Читать книгу Es geht voran - Manfred Prescher - Страница 8

So viel Sprachlosigkeit war nie

Оглавление

Nazidiktatur und Nachkriegsdeutschland

„Ein Rekrut, ein äußerst dummer/Musste auch zum Kriege mit/ Und er lernt in der Etappe/Mühsam den Paradeschritt/ Endlich kann er die Parade/Da wird wieder abgerüst’t/ Seh’n Sie, darum ist es schade/dass der Krieg zu Ende ist“

Aus: „Seh’n Sie, darum ist es schade, dass der Krieg zu Ende ist“ von Otto Reutter

Wie singt der moderne Barde Tim Bendzko so schön und doch irgendwie unlogisch? „Wenn Worte meine Sprache wären/Ich hätt’ dir schon gesagt/In all den schönen Worten/Wie viel mir an dir lag“ heißt es in einem Erfolgstitel des Berliners. Er stammt aus dem Jahr 2011 und passt doch auch als Überschrift über das Dilemma, das deutsche Popkünstler seit dem Kriegsende mit ihrer eigenen Muttersprache und natürlich ihrem Vaterland haben.

Beide Begriffe werden während der eigentlich sehr kurzen Zeitspanne von nur zwölf Jahren negativ besetzt. Für die Sprache, die noch in der Weimarer Republik das bunte und vielfältige Leben abbilden kann, gilt das allemal: Nach 1945 herrscht speziell unter Jugendlichen eine umfassende Sprachlosigkeit, während zeitgleich im angloamerikanischen Sprachraum die Altersgenossen die Welt für sich entdecken und eigene Ausdrucksformen finden. Bereits in den 1930er- und 1940er-Jahren schöpfen moderne Sounds speziell in den USA aus einem riesigen Fundus an musikalischer Tradition, und die Lieder der Hillbillys und Blues-Sänger finden auch dank der zunehmenden Verbreitung von Rundfunkgeräten, Plattenspielern und Jukeboxes Eingang in die Populärkultur. Man kann das, zum Beispiel bei den legendären „Bristol Sessions“ nachhören: Ralph Peer nimmt 1927, mit damals hochmoderner Technik mitten im ländlichen Tennessee, die „Hinterwäldlermusik“ der Carter Family oder von Jimmie Rodgers auf und legt so einen Grundstein für spätere Songwriter – von Bob Dylan über Johnny Cash bis zur aktuellen Generation um Ryan Adams oder Jack White. Die Wurzeln der modernen Popmusik sind noch heute – vereinfacht gesagt – auch auf der erstmals 1952 erschienenen „Anthology Of American Folk Music“ zu finden, wo Harry Smith Liedgut der Jahre 1926 bis 1933 zusammensammelt, zum Beispiel Blind Willie Johnsons Blues-Song „John The Revelator“, der 2005 von Depeche Mode auf moderne Weise gecovert wird.

Es gibt das „Great American Songbook“ und wir wissen, dass Blues, Swing und Hillbilly dann auch, über Louis Jordan oder Wynonie Harris, zu Rock’n’Roll werden. Wie sich die US-Musik aus diesen Wurzeln nach dem Zweiten Weltkrieg weiterentwickelt, ist bekannt. Man kann diese trotzdem spannende Geschichte detailliert nachlesen, etwa in „Nichts als Krach“, der 1985 erschienenen und immer noch antiquarisch erhältlichen Dissertation des Entertainers und Musik-Enthusiasten Götz Alsmann.

Um zu verstehen, was in Deutschland passiert, ist ein Blick in die 1920er-Jahre nötig. Schon damals gibt es so etwas wie einen Blick über den „Großen Teich“, die Welt rückt näher zusammen, US-amerikanische Populärkultur erobert auch die vom Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der alten Ordnung, von Arbeitslosigkeit und Inflation gebeutelte Weimarer Republik. Das beschreibt der damals überaus erfolgreiche Sänger, Komiker und Schauspieler Otto Reutter 1927 in seinem Couplet „Der Michel wird nicht klüger durch den Krieg“ so: „Jazzband-Kapellen gibt’s jetzt überall/So’n Brumm’n und Summ’n und Knall’n ist nicht mein Fall/Die Herren Neger machen uns was weiß/Warum tönt nicht ein Walzer, zart und leis’?/Wie herrlich klingt von Strauß doch die Musik!/Der Michel wird nicht klüger durch den Krieg!“ Der deutsche Michel steht aber nicht nur auf die Musik, welche über die deutschen Lizenznehmer der US-Konzerne Victor, Columbia oder RCA oder dank einer stetig wachsenden Zahl von Importen immer populärer wird.

Auch, wenn der Begriff gerade aktuell ist und damals natürlich nicht die Runde macht: Bedingt durch den technischen Fortschritt und die rasant wachsende Mobilität befindet sich die westliche Welt schon in den 1920er-Jahren inmitten einer Phase der Globalisierung. So kommt neben Zeichentrickfilmen von Walt Disney oder den Meisterwerken von Charlie Chaplin und Buster Keaton auch der Swing – und mit ihm die ersten Superstars einer US-amerikanischen Popkultur – in Deutschland an. Duke Ellington, Louis Armstrong, Cab Calloway oder Bix Beiderbecke liegen im Trend und das bleibt auch dann noch so, als nach 1933 und nach inoffizieller Staatsdoktrin „Swing tanzen verboten“ wird. Im von Bernd Polster herausgegebenen und sehr lesenswerten Buch Swing Heil – Jazz im Nationalsozialismus wird beschrieben, wie Jugendliche in geheimen Clubs in Hamburg oder Berlin ihre Musik hörten, dazu tanzten, wie sie an neue Schallplatten herankommen und wie sie ihr Anderssein in puncto Kleidungsstil oder Frisuren zeigen. Dass die Swing-Fans oft im Netz der Gestapo landen und sanktioniert werden, ist klar. Dass sich auch SS-Offiziere und Geheimpolizisten in den Clubs zur „Negermusik“ vergnügen, mag auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinen, zeigt aber nur die Doppelmoral vieler Nationalsozialisten.

Geschmack ändert sich nicht von heute auf morgen, er geht in den Untergrund oder wandert aus. Dass sich das Deutsche Reich anlässlich der Olympischen Spiele in Berlin 1936 vermeintlich weltoffen mit der vom Schweizer Swing-Star Teddy Stauffer aufgenommenen Hymne „Goody Goody“ präsentiert, ändert nichts daran, dass Musikfans verfolgt werden: „Vom Schulverweis bis zur Einweisung ins Konzentrationslager“ reicht die Bandbreite an Repressalien, erklärt der Historiker und Journalist Volker Ullrich 2016 im Deutschlandfunk. Ullrich beschreibt die Swing-Szene in Nazi-Deutschland so: „Man sprach sich gern mit englischen Vornamen an wie ‚Bobby‘ oder ‚Teddy‘, grüßte nicht mit ‚Heil Hitler‘, sondern mit ‚swing high, swing low’, hörte Musiksendungen der BBC, kurzum: Man schuf sich eine jugendliche Gegenwelt, die sich dem totalen Herrschaftsanspruch der braunen Diktatur entzog. Den Parteigängern des Regimes galten die unangepassten Jugendlichen als renitente Lotterbuben, die schräge Musik aus Übersee als schrilles Signal der ‚Überfremdung‘. Mehr noch als durch die heißen Rhythmen fühlten sie sich durch den ausgelassenen Tanzstil herausgefordert. So berichtete der HJ-Streifendienst über eine Tanzveranstaltung im Kaiserhof in Altona Anfang Februar 1940: ‚Der Anblick der etwa 300 tanzenden Personen war verheerend. In Hysterie geratene Neger bei Kriegstänzen sind mit dem zu vergleichen, was sich dort abspielte.‘“

Viele Künstler sind Mitte der 1930er-Jahre ohnehin außer Landes geflohen – weil sie jüdischer Abstammung, homosexuell sind oder politisch Links denken. Oder weil sie gerade noch rechtzeitig merken, dass ihre Kunst mit Begriffen wie „entartet“ oder „undeutsch“ belegt und aus dem öffentlichen Leben verbannt wird. Die Liste derjenigen, die gehen, ist lang und der Aderlass riesig: Sie beinhaltet den Komponist Friedrich Hollaender, die Schauspielerin und Sängerin Marlene Dietrich, den Autor und Regisseur Bertolt Brecht und seinen „Hauskomponisten“ Kurt Weill, den UFA-Regisseur Fritz Lang oder Teile der überaus erfolgreichen Comedian Harmonists. Die Vokaltruppe wird wegen ihrer jüdischen Mitglieder frühzeitig mit einem Auftrittsbann belegt. Drei der sechs Mitglieder der Comedian Harmonists werden zwar in die Reichsmusikkammer aufgenommen, dürfen aber nicht mehr mit den „Nichtariern“ zusammenarbeiten. Ihre letzte legale Aufnahme stammt vom 1. März 1935 und trägt den bezeichnenden Titel „Morgen muss ich fort von hier“.

Dass mit den Harmonists auch ein riesiges Stück Unbeschwertheit geht, kann man an den Aufnahmen des aus den Resten der Gruppe neugegründeten Meistersextetts hören. Es fehlt der Schwung, und das Freche wird zugunsten von erwünschter Heimat-Glückseligkeit fallengelassen. 1937 wird zudem der Verkauf der Hits der Comedian Harmonists, also „Mein kleiner grüner Kaktus“ oder das frivole „Veronika, der Lenz ist da“, verboten. Lieder wie Otto Stranskys „Ich fahr mit meiner Klara in die Sahara“ von 1927 oder „Ich lass mir meinen Körper schwarz bepinseln“, den Ufa-Star Willy Fritsch 1930 im Film Einbrecher singt, sind plötzlich zwangsweise aus der Zeit gefallen – und das nicht nur, weil der Komponist Friedrich Hollaender Jude ist.

Politische Äußerungen, wie etwa noch 1930 in Ernst Buschs „Lied der Arbeitslosen (Stempellied)“ populär, sind erst recht nicht mehr erwünscht. Es ist wohl nicht so, dass viele Verbote ausgesprochen werden müssen. Die Mehrzahl der Künstler ist eingeschüchtert, sie denken – wie Willy Fritsch, Lilian Harvey oder Heinz Rühmann – an ihre Karrieren und lassen sich rasch auf Linie bringen. Für die Gleichschaltung der Künste sorgen ab 1933 sieben Kammern, unter anderem die Reichsmusikkammer, die Reichsfilmkammer, die Reichsschrifttumskammer oder auch die Reichskammer der bildenden Künste – allesamt unter dem Dach der Reichskulturkammer. Sie unterstehen direkt dem Reichsminister für Volksaufk lärung und Propaganda: Joseph Goebbels.

Letztlich wird Deutschland durch die rigide Gleichschaltung von der kulturellen Außenwelt weitgehend abgeschnitten. Das führt nach 1945 – in Verbindung mit dem Trauma des verlorenen Krieges, des zerstörten Großdeutschen Reiches und dem in Trümmern liegenden kollektiven Selbstbewusstsein – zu einer gewaltigen Sprachlosigkeit und zur etwas unerwarteten Restauration. Man will, vereinfacht gesagt, die Wiederherstellung der „guten alten“ bürgerlichen Ordnung. Musikalisch wirkt sich das so aus: Neben ein paar Oasen moderner Popkultur, die von den amerikanischen und britischen Soldaten ins Land gebracht werden, dominiert flächendeckend der Schlager mit all seiner Glückseligkeit, mit der kitschigen Umschreibung einer heilen Heimat. Der Begriff wird im Prinzip so weiterverwendet wie im Dritten Reich – etwa in sehnsuchtsvollen Seemannsliedern, besonders erfolgreich vorgetragen vom Österreicher Franz Eugen Helmuth Manfred Nidl alias Freddy Quinn. Oder man flieht in den romantisch verklärten Süden, speziell nach Italien. Ein Lied sei stellvertretend für die Restauration des Schlagers erwähnt: „Die Capri-Fischer“, ein Stück heile Welt, das 1947 in der Version mit dem Sänger Kurt Reimann zu einem Erfolg in der Sowjetischen Besatzungszone und dann 1949/50 durch den gebürtigen Brandenburger Rudi Schuricke zum internationalen Hit wird. Allerdings schreiben Gerhard Winkler und Ralph Maria Siegel das Lied bereits 1943 für Magda Hein. Die Version der Sängerin mit der auffälligen Sopranstimme ist während der letzten Kriegsjahre durchaus beliebt und bedient einen verständlichen Reflex: Je mehr das bisherige Leben zerstört wird, desto stärker wird die Sehnsucht nach einer heilen Welt.

Speziell in den USA wächst derweil eine in wachsendem Wohlstand lebende Generation heran, die nun ihrerseits nach eigenen Ausdrucksformen sucht. Da in Nordamerika die kulturelle Entwicklung kontinuierlich voranschreitet und auch nicht mit dem Makel der Schuld versehen ist, kann das Wirtschaftswachstum der Nachkriegszeit mit der Entstehung einer ersten Jugendkultur einhergehen: Bereits in den späten 1940er-Jahren entwickelte sich der Rock’n’Roll, der sehr musikalisch ist und auf populären Elementen basiert. Aber er wird, vereinfacht ausgedrückt, eingebettet in einen neuen Dresscode, in eine eigene Frisurenmode und in eine für Erwachsene kaum dekodierbare Jugendsprache.

Der Rock’n’Roll kommt schließlich, wie viele andere US-amerikanische Kultur- und Konsumgüter auch, in Deutschland an. Philip Jost Janssen fasst das in seiner für das Kölner Zentrum für Historische Sozialforschung geschriebenen Arbeit mit dem Titel „Jugend und Jugendbilder in der frühen Bundesrepublik“ 2010 so zusammen: „Für das in mehrerlei Hinsicht unsouveräne Westdeutschland der 1950er-Jahre war der exogene Einfluss der Besatzungsmächte, vor allem der Amerikaner (…) von katalysatorischer Bedeutung.“ Janssen verweist darauf, dass speziell die zwischen 1938 und 1940 geborenen Jugendlichen, die 1955 gerade 15 bis 17 Jahre alt sind, schon 1957 als „skeptische Generation“ bezeichnet werden. Dieser Begriff gilt, so Jannsen, erst recht für die Menschen, die unmittelbar nach Kriegsende, also zwischen 1945 und 1949 geboren werden.


Die Comedian Harmonists – Deutschlands erste Boygroup

Wer um Anfang der 1960er-Jahre Teenager ist, hat viele Fragen, aber erst mal keine Sprache, um sie zu stellen. Denn die Sprache und die Begriffe der Väter und Mütter sind negativ belegt und so ist zunächst einmal auch das von den Nazis okkupierte deutsche Volkslied oder die flirrende Musik der Weimarer Republik Lichtjahre entfernt von den Jugendlichen, die sich zwangsläufig dem Rock’n’Roll, dem Rockabilly oder auch dem Beat zuwenden. Deren Gestus, ihre Wut und die inhärente Abgrenzung versteht man – aber die englische Sprache bleibt fremd.

Dementsprechend unbeholfen klingen die Gesänge der frühen deutschen Beatbands aus den Sixties, man höre nur „Gloryland“ oder „Poor Boy“ von den Lords oder „Pretty Liza“ von den Petards. Man muss sowohl sprachlich als auch musikalisch eigene Ausdrucksformen finden. Aber auf welcher Basis? Die englische Sprache bietet sich als Geheimcode an – vor allem zur Abgrenzung von den Generationen der Altvorderen. Aber je komplexer die Rockmusik und ihre Texte werden, desto schwieriger ist es, ihre Inhalte wirklich zu verstehen.

Was die Jugend anzieht, gerade, weil es fremd und „undeutsch“ ist, bleibt in der Tiefe auch fremd. Dieses Phänomen beschreibt Frank Apunkt Schneider nicht nur in seinem Buch Deutsch-Pop halt’s Maul, sondern auch im Zündfunk-Feature „Wie deutsch kann Pop sein? Musik und nationale Identität“ von Markus Metz und Georg Seeßlen auf Bayern 2:

„Die Anfänge der Popkultur in Deutschland liegen natürlich in diesem Kulturimport, der im Rahmen der Besatzungskultur der Besatzungsmächte nach Deutschland reinkommt. Und auf diese Weise auch auf die deutschen Kids abstrahlt, die sich schnell begeistern für die fremde Kultur: Erstens weil sie fremd ist und allem widerspricht, mit dem sie wenige Jahre zuvor noch erzogen worden waren; zweitens weil diese fremde Kultur der Besatzungsmächte Gegenpart zu der beschädigten eignen Identität ist, das ist erst mal ein Bedürfnis nach einer anderen unbeschädigter Identität.“ Diese bietet das Englische.

Zum Weiterhören


Verschiedene: „Schlager im Spiegel der Zeit – 1929 bis 1933“ (fünf Einzel-CDs, Bear Family Records,2010)

Verschiedene: „Die deutschen Beat Bands“ (Doppel-CD, Green Tree, 2002)

Es geht voran

Подняться наверх