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Keine Macht für niemand – Als die Rockmusik deutsch lernte
Ton Steine Scherben
„Aber ich will nicht werden, was mein Alter ist. Nee!/ Ich will nicht werden, was mein Alter ist/ Ich möchte aufhören und pfeifen auf das Scheißgeld“
Aus: „Ich will nicht werden, was mein Alter ist“ von Ton Steine Scherben
Da sind die Lords und da sind die Rattles. Diese Bands haben zwar den Beat, aber damit noch lange keine eigenständige Ausdrucksform. Die bereits 1960 von Herbert Hildebrandt und Achim Reichel in Hamburg gegründeten Rattles sind Anfang der 1970er-Jahre tatsächlich beim Rock angekommen. Musikalisch erreicht man Weltniveau, sprachlich bleibt man eher provinziell. Weil es den Beat-Musikern einfach nicht möglich ist, das, was genuin angloamerikanische Songs transportieren, in eigenen, englischsprachigen Texten auszudrücken.
Die fremde Sprache, die man im verstaubten Schulunterricht der jungen Bundesrepublik lernt, kann man immerhin als Geheimcode nutzen. Die Eltern würden schon eine Art Enigma-Maschine brauchen, um zu dechiffrieren, womit sich die Jugend so beschäftigt. Und sie beschäftigt sich sehr mit der Musik aus Großbritannien und den Vereinigten Staaten.
Markus Metz und Georg Seeßlen beschreiben das daraus resultierende Dilemma in ihrem Radio-Feature über Deutsche Popmusik so: „Die Kids waren ziemlich allright. So richtig zuhause im Fremden waren sie aber auch nicht, als die Beatles kamen. Jetzt ging es nicht mehr darum, Musik nur zu hören, sondern auch darum, Musik zu machen. Beatbands wurden an jeder Schule gegründet. Den Mythos vom Kellerklub zum Weltruhm galt es zu wiederholen, selbst wenn es meistens beim Kellerklub blieb. Man sang entweder die englischen Texte nach oder in einem lautmalerischen Phantasie-Englisch wie The Lords, die 1964 einen Wettbewerb gewannen, der die „Berliner Beatles“ suchte.“
Dass dieses Unterfangen eigentlich von Anfang zum Scheitern verurteilt ist, hätte den Marketingstrategen damals schon klar sein müssen. Will die Rockmusik wirklich politisch werden, dann muss sie die Sprachbarriere überwinden, und das heißt, dass man um einen eigenen Ausdruck nicht herum kommt. Liedermacher wie Hannes Wader und Franz-Josef Degenhardt zeigen, dass man auf Basis der Songs von Vorbildern wie Bob Dylan über Joan Baez bis hin zu Jacques Brel eine eigene – deutsche – Sprache finden kann. Rattles-Kopf Achim Reichel probiert es in den 1970er- und 1980er-Jahren dann schließlich auch – und durchaus mit Erfolg – ebenfalls mit der Muttersprache. Er entdeckt sogar „altdeutsches“ Liedgut, speziell die Shantys der Seefahrer. 1976 fordert er: „Volksmusik muss leben, und das kann sie nur, wenn man sie in das Klangbild der Zeit hebt.“ Nur: Die Rockmusik hatte eben keine volksmusikalische Tradition. Nicht in Deutschland.
Deutsche Künstler finden durchaus ihren Weg zum Rock. Zusammengefasst kann man sagen, dass es eigentlich zwei unterschiedliche Wege sind: Krautrockformationen wie Tangerine Dream, Embryo und Amon Düül oder innovative Klangkünstler wie Neu! oder Can nutzen die – zumeist – englische Sprache wie ein Instrument. Dementsprechend ist das gesungene Wort eher von untergeordneter Bedeutung im Klangkonstrukt. Dass diese Formationen speziell englische Künstler wie Julian Cope, Radiohead und sogar den Punk maßgeblich beeinflussen, zeigt – neben dem universellen Ansatz – auch die Einzigartigkeit, mit der diese Gruppen im popmusikalischen Kosmos agieren. Dazu passt, dass Herbert Grönemeyer, selber Krautrockfan, die zerstrittenen Bandmitglieder von Neu! wieder zusammenbringt, auf seinem Label Grönland ihre „klassischen“ drei Platten aus den 1970er-Jahren aufwändig digitalisiert und zum „Neu!-Entdecken“ 2010 wiederveröffentlicht.
Natürlich sind Klangcollagen, Trance-Sounds und Dada-Texte künstlerische Statements, die man auch politisch auffassen kann. Aber wenn man wirklich einen Rocksong schreiben möchte und mit diesem unmittelbar an eine politische Gesinnung appellieren oder zum Handeln aufrufen will, braucht es eine eigene, sehr klare Sprache. „Street Fighting Man“ von den Rolling Stones funktioniert nur, weil das Lied die spürbare Wut nicht nur durch die Instrumentierung oder das Arrangement, sondern auch durch den Text und den zwischen den Zeilen versteckten Inhalt transportiert. Es muss zwar nicht zwangsläufig so sein, dass politische Texte in Popsongs aus einem linken Umfeld stammen, aber in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren ist das so. Die Reaktionäre haben ihren Schlager, ab Januar 1969 die ZDF-Hitparade und die rebellische Jugend ihren – englischsprachigen – Rock. Ab 1970 haben sie dann Ton Steine Scherben, die erste echte deutsche Rockband.
Sicher, es gibt bereits seit 1966 die Gruppe Floh de Cologne, aber sie agitiert aus einem kabarettistischen Background heraus – und Kabarett ist zumindest in den Nachkriegsjahren die wesentliche Plattform für politische Kommentare aus dem linken Umfeld. Doch dann kommen die „Scherben“, wie Ton Steine Scherben von den Fans der ersten Generation und auch später von auch von der linken Subkultur genannt werden. Die Band wird 1970 von Ralph Peter Steitz, der sich R. P. S. Lanrue nennt, Kai Sichtermann, Wolfgang Seidel, sowie vom charismatischen Frontmann Rio Reiser gegründet. Reiser, der mit bürgerlichem Namen Ralph Christian Möbius heißt, verleiht den Texten eine unverwechselbare und emotionale Stimme. Er steht damit auf einer Stufe mit den englischen Vorbildern, mit Mick Jagger oder Eric Burdon.
Was er singt, ist aber anders. Es verbindet die unmittelbare Beschreibung der Lebensrealität in der Bundesrepublik, das Aufbegehren der Jugend, die Revolte und die linke Wut gegen Enge, Spießertum, Kapitalismus und die reaktionäre Gesellschaft nun tatsächlich mit einer künstlerischer Tradition, die tatsächlich auf deutsche Vorbilder verweist.
Es sind speziell die Lieder von Kurt Weill oder Hanns Eisler und die Texte von Bertolt Brecht, welche die Grundlagen für den Rock’n’Roll der „Scherben“ bilden. So landet das 1934 von Eisler und Brecht geschriebene und 1950 durch Ernst Busch in der DDR und bei westdeutschen Kommunisten sehr populär gewordene „Einheitsfrontlied“ auf der ersten, im Herbst 1971 erscheinenden „Scherben“-LP „Warum geht es mir so dreckig?“.
Auch der Name der Gruppe kann einem nur hierzulande einfallen, wie Rio Reiser immer wieder betont. Er behauptet, dass ein Spruch Heinrich Schliemanns Pate steht. Der Archäologe soll anlässlich seiner Troja-Entdeckung „was ich fand, waren Ton, Steine, Scherben“ gesagt haben. Bassist Kai Sichtermann schreibt in seinem Buch Keine Macht für niemand aber, dass sich beim Brainstorming-Prozess – in Anlehnung an die Industriegewerkschaft Bau-Steine-Erden – der Name VEB Ton, Steine Scherben herauskristallisiert hat. Aber egal, was nun stimmt, beide Varianten sind in ihrer Herleitung ziemlich deutsch.
Auf jeden Fall aber sind Ton Steine Scherben von Anfang an in der linken – deutschen – Subkultur verankert. Schon bei ihrem ersten Auftritt, noch unter dem Namen Rote Erde, bewegen sie sich in der Szene: Auf dem „Love-and-Peace“-Festival, das im September 1970 auf der Ostseeinsel Fehmarn stattfand, spielen sie schon spätere Klassiker. Berühmt-berüchtigt werden sie damals durch die Ansage von Rio Reiser, der das Publikum dazu aufgefordert haben soll, die Veranstalter „ungespitzt in den Boden zu hauen“ – weil sie mit den gesamten Einnahmen abgehauen sind. Was danach kommt, sind „klassische“ Rock’n’Roll-Randale und Brandstiftung, die man in Deutschland spätestens seit Bill Haleys 1958er-Konzerten in Berlin, Hamburg und Essen von den sogenannten „Halbstarken“ auch kennt.
Ton Steine Scherben animieren in „Mensch Meier“ zum Schwarzfahren, singen über das besetzte und von der Berliner Polizei schließlich geräumte „Georg-Rauch-Haus“, rufen in „Macht kaputt was euch kaputt macht“ oder „Der Kampf geht weiter“ offen dazu auf, sich mit dem „System“ anzulegen. Im 2012 auch von den Toten Hosen gecoverten Song „Keine Macht für niemand“ fordern sie zur Überwindung von Ungerechtigkeit und Ungleichheit auf. In ihrer kürzelhaften Art wirken Zeilen wie „Reißen wir die Mauern ein, die uns trennen/Kommt zusammen, Leute, lernt euch kennen/Du bist nicht besser als der neben dir/Keiner hat das Recht, Menschen zu regier’n“ sehr romantisch. Aber durch Reisers Gesang verwandelt sich die Verklärung in einen flammenden Appell. „Warum geht es mir so dreckig“ ist dann wiederum die deutsche Variante des Rolling-Stones-Songs „Paint It Black“, düster und destruktiv. An diesem Text hätte sicher auch Morrissey, der Kopf der legendären Band The Smiths, seine Freude. Überhaupt kann Rio Reiser praktisch alles singen, was der späte Schlager „König von Deutschland“ oder auch die Liebes- beziehungsweise Schlussmach-Songs und „Für immer und dich“ oder „Junimond“ belegen.
„Junimond“ wird produziert von Annette Humpe (Ideal, Ich & Ich), für die das Stück einzigartig ist, wie sie Planet Interview gegenüber betont: „Das allerschönste Liebeslied ist das traurige ‚Junimond’ von Rio. Dabei könnte ich in Tränen ausbrechen. Ich habe es mit ihm zusammen produziert, aber nicht mit daran geschrieben. Das hat Rio immer selber gemacht.“
Die Band, ist thematisch in ihrer Zeit gefangen – und dennoch innovativ. Ton Steine Scherben beeinflussen die radikal-linken Slime, aber auch Die Toten Hosen oder Fehlfarben. Es wundert daher nicht, dass das Online-Lexikon Wikipedia die „Scherben“ in der „Liste der deutschen Punkbands“ führt. Sie sind aber nicht nur musikalisch, sondern auch vertriebstechnisch Vorreiter: 1971 gründen sie mit David Volksmund Produktion eines der ersten Independent-Labels und bringen ihre Platten konsequent in eigener Regie unter die Leute.
Eigenständig von der Sprache bis zum Vertrieb – Ton Steine Scherben Foto: Gert C. Möbius
Ende der 1970er-Jahre schließen sie sich der Schwulen- und Lesbenbewegung an. Zu diesem Zeitpunkt haben sie Westberlin und dessen Szene aber schon verlassen Sie wohnen als eine Art Künstlerkommune auf einem Bauernhof im nordfriesischen Fresenhagen. Dort stirbt Rio Reiser auch: am 20. August 1996. Eine Zeit lang lebt übrigens auch die Grünen-Politikerin Claudia Roth – gemeinsam mit ihrem damaligen Freund, dem Scherben-Keyboarder Martin Paul – auf dem Anwesen in Fresenhagen.
Roth managt die Band. Dass die Rockmusik damit Einzug in den Bundestag gehalten hat, kann man trotzdem nicht sagen: Ton Steine Scherben stehen schließlich für außerparlamentarische Opposition und für radikale Texte.
Zum Weiterhören
Ton Steine Scherben: „Warum geht es mir so dreckig?“ (CD, David Volksmund Produktion, 1971)
Ton Steine Scherben: „Macht kaputt was euch kaputt macht“ (CD, David Volksmund Produktion, 1972)