verschiedenen angewandten Verfahren mit Blick auf ein möglichst umfassendes Verständnis des Untersuchungsgegenstandes optimieren. Die Zielsetzungen der folgenden Ausführungen konzentrieren sich daher auf sechs Punkte:

a)Im Zentrum der vorgestellten Überlegungen steht die praktische Umsetzung, ohne ein Standardschema für qualitative Studien anzubieten. Anstelle von Rezepten stehen empfohlene Vorgangsweisen, die weitgehend in Frageform dargestellt sind, um vor Augen zu halten, dass in konkreten Forschungssituationen immer Handlungsspielräume in Form von Entscheidungsalternativen existieren. Leser*innen sollten dadurch in die Lage versetzt werden, sich die Vor- und Nachteile der jeweils gewählten Vorgangsweise bewusst zu machen, wohlüberlegte Entscheidungen zu treffen und kreative Ideen zu entwickeln. Qualitativ-empirische Forschung ist in diesem Sinne ein kreativer, aber zu begründender und zu reflektierender Entscheidungsprozess.

b)Um die Anwendbarkeit zu erleichtern, wird auf eine möglichst komprimierte und nachvollziehbare Darstellung mit kurzen Verweisen auf Schlüsseltexte Wert gelegt. Dieser Zielsetzung ist auch der Anhang gewidmet, in dem sich Kurzfassungen zu wichtigen Fragestellungen oder Richtlinien zu zentralen Thematiken finden. Sie bieten eine Gedächtnisstütze für die konkrete Forschungsarbeit. Aufgrund des Verzichts auf eine ausführliche Diskussion der umfangreichen Literatur sind in das Literaturverzeichnis Werke zur qualitativen Sozialforschung aufgenommen, die im Text nicht explizit zitiert wurden, um den Einstieg in eine etwas breitere Literaturbasis zu erleichtern.

c)Seriös durchgeführte Studien bedürfen einer Begründung der gewählten Vorgangsweise. Daher ziehen sich zentrale methodologische Überlegungen als roter Faden durch die gesamte Arbeit und werden im Kapitel 7 gesondert hervorgehoben. Auch hinsichtlich der Gesprächsführung und der Interpretation finden sich immer wieder Hinweise zur Erleichterung der Entscheidung über die Vorgangsweise.

d)Interpretationsverfahren lassen sich nur bedingt über eine rein formale Darstellung der Vorgangsweise aneignen. Deshalb werden für alle vorgestellten Varianten der Interpretation exemplarische Analysen angeführt. Sie fungieren nicht als zu kopierendes Vorbild für die Interpretation, machen aber die Idee und den Prozess der Auslegung leichter nachvollziehbar.

e)Die Verlässlichkeit von Forschungsergebnissen ist nicht bloß eine Frage der Begründung einer Vorgangsweise, sondern bedarf spezifischer Strategien zur Qualitätssicherung (etwa die Integration von Gesprächsführung und Interpretation). [13]Der Bedeutung dieser Forschungskomponente gemäß ziehen sich entsprechende Hinweise durch das gesamte Buch, wobei Kapitel 6 geeignete Maßnahmen systematisiert und zusammenfasst.

f)Sowohl die theoretischen Ausführungen als auch die Darstellungen zur Durchführung und Interpretation qualitativer Interviews konzentrieren sich auf die Analyse des Kontextes von Gesprächsaussagen. Fokussiert wird dabei die Ausdrucksgestalt von Wirklichkeit und die Erzeugung und Darstellung von Sinn im Rahmen der Strukturierung sozialer Prozesse und Strukturen sozialer Systeme.

Da uns die Darstellung einer allgemeinen Interview- oder Interpretationstechnik wenig sinnvoll erscheint, beschränkt sich der Anwendungsbereich auf die Analyse sozialer Systeme in ihrem jeweiligen Umfeld (wie Organisationen, Familien, Vereine, Gruppen oder kleine Gemeinden). Diese Einschränkung bietet bei der Interpretation eine wesentliche Erleichterung, weil die zu interpretierenden Daten immer auf ein abgrenzbares Gebilde bezogen werden können, welches eine klare Referenzebene der Interpretation bildet. Darüber hinaus repräsentiert die Analyse sozialer Systeme eines der wichtigsten Felder qualitativer Sozialforschung.

Einige Redundanzen im Text wurden in Kauf genommen, um die Verständlichkeit auch dann zu gewährleisten, wenn man sich für die praktische Umsetzung nur einzelnen Kapiteln genauer widmet. Dies betrifft speziell zentrale Aspekte des Forschungsdesigns, der Qualitätssicherung und der Methodologie, die alle Bereiche der Erhebung und Interpretation qualitativer Interviews durchdringen.

Noch etwas bedarf gleich am Beginn der Klärung: Wenngleich in der Literatur meist von Interviews (als eher formalisierten Gesprächssituationen mit klarer Rollenteilung) die Rede ist, besteht in der qualitativen Sozialforschung kein Anlass, ,quasi-natürliche‘ Alltagsgespräche methodisch zu vernachlässigen, zumal diese im Rahmen einer interpretativen Methodologie einen zentralen Stellenwert einnehmen. Wenn wir daher in den folgenden Ausführungen mit Vorliebe den Begriff des ,Forschungsgesprächs‘ wählen, so signalisiert dies die Präferenz für wenig formalisierte Gesprächsformen, in denen die Umsetzung technischer Anforderungen in den Hintergrund tritt und vielmehr die Herstellung eines positiven Gesprächsklimas gefragt ist.

Ähnlich verhält es sich mit dem eher seltsam anmutenden Begriff der (Re-) Konstruktion. Wir möchten damit nicht vergessen lassen, dass man in der qualitativ orientierten Sozialforschung nicht die Realität als Abbild rekonstruiert (siehe dazu Abschnitt 7.1.1), sondern dass Interpretationen immer Konstruktionsleistungen sind, die für sich in Anspruch nehmen, an Phänomene der Realität anzuschließen (‚Pseudorekonstruktion‘ aus wissenschaftlicher Perspektive).

Das qualitative Interview

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