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Aber bitte mit Sahne

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Udo Jürgens

„Satchmos Trompete, Marlenes Beine/ Dort vom Mond die ersten Steine/ Von Hilde Knef ein Gruß aus Berlin/ Das Yeah-Yeah der Beatles zum Orden der Queen/ Ein Stück Brot für die Welt in erstarrter Hand/ Ein Traum von Europa, das nie entstand/ Die Linke von Cassius, ein Tor von Pelé/ Meine Einsamkeit, mein Kamillentee/ Mein Publikum, das begeistert schrie, ‚Lieb Vaterland‘, ‚Merci Chérie‘“

Aus: „Auf der Straße der Vergessenheit“ von Udo Jürgens

„Auf der Straße der Vergessenheit“ wird 1971 erstmals veröffentlicht. Viel später, im Jahr 2000, bringt Udo Jürgens eine veränderte Version heraus. Die Strophe beginnt nun mit den Worten „Michael Jacksons ‚Moonwalk‘, Naomis Beine/Und dort vom Mars die ersten Steine/Ein Rest der Mauer, es grüßt Berlin/Skandal auf Windsor, ein Song von Queen“. Cassius Clay verwandelt sich zugleich in Boris Becker und Lothar Matthäus und „Merci Chérie“ wird zu „Aber bitte mit Sahne“. Was fast 30 Jahre vorher noch irgendwo im kollektiven Gedächtnis präsent ist, mag nun längst in der Asservatenkammer des Vergessens lagern.

Auffällig ist, dass Jürgens die erste Strophe unangetastet lässt. Denn, so ist zu vermuten, an den Tanzkönig Fred Astaire, an den unerschrockenen Rennfahrer Rudolf Caracciola oder an die singende Schauspielerin Marlene Dietrich wird man in hundert Jahren genauso noch zurückdenken wie an das „Sieg Heil“, das mit dem Weltenbrand des Zweiten Weltkriegs für immer verbunden bleibt.

Auch Udo Jürgens, der im September 1934 als Jürgen Udo Bockelmann im kärntnerischen Klagenfurt das Licht der Welt erblickt, wird man wohl nicht vergessen. Denn er prägt die deutschsprachige Popmusik über Dekaden – und in Zeiten, in denen er sie nicht prägt, ist er doch so präsent, dass seine Konzerte stets ausverkauft und umjubelt sind. Die Fans hängen auch zu Beginn des neuen Jahrtausends noch an seinen Lippen. Ein Teil seiner Anhänger ist sichtbar mit ihm zusammen gealtert, aber auch junge Leute entdecken den herbstzeitlosen Künstler für sich. So nehmen die Sportfreunde Stiller 2009 nicht nur Jürgens’ 1982 entstandene Fernweh- und Ausbruchs-Ode „Ich war noch niemals in New York“ neu auf – sie singen das Lied sogar gemeinsam mit dem Superstar. Die Münchner Band erzählt in Interviews seinerzeit immer wieder, wie stolz man auf diese Kurzzeitverbindung sei.

Vielleicht hilft das Schlagerrevival der 1990er-Jahre, dass Songs wie „Aber bitte mit Sahne“, „Ein ehrenwertes Haus“ oder „Immer wieder geht die Sonne auf“ populär bleiben. Es ist zu vermuten, dass Udo Jürgens und seine Hits auch ohne diese Unterstützung nicht in der Versenkung verschwinden würden. Sicher ist hingegen nicht, ob Udo Jürgens überhaupt als Schlagersänger bezeichnet werden sollte. Dass er diesem Genre durchaus – zumindest zeitweise – entspricht, weiß er. Er kommt auch damit zurecht, dass das Publikum die „alten Gassenhauer“ hören will. Anlässlich seines 80. Geburtstags interviewt ihn der ehemalige Moderator der ZDF-Show Starparade für die Frankfurter Rundschau. Rainer Holbe stellt fest, dass Jürgens in vielen Liedern Zeitkritik übt, sich in „Die riesengroße Gier“ mit unersättlichen Bankern oder in „Der gläserne Mensch“ mit dem Überwachungsstaat auseinandersetzt. „Vor 30 Jahren hätte mit diesen Themen niemand etwas anfangen können War damals vieles besser?“, fragt der Ex-TV-Mann. Udo Jürgens antwortet sehr differenziert, aber doch eindeutig: „Nein, es war nicht alles besser.

Das war eine Zeit, als endlich nach einem katastrophalen Krieg Frieden war und sich eine merkwürdige Ruhe über das Land legte. Es war eine geistige Ruhe, die man auch daran erkannte, dass die dümmsten Lieder geschrieben wurden, die es je gab. Nach der wunderbaren Zeit der dreißiger Jahre, als jüdische Autoren und Komponisten ihre intelligenten und witzigen Couplets auch noch selbst interpretierten, sind wir einer törichten Schlagerseligkeit verfallen. Ich möchte den Kollegen von damals nicht zu nahetreten, war ich anfangs doch auch einer von ihnen. Doch ich habe bald gemerkt, da geht etwas zu Ende und etwas anderes wird kommen. Es kam eine neue Zeit, in der Lieder eine andere Bedeutung erhielten. Mit Texten, die etwas mit unserem Leben, unserer gesellschaftlichen Struktur zu tun hatten, mit den wahren Sorgen, die ein Volk umtreibt. Diese Stimmung konnte ich mit Liedern wie ‚Das ehrenwerte Haus’ beflügeln. Reinhard Mey hat einmal gesagt, dass diese Veränderung ohne die Vorreiterrolle von Udo Jürgens nicht möglich gewesen wäre, mit Liedern, die zwar auch Schlager waren, aber doch mit ganz anderen Inhalten.“

Um eines klarzustellen: Schlagersänger will Udo Jürgens nie werden, ihm steht eigentlich der Sinn nach Jazz. Während aber zum Beispiel der Augsburger Gerhard Höllerich darunter leidet, dass er eben nicht Rockstar werden kann, sondern als Roy Black „Das Mädchen Carina“ oder eine Braut in weißem Hochzeitskleid und „mit einem Blumenstrauß“, den sie vermutlich in den Händen hält, besingen muss, arrangiert sich Udo Jürgens mit dem, was in Deutschland besonders erfolgreich ist. Aber er erweitert auch immer wieder die Grenzen.

Genaugenommen ist er schon an jenem 5. März des Jahres 1966 kein Schlagersänger. In New York ist er zu dieser Zeit schon längst gewesen – bis dato hat er allerdings nur ein paar kleinere und mit „17 Jahr, blondes Haar“, „Kiss Me Quick“ und „Sag ihr, ich lass sie grüßen“ drei größere Hits aufzuweisen. Aber an jenem Vorfrühlingstag steht Udo Jürgens in Luxemburg auf der Bühne und gewinnt den Eurovision Song Contest, der damals 11. Grand Prix Eurovision de la Chanson Européenne heißt. Für Österreich siegt er mit „Merci, Cherié“, ein Lied, von dem die Vorjahressiegerin France Gall genauso begeistert ist wie die Jury: Udo Jürgens, der nach 1964 und 1965 zum dritten Mal teilnimmt, erreicht mit 31 Zählern fast doppelt so viele Punkte wie die zweitplatzierten Schweden Lill Lindfors und Svante Thuresson.

Die Single „Merci, Cherié“ wird zum internationalen Erfolg und schafft es – mit dem 1965er-Eurovisions-Beitrag „Sag ihr, ich lass sie grüßen“ als B-Seite – bis auf Platz vier der deutschen Charts. In Jürgens’ Heimatland Österreich erreicht das Lied „nur“ Platz zwei.

In den Wochen nach dem Sieg in Luxemburg steht schließlich in beiden Ländern Roy Black mit „Ganz in Weiß“ ein echter Schlager oben. „Merci“, bei dem Jürgens nicht nur für die Melodie, sondern gemeinsam mit Thomas Hörbiger, auch für den Text verantwortlich zeichnet, ist eine große, musikalische Geste, wie sie sich auch in den Repertoires von Frank Sinatra, Perry Como oder Dean Martin findet. Und es ist, aller Opulenz des Arrangements zum Trotz, auch ein wunderschönes Chanson.

Udo ist dieser Abend, an dem die Karriere tatsächlich startet, besonders in Erinnerung geblieben, wie er Rainer Holbe gegenüber betont: „Es war ein außerordentlich spannendes Erlebnis. Es ging um viel, um nicht zu sagen um den Wendepunkt in meiner Karriere. Es ging um Sein oder Nichtsein, schließlich hatte ich schon zum dritten Mal Österreich bei diesem Wettbewerb vertreten. Und ich wusste genau, wenn es diesmal nicht klappt, wird es nie wieder was. ‚Merci, Chérie’ wurde danach die Nummer eins in Amerika und auch in vielen anderen Ländern gespielt.

Es war – ohne zu übertreiben – ein internationaler Erfolg.“ Das stimmt, auch wenn Udo in diesem Punkt irrt: Das Lied schafft es nicht auf Platz eins der US-Charts, es kommt nicht einmal in die Top Ten. In Großbritannien gelangt der Song in einer von Vince Hill gesungen Version in die Hitparade. Hill, der 1967 mit „Edelweiß“ einen Riesenhit haben wird, erreicht mit „Merci“ Rang 36. Jürgens nimmt „Edelweiß“ übrigens im selben Jahr ebenfalls auf – zu Hitehren kommt seine Version aber nicht.

Nach dem Triumph von Luxemburg ist Udo Jürgens bienenfleißig, veröffentlicht Single auf Single – und legt sich stilistisch nicht fest. „Dein letzter Brief“ ist beispielsweise ein schnulziger Schlager im Stile Roy Blacks, „Battle Hymn Of The Republic“ oder „Cotton Fields“ sind Lieder, die eng mit der amerikanischen Geschichte, mit dem Bürgerkrieg beziehungsweise mit dem harten Arbeitsleben der Baumwollpflücker verbunden sind. Neben Mutmachern wie „Immer wieder geht die Sonne auf“ oder „Zeig mir den Platz an der Sonne“, das für die ARD-Fernsehlotterie Ein Platz an der Sonne entsteht, nimmt er „Lieb Vaterland“ auf.

Dass sich das Lied mit der Zeile „Lieb Vaterland magst ruhig sein“ an das in den 1870er-Jahren zur inoffiziellen Nationalhymne aufgestiegene Lied „Die Wacht am Rhein“ – und speziell an den Text von Max Schneckenburger – anlehnt, wird beim direkten Vergleich der Verse deutlich. Aber die Worte, die Eckart Hachfeld zu Jürgens’ Komposition einfallen, sind 1970 aktuell: „Lieb Vaterland/ Du hast nach bösen Stunden/Aus dunkler Tiefe einen neuen Weg gefunden/Ich liebe dich/Das heißt, ich hab’ dich gern/Wie einen würdevollen, etwas müden alten Herrn/ (…) /Die Freiheit, die du allen gleich verhießen/Die dürfen Auserwählte nur genießen/Lieb Vaterland, magst ruhig sein/Die Großen zäunen Wald und Ufer ein/Und Kinder spielen am Straßenrand/Lieb Vaterland!“

Das Lied prangert die Macht von Banken und Versicherungen an, Udo Jürgens singt gegen Militarismus und mangelnde Bildungsgerechtigkeit. Der Künstler, der vor schlüpfrigen Gassenhauern wie „Anuschka“ oder „Es wird Nacht, Señorita“ genauso wenig zurückschreckt wie vor zeittypisch kitschigen Klischees, etwa in „Morgen bist du nicht mehr allein“, wildert scheinbar bei den in der linken Szene erfolgreichen Liedermacher vom Schlage eines Hannes Wader oder Franz Josef Degenhart. Jürgens weiß, was sich verkauft, er weiß genauso um das wirtschaftliche Protestpotential, wie um die Erfolgswelle, auf der der deutsche Schlager in den späten 1960er- und frühen 1970er-Jahren schwimmt. Erst recht, als am 18. Januar 1969 die ZDF Hitparade über die Bildschirme flimmert und in deutschen Wohnzimmern für Schunkelfeeling sorgt. Jürgens tritt in dieser Sendung nur 1978 – also nach der Ära von Dieter Thomas Heck – mit „Buenos Dias Argentina“ und „Mit 66 Jahren“ auf.

Auch der Anspruch des Künstlers ändert sich allmählich. Man tut Udo Jürgens sicher unrecht, wenn man ihm unterstellt, dass ihn bei der Auswahl der Lieder, die er singt, und vor allem bei den Texten, die er sich schreiben lässt, ausschließlich kommerzielle Gesichtspunkte leiten. Es geht ihm um klare Botschaften. Die Süddeutsche Zeitung schreibt am 22. Dezember 2014: „Udo Jürgens sagte einmal, der Beruf des Unterhalters habe auch mit Haltung zu tun. Und die durchdringt viele seiner Lieder. In ‚Ein ehrenwertes Haus‘ prangerte Jürgens die spießbürgerliche Doppelmoral an, in ‚Lieb Vaterland‘ kritisierte er 1971 die politischen Missstände im Land und löste damit heftige Diskussionen aus.“

Egal, ob Herzschmerz oder Weltschmerz, ob leise Kritik an den Zuständen auf der Welt oder lüsterner Schenkelklopfer – das Geheimnis des Erfolgs liegt nicht so sehr in der Vielfältigkeit des Udo Jürgens. Begründet ist der anhaltende Ruhm des Künstlers durch sein immenses Können und die Ausstrahlung, die dafür sorgt, dass er immer authentisch wirkt. Ja, die Magie des Künstlers beruht darauf, dass er sich nicht verstellt, egal, ob er in „Dein letzter Brief“ Zeilen wie „Den letzten Brief/Hundertmal hab’ ich ihn schon gelesen/ Doch fürcht’ ich sehr, ich werd’ ihn nie versteh’n“ singt, ob er wie 1988 im Lied „Moskau – New York“ den Mauerfall voraussieht oder sich im selben Jahr für Empfängnisverhütung einsetzt. Das Handelsblatt schreibt im September 2014 rückblickend: „In Berlin wird die Mauer von beiden Seiten zerschlagen, als gemeinsame Fackel wird Freiheit ins Morgen getragen. Die Prophezeiung geriet 1988 angesichts einer Kontroverse in den Hintergrund, die ‚der Moralist am Klavier‘ (taz) mit dem Song ‚Gehet hin und vermehret Euch‘ auf demselben Album auslöste. Das Lied wurde als Angriff auf die Haltung des Vatikans zur Empfängnisverhütung gedeutet und bei vielen Rundfunkanstalten mit einem Sendeverbot belegt.“

Von September 1966 bis Oktober 1973 schaffen es 13 der vielen Singles, die der getriebene Udo Jürgens aufnimmt, in die Top 20 der deutschen Charts – darunter „Cotton Fields“, „Anuschka“ oder eben auch „Lieb Vaterland“. Der erste und in der gesamten, fast sechs Jahrzehnte umspannenden Karriere einzige Nummer-eins-Hit gelingt ihm mit „Griechischer Wein“, das vom 10. Februar 1975 – unterbrochen nur von einer Woche, in der Billy Swan mit „I Can Help“ die Spitze erobern kann – stolze acht Mal auf Platz eins rangiert. Die von Jürgens komponierte Melodie verbreitet, wie für viele Schlager dieser Zeit typisch, ein pseudoromantisches Urlaubsflair, weswegen es immer noch und immer wieder als Sauflied missinterpretiert wird. Der Text des Librettisten Michael Kunze, der auch die Worte zu Jürgens’ Hits „Der Teufel hat den Schnaps gemacht“, „Ein ehrenwertes Haus“ oder „Ich war noch niemals in New York“ beisteuert und auch für Peter Alexander, Peter Maffay oder Gitte Hænning schreibt, lässt sich eigentlich nicht falsch verstehen. Erzählt wird von der Sehnsucht eines Gastarbeiters nach seiner Heimat, dem vertrauten Land und von der Fremde beziehungsweise dem Fremdsein: „Komm’, schenk dir ein/Wenn ich dann traurig werde, liegt es daran/Dass ich immer träume von daheim; du musst verzeih’n“.

Ob man sich überhaupt dem komplexen Thema „Gastarbeiter“ und dem „Verlust der Heimat“ mittels eines tatsächlich kitschigoberflächlichen Schlagers stellen sollte? Jürgens und Kunze haben genau das getan – inklusive aller Möglichkeiten, die dann für den Zuhörer entstehen. Der kann die plakativ-oberflächlichen Worte nach eigenem Gusto interpretieren. Aber mit dieser Abgabe der Deutungshoheit sind die Autoren von „Griechischer Wein“ nicht allein – auch die Toten Hosen können beispielsweise ein Lied davon singen: „Tage wie diese“ heißt es.

Festzustellen bleibt, dass sich ein Schlager mit allen Themen des Lebens auf seine spezifische Weise beschäftigen. Nur seine Wirkung bleibt dabei begrenzt. Im besten Fall erntet der Künstler Momente der Betroffenheit – oder man schunkelt eben wohlig dazu. „Griechischer Wein“ bekommt beides innerhalb von etwas mehr als vier Minuten hin. Man muss sich daher nicht wundern, wenn „Unterlichtgestalten“ wie DJ Ostkurve das Lied für Après-Ski-Partys remixen. Was Udo Jürgens wohl von dieser Aufnahme halten würde? Zu Lebzeiten hat der Künstler sich jedenfalls nicht dazu geäußert. Vermutlich hat er diese Version schlicht ignoriert.

Jürgens, der am 21. Dezember 2014 mit etwas mehr als 80 Jahren stirbt, berichtet im hohen Alter freimütig von seinem bunten Leben – ein wichtiger Teil davon lässt sich wohl mit einem Titel eines seiner frühen Hits aus dem Jahre 1965 zusammenfassen: „Siebzehn Jahr, blondes Haar“. Seine Vorliebe für junge Frauen und sein Schürzenjägertum sind über Jahre Thema in der Klatschpresse. Der Künstler erklärt das in dem von Christian Simon geschriebenen Buch Ich, Udo: Gespräche mit Christian Simon so, wie dem Magazin Focus im September 2016 zu entnehmen ist: „Vielen seien die Beziehungen des Schlagersängers mit 17- oder 18-Jährigen ein Dorn im Auge gewesen.

Da habe es oft gleich geheißen: ‚Die ist doch höchstens 13‘, erzählte er dem Autor. Wegen seiner Popularität seien Mädchen auf ihn zugestürzt ‚und ich konnte haben, was ich wollte‘, so Jürgens. ‚Und ich wollte! Keine Macht der Welt hätte mich davon abhalten können.‘“ Simons Buch skizziert das Liebesleben des Entertainers ausführlich, auch mit Zeitungsausschnitten, was in diesem Fall meist anhand von Schnipseln aus Bild gleichzusetzen ist. „Ich hatte eine Vielzahl kurzer Beziehungen – manchmal ein paar Stunden, eine Nacht, einen Tag“, teilte Jürgens da mit, so Simon und der Focus unisono. „Nie habe er seine Kurzzeitliebschaften als ‚Flittchen’ oder ‚Groupies’ gesehen. Vielmehr habe er Dankbarkeit empfunden“ – und das mag man dem Entertainer glauben. Der sagt in Simons Buch auch, dass er als Jugendlicher sehr schüchtern war und seine „erstes Mal“ erst mit 20 erlebt hat.

Nachholbedürfnis in puncto Sex kann man Jürgens wohl nicht attestieren, schon eher eine unersättliche Gier nach Leben, die ihn umtreibt. Die bringt ihn nicht nur mit Alkohol und Zigaretten in Kontakt, alles, was er tut, macht er exzessiv. Im Magazin der Süddeutschen Zeitung wird anno 2002 das Leben des Künstlers, das er über Dekaden hinweg führt, so beschrieben: „Jürgens berichtete von ausschweifenden Partys in der Vergangenheit: ‚Ich hab gesoffen. Alle haben damals gesoffen, ausnahmslos.‘ Wodka habe es schon zum Frühstück gegeben – ‚aber Frühstück war ja immer erst um zwei Uhr nachmittags‘. Der Schlagerstar sagte weiter: ‚Wir sind jede Nacht voll ins Bett gefallen.‘“.

Im Artikel ist davon die Rede, dass der Kettenraucher Jürgens vor Auftritten zwei Flaschen Wodka getrunken, sich aber sonst von Drogen ferngehalten habe. Durch dieses Musikerleben, also durch den Starruhm und die vielen Tourneen, ergeben sich massenhaft Gelegenheiten, die überbordende Libido auszuleben: „‚Ich bin in meinem ganzen Leben nicht treu gewesen“‘, sagte Jürgens … und fügte hinzu: ‚Kein Grund, darauf stolz zu sein.‘“ Dies habe aber auch an seinem Leben als Künstler gelegen. Treue habe ‚nichts mit einem starken Charakter zu tun. Treue hat mit Chancen zu tun.‘“ Wenn man Liebe, Lust und Leidenschaft so fatalistisch sieht und auslebt, wie es Udo Jürgens tut, ergibt sich die Kehrseite der Medaille praktisch zwangsläufig, wie das SZ Magazin berichtet: „Die große Liebe ist Jürgens nach eigenen Worten nie begegnet. ‚Das Leben hat mir diese Chance nicht gegeben.‘ Er bezahle den ‚Preis meines persönlichen Glücks‘ für sein wildes Leben. Er habe in den späten sechziger Jahren so sein wollen wie der legendäre Frank Sinatra: ‚eine dicke Zigarre im Mund, das Whiskyglas in der Hand, eine Blonde im Arm‘.“

Auf seinem 42. und letzten Album „Mitten in Leben“ greift Udo Jürgens seine Geschlechtsgenossen – und damit auch sich selber an. In der „Der Mann ist das Problem“ singt er: „Wer pocht auf seine Ehre, und wer linkt zugleich den Staat/Wer geht in Freudenhäuser und erfand das Zölibat/Wer spielt mit Handgranaten/Und wer steckt den Urwald an/Wer hält sein Auto sauber/Und verdreckt den Ozean/Es ist der Mann, ja, ja der Mann.“ Die Kritik, die ihn dem Song anklingt, umfasst auch Udo Jürgens selbst: „Er ist Diktator, Rambo, Bürokrat/ Heiratsschwindler, Luftpirat/Treulos, vorlaut und auch noch bequem/ Doch die Frauen lieben ihn trotzdem.“ Und so ist es, speziell die weiblichen Fans lieben Udo Jürgens – auch nach seinem Tod.

So exzessiv, wie Udo Jürgens lebt und liebt, arbeitet er auch. Vermutlich lässt sich das Private mit dem Beruflichen bei ihm gar nicht trennen – und das nicht nur, weil seine Affären in der Regel durch das Künstlerdasein befeuert werden. Auf jeden Fall ist er auch im Schreiben von Liedern exzessiv. Ob er nun über 900 Songs komponiert hat, wie Die Welt schreibt, oder ob es derer über 1.000 sind, wie man in Wikipedia lesen kann, spielt keine Rolle. Denn beide Zahlen belegen eindrucksvoll, dass Udo Jürgens wie besessen arbeitet. Seine Bedeutung für die deutsche Popmusik ergibt sich aber natürlich nicht aus dieser unglaublichen Masse an Einzelstücken, die Jürgens hinterlässt. Es sind das Gespür für zeitlose Melodien und die die warme, präzise Stimme des Aussnahmesängers die einen beträchtlichen Teil des Werks auszeichnen. Dazu kommt, dass Udo Jürgens – analog zu seinem Vorbild Frank Sinatra – über Jahrzehnte hinweg präsent bleibt. Die Auftritte, die er in einem Alter zelebriert, in denen andere bereits im verdienten Ruhestand leben, sind so intensiv, wie es der Fan seit Ewigkeiten kennt und schätzt. Wie gewohnt, beendet Udo Jürgens seine Konzerte nach Stunden und schweißgebadet im Bademantel. Noch 2014 – im Lied „Mein Ziel“ – singt Udo Jürgens „Und nach wie vor will ich hundert Prozent/ Will alles verlangen, will alles geben/Mit aufrechtem Gang, nicht schicksalsgebeugt/Nicht das falsche – ich will das richtige Leben“. Dieses „richtige“ Leben hat er wohl tatsächlich gelebt.

Welche Bedeutung Udo Jürgens als Künstler für die deutsche Popmusik hat? Das lässt sich – trotz der vielen beeindruckenden Karrierefakten – letztlich nicht zur Gänze erklären. Vieles liegt an der Person, dem Charisma, dem Geschick, den Zeitgeist zu treffen, und am riesigen Talent – diese kreative Mixtur bringt jedenfalls seinen langjährigen Manager und früheren Förderer Heinz R. Beierlein immer noch zum Staunen – der Musikmanager hält allerdings sich für den Hauptverantwortlichen des Erfolges: Dass er ihn in diese Dimension hinein gearbeitet habe, Udo Jürgens es in Deutschland zur Nummer eins schaffte und auch internationale Erfolge feiern durfte, mache ihn bis heute stolz, so Beierlein unmittelbar nach Jürgens’ Tod in der Zeitung Der Westen. Dass der Künstler mit seinem Mentor und Förderer einen langen Gerichtsprozess um Tantiemen und Urheberrechte führt, bleibt an diesem Tag außen vor. Keinerlei Händel mit Jürgens hat übrigens Reinhard Mey. Der Barde wird am 22. Dezember 2014 im Webportal Zeit Online mit den Worten „Udo war für mich der Größte“ zitiert. Umgekehrt hat Mey auch im Schaffen von Udo Jürgens Spuren hinterlassen – man höre zum Beispiel „Straße der Vergessenheit“. Oder noch besser: „Eine Art von Serenade“, ein Lied, dass sich auf dem Album „Udo ’71“ befindet. Der Text stammt von Mey, genauso wie die Worte zu „Auf meinem Tisch ein weißer Bogen“, ebenfalls von der Langspielplatte „Udo ’71“.

Jürgens’ Namensvetter Udo Lindenberg diktiert der Deutschen Presse Agentur unmittelbar nach dem Ableben des Entertainers die Worte „Es ist, als wäre ein Familienmitglied von uns gegangen“ in die Tastatur. Dieser Satz des Panikrockers drückt neben der Wertschätzung für einen Künstler, der einen – wie die Eltern – praktisch ein Leben lang begleitet, auch aus, dass nachfolgende Künstler wie Lindenberg von und durch Udo Jürgens geprägt worden sind. Jürgens selbst nimmt sich nicht wichtig, ist als reifer Grandseigneur vom Erfolg genauso überrascht wie er das im Jahr 1950 ist. Damals setzt er sich, gerade 16 Jahre jung, mit dem Lied „Je t’aime“ beim Kompositionswettbewerb des Österreichischen Rundfunks gegen 300 Konkurrenten durch. Später schreibt er all die vielen Hits, die zu Evergreens werden – vom „Ehrenwerten Haus“ über „Aber bitte mit Sahne“ bis zu „Immer wieder geht die Sonne auf“ und Merci, Chérie“.


Udo Jürgens war bis ins hohe Alter ein leidenschaftlicher Entertainer

Im hohen Alter von 80 Jahren rückt er die Bedeutung seines Erfolgs zurecht, wie er Rainer Holbe im Interview mit der Frankfurter Rundschau erklärt: „Ich finde es sehr interessant, die eigene Vergangenheit mit dem Wissen von heute zu betrachten. Und mir wird dabei klar, dass ich die Wichtigkeit meiner Person im Alter von 40 oder 50 Jahren total überschätzt habe. Ich war nicht so wichtig, wie ich mir damals vorkam. Ich war nur erfolgreich. Und ich darf nicht den Fehler machen, Erfolg mit Wichtigkeit gleichzusetzen. Das sind Dinge, die ich heute begreife. Und die mich auch demütiger gemacht haben“.

Zum Weiterhören


Udo Jürgens: „Udo ’70“ (CD, Ariola, 1969)

Udo Jürgens: „Udo ’71“ (CD, Ariola, 1970)

Udo Jürgens: „Meine Lieder“ (CD, Ariola, 1974)

Udo Jürgens: „Lieder, die im Schatten stehen 1 + 2“ (Doppel-CD, Ariola, 1979)

Udo Jürgens: „Mitten im Leben“ (CD, Ariola, 2014)

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