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2.3Das in Forschungsgesprächen generierte Wissen

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Vor dem Hintergrund interpretativer Sozialforschung liegt der Schlüssel zum Verständnis von sozialen Systemen im Verstehen der individuellen und kollektiven Herstellung von Ordnung und somit von Sinn. Im Zentrum stehen kommunikative Prozesse der Generierung von Informationen, die in einen lebensweltlichen Kontext eingebettet sind und zu einer geordneten Wissensstruktur zusammengefügt werden (siehe Abschnitt 7.2). Die Durchführung von Studien sozialer Systeme stützt sich daher auf mehrere Basiskomponenten:

•die Analyse des sozialen Prozesses der Erzeugung von Sinn und die Inhalte dieses dabei generierten Wissens, das in irgendeiner Form stabilisiert und verfügbar gemacht werden muss (soziale Kognition);

•die Erkundung der Folgen dieses Sinngenerierungsprozesses für die Strukturierung kooperativen Handelns in einem sozialen System (kommunikatives Handeln);

•die Untersuchung der in der Entwicklung eines sozialen Systems auftretenden Differenzierungen und Strukturen, wobei die Einheit in dieser Verschiedenheit (Heterogenität und potenzielle Konfliktträchtigkeit) einen wichtigen Bezugspunkt bildet (Systemdynamik).

In Forschungsgesprächen geht es nun darum, diese verschiedenen Komponenten zu erkunden. Der Gesprächsinhalt ist dabei nur eine Komponente, die das Benennbare bzw. das explizit Gewusste anspricht. Die Form des Sprechens und die im Kontext des Gesprächs beobachtbaren Vorgänge geben Auskunft über die beiden letzteren Komponenten, die für das Verständnis sozialer Systeme besonders wichtig sind. Aus diesem Grund ist für die Gesprächsanalyse nicht nur wichtig, was gesagt wird, sondern noch mehr, wie es gesagt wird und warum ein Gesprächsthema auf eine spezifische Weise abgehandelt wird (siehe Abschnitt 4.3).

Befragte Personen gelten im Rahmen von qualitativen Forschungsgesprächen immer als Expert*innen: Sie sind Expert*innen ihrer Lebenswelt, deren lebensweltlicher Wissensvorrat, wie Schütz und Luckmann (1979: 133ff.) meinen, an die Situiertheit biografischer Erfahrungen des Subjekts gebunden ist und der Bewältigung alltäglicher Situationen dient. Um an diese Expertise heranzukommen, muss man mit den Menschen über ihre Erfahrungen und ihre Sicht der Dinge reden. Man kann aber noch weiter gehen, wenn man den Habitus ins Zentrum stellt, der als Wahrnehmungs-, Interpretations- und Handlungsmatrix fungiert und solcherart ein generatives Prinzip der Praxis bildet (vgl. Bourdieu 1979: 169f.; 1987: 103f.). Das Verhalten von Menschen kann sich dieser Vorstellung zufolge ohne direkte Kommunikation aufeinander abstimmen, indem sich die Habitusformen von Menschen aufgrund ähnlicher Lebensumstände und -bedingungen homogenisieren. Individuelles Handeln ist somit keineswegs rein subjektiv, es ist aber ebenso nicht ausschließlich an objektive Gegebenheiten gebunden, sondern folgt dem in der Lebenspraxis anhand der Erfahrungen gebildeten Alltagsverstand. Wissen ist in den Habitus als strukturiertes Prinzip inkorporiert und wirkt generativ als strukturieren-[31]des Prinzip. Als praktisches Wissen kommt es in Gesprächen weniger in den Inhalten als in der Form des Sprechens und Argumentierens zum Ausdruck.

Die Forschung schreibt den befragten Personen eine Expertise zu, die auf der ungleichen Verteilung von Wissen beruht und als Sedimentierung, Einlagerung und Verfügbarkeit von privilegierter Erfahrung gesehen wird. Dieses Wissen kann auch die Form eines abstrahierenden Wissens externer Spezialist*innen annehmen (etwa von Personen, die sich über Ausbildung, wissenschaftliche Betätigung, Literaturstudium oder distanzierende Betrachtung einen herausgehobenen Wissensstand über ein spezifisches Wissensgebiet – auch unabhängig von praktischen Erfahrungen – angeeignet haben). Dabei kann es sich um Spezialwissen oder um Reflexionswissen handeln.

Allerdings ist im Rahmen einer Studie zu entscheiden, welches Wissen man für das Verständnis des fokussierten sozialen Systems benötigt. Drei Typen von Expertisen, die sich durch eine zunehmend abstrahierende Distanzierung vom praktischen Handlungswissen im Untersuchungsfeld auszeichnen, lassen sich dabei unterscheiden (vgl. Froschauer/Lueger 2009a):

a)Die systeminterne Handlungsexpertise: Das Wissen dieser Gruppe ist vorrangig Erfahrungswissen, das aus der Teilnahme an Aktivitäten im untersuchten System entstammt (Primärerfahrung; z.B. alle Mitarbeiter*innen eines Unternehmens). In der Regel ist es als implizites Wissen in den Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsweisen eingelagert. In der Ausformung darauf aufbauender sozialer Praktiken zeigt sich die soziale Differenzierung in verschiedene Handlungsfelder und deren Zusammenspiel, weshalb diese Expertise für das tiefere Verständnis der Logik des Untersuchungsgegenstandes und zur Produktion neuer Erkenntnis unverzichtbar ist. Das Wissen der feldinternen Expert*innen ist extrem heterogen, weil auf Subjektebene die Sedimentierung von Erfahrungen durch den jeweils spezifischen lebensweltlichen Hintergrund und durch subjektive Relevanzstrukturen bedingt ist (z. B. Sozialisation, Positionierung in einer Organisation, privates Umfeld). Diesen feldinternen Expert*innen der Praxis wird im Forschungszusammenhang deshalb kein Laienstatus zugewiesen, weil nicht deren Alltagswissen relevant ist, sondern ihr Sonderwissen, das für erfolgreiches Handeln in spezifischen Bereichen sozialer Systeme erforderlich ist.

b)Die feldinterne Reflexionsexpertise: Diese Expertise bezieht sich über das Handlungswissen hinaus auf größere Zusammenhänge (Primär- und Sekundärerfahrungen; z. B. Außendienstmitarbeiter*innen als Schnittstelle zwischen Unternehmen und wirtschaftlich relevantem Umfeld, Mitglieder des Betriebsrats als Vermittlungsinstanz, Akteur*innen im unternehmensrelevanten Umfeld). Dieses Wissen entwickelt sich in erster Linie dort, wo Akteur*innen auf die Berücksichtigung der Sichtweisen anderer Personen angewiesen sind und in ihren Interaktionen immer wieder systeminterne und -externe Grenzen überschreiten. Weil Personen mit Reflexionsexpertise an Schnittstellen sozialer Systeme [32]agieren, sind sie meist aufmerksame Beobachter*innen des systemspezifischen Kontextes, weil sie die verschiedenen (auch widersprüchlichen) Anforderungen und Teilperspektiven zu einem Ganzen zusammenfügen müssen. Dieses Wissen ist daher stärker relational geprägt, reflexiver und abstrakter als konkretes Handlungswissen. Explizierbar ist dieses Wissen vor allem, wenn die offizielle Sicht eines sozialen Systems angesprochen ist, es unterliegt aber vielfach Thematisierungsschranken, insbesondere wenn die Person mit widersprüchlichen Interessen oder Erwartungen zwischen den verschiedenen Bereichen konfrontiert ist.

c)Die externe Expertise: Diese Gruppe verfügt über fundiertes theoretisches Wissen über den Gegenstandsbereich, den sie von verschiedenen Seiten und in verschiedensten (intra- und interdisziplinären) Facetten beleuchten kann (z. B. Volkswirt*innen als Expert*innen über die Entwicklung des Arbeitsmarkts in einem Wirtschaftssektor, Organisationssoziolog*innen). Die Aufgabe der Wissenschaft ist es, dieses Reflexions- und Sonderwissen in die Forschungsarbeit zu integrieren. Im Forschungsprozess kann es zur Planung beitragen, bei der Ausarbeitung spezifischer Kontextannahmen helfen und im Nachhinein als Kontrastmaterial für die Ergebnisse dienen. Externen Expert*innen mit wissenschaftlich abstrahiertem und systematisch produziertem Sonderwissen kommt in interpretativen Analysen sozialer Systeme eine eher randständige Bedeutung zu, weil ihnen vielfach praktisches Erfahrungs- bzw. Handlungswissen abgeht. Eine solche Expertise reproduziert primär das bereits verfügbare Wissen, kann aber das Augenmerk auf interessante und ungeklärte Aspekte richten oder eventuelle blinde Flecken bewusst machen.

Mit Forschungsgesprächen lassen sich zwei wichtige Erkenntnisbereiche abdecken: Vordergründig wird der kommunikative Zugang zum Feld gesucht, wobei Beschreibungen und Begründungen als Ausdrucksgestalt für die zugrundeliegenden Selektionsmechanismen des untersuchten Systems dienen. Darüber hinaus werden Mitglieder eines sozialen Systems als feldinterne Expert*innen mit spezifischen Forschungssettings konfrontiert: In diesen müssen sie selbst initiativ werden (z. B. angeregt durch offene Fragen) und demonstrieren ihre spezifischen Handlungskompetenzen als Sonderform der Expertise, indem sie zumindest partiell die Organisierung des Forschungsprozesses übernehmen (siehe das Beispiel in Abschnitt 2.4).

Das in sozialen Systemen gehandhabte Erfahrungswissen ist ein sozial angeeignetes Wissen, das die internen Differenzen zwischen Personengruppen spiegelt. Die Aussagen in Gesprächen repräsentieren folglich die systemspezifische Wissensverteilung, die zugleich Grund und Folge systeminterner Kooperationsbeziehungen und Grenzziehungen ist.

Die bisherigen Ausführungen strichen jene Anforderungen heraus, die bei der Durchführung und Analyse von Expert*innengesprächen in einem interpretativ orientierten Forschungsdesign zur Analyse sozialer Systeme von zentraler Bedeu-[33]tung sind. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass die Aktualisierung der jeweiligen Expertise spezifische verfahrenstechnische Vorkehrungen der Erhebung (z. B. Fokussierung auf spezifische Expertisen) und Interpretation erfordert. Darüber hinaus entfaltet sich die Leistungsfähigkeit von Forschungsgesprächen erst im Kontext einer adäquaten Forschungsorganisierung.

Gespräche nehmen (neben der teilnehmenden Beobachtung) als unmittelbare Kommunikation zwischen Forscher*innen und Personen aus der interessierenden Lebenswelt eine Schlüsselstellung in qualitativen Studien ein. Grundsätzlich kann dieses Gesprächsmaterial drei Funktionen erfüllen:

a)Genaue Deskription eines bestimmten Phänomens (auch im Vorfeld oder in der Folge quantitativer Analysen):

Dies ist wichtig, um ein Phänomen genau abgrenzen und in seiner Vielfalt darstellen zu können. Zudem eignen sich deskriptive Interviews zur Analyse der Vielfalt der Perspektiven bezüglich eines sozialen Phänomens und zur Analyse der spezifischen Arten von Beschreibungen. Insbesondere in der explorativen Forschungsphase sollte dieser Funktion besondere Beachtung geschenkt werden.

b)Die Inspektion eines sozialen Phänomens in seinem Kontext bzw. im Zusammenhang mit anderen Phänomenen, seine Entwicklung, Stabilisierung und Veränderung im Verlauf der Zeit:

Über die Deskription hinaus können hier Faktoren herausgefiltert werden, die zum Verständnis der Struktur und des Prozesses des Phänomens beitragen. Dabei werden die Erklärungsmodelle von Mitgliedern der untersuchten Systeme erkundet und mit den tatsächlichen Operationsweisen des Systems verglichen. Im Zuge dessen lässt sich ergründen, wie bestimmte Ordnungsmuster zustande kommen, sodass die darin auftretenden Phänomene als sinnvoll gelten können, und welche Gründe das System veranlassen, sich so zu organisieren, dass es bleibt, wie es ist. Dieser Materialtyp wird in der vorliegenden Arbeit besonders berücksichtigt und spielt in der Hauptforschungsphase eines Forschungsprozesses eine wichtige Rolle.

c)Die Reflexion bestimmter Thematiken und die Generierung neuer Sichtweisen zu diesen:

Interviews, die solches Material produzieren, werden zumeist in Aktionsforschungen, partizipativer Forschung, Beratungsprojekten oder familientherapeutischen Prozessen zu Interventionszwecken eingesetzt. Dabei greifen Inspektion und Intervention permanent ineinander. Als Sonderform von Gesprächsmaterial bleibt dieser Aspekt hier ausgeklammert, weil er weniger zur Analyse als vielmehr zu Veränderungen in Systemen beiträgt (etwa im Kontext von Beratungsgesprächen). Es sei aber an dieser Stelle auf die ausführlichen theoretischen und praktischen Darstellungen zur rekursiven Informationsschöpfung von Deissler (1986) verwiesen.

[34]Die drei Funktionen gehen stufenweise ineinander über, indem die Inspektion eine beschreibende Verständigung voraussetzt und Reflexion der genauen Untersuchung im Rahmen der Inspektion bedarf. Von der Beschreibung bis zur Reflexion erhöht sich der Komplexitätsgrad von Gesprächen, wobei auch die Anforderungen an die Interpretation höher werden. Im Fall eines deskriptiven Interviews ist noch eine reduktive Zusammenfassung der manifesten Inhalte möglich (etwa eines Expert*innengesprächs; siehe die Themenanalyse in Abschnitt 5.4; oder die Zusammenfassung des manifesten Inhalts, ohne diese zu interpretieren; siehe Abschnitt 5.5). Inspektive und reflexive Gespräche dagegen bedürfen aufwendiger Analyseverfahren (siehe Abschnitte 5.1, 5.2 oder 5.3).

Das qualitative Interview

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