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Perret der Schmuggler

Vier Menschen schlichen durch den Dschungel. Seit Stunden trotzten sie den Gefahren, die sie umgaben. Nun sahen sie ihr Ziel vor sich: einen stabilen Zaun, der ein sumpfiges Gelände umschloss. Jenseits des Zaunes breiteten sich Felder aus, auf denen Gefangene aus dem nahegelegenen Lager arbeiten mussten.

Macay war vor kurzem noch einer von ihnen gewesen. Nach seiner abenteuerlichen Flucht bis zum Herzen des Nebelkontinents kehrte er nun zurück. Diesmal, um die Gefangenen zu befreien.

Aber etwas stimmte hier nicht. Keine Schreie klangen über den Zaun, kein Peitschenknallen. Nicht einmal die Flüche, mit denen die Vorarbeiter jene bedachten, die nicht schnell genug arbeiteten.

Macay gab Eban seinen Bogen und den Köcher und kletterte auf einen Baum. Dabei vermied er jedes unnötige Geräusch und jede schnelle Bewegung. Vorsichtig setzte er sich auf einen dicken Ast und rutschte nach vorne, bis der Ast sich zu biegen anfing. Von hier aus hatte er einen guten Blick auf die Umgebung, konnte aber wegen des Blattwerks nicht entdeckt werden.

Er sah sich um. Es waren keine Arbeiter auf den Feldern. Während der Erntezeit war das ungewöhnlich. Auf den Wegen zwischen den Sumpffeldern lagen Hacken und Tragebeutel. Es war den Gefangenen bei Prügelstrafe verboten, ihr Werkzeug einfach liegenzulassen. Waren die Arbeiter geflohen?

Vermutlich nicht, denn Macay sah auch keine Wächter, die nach Geflohenen suchten. Auch das Bellen der Wolfshunde wäre zu hören gewesen, die man Ausreißern nachhetzte. Macay kannte das alles aus eigener Erfahrung.

Der nächstgelegene Wachturm war zu weit entfernt, als dass Macay hätte sehen können, mit wie viel Mann er besetzt war. Aber er konnte keine Bewegung hinter den Sichtluken erkennen. Gerade so, als wären die Wächter zusammen mit den Gefangenen verschwunden.

Macay kletterte von dem Ast herunter und sprang das letzte Stück auf den Boden. Es gab keinen Grund, jetzt noch leise zu sein. „Wir müssen näher an das Lager heran“, sagte er.

„Zu gefährlich“, antwortete Eban. „Wir kehren nach Eszger zurück. Der Rat soll entscheiden, wie wir weiter vorgehen.“

Macay hängte sich seinen Köcher wieder um und nahm den Bogen in die Hand. Ohne auf Eban zu achten, bahnte er sich einen Weg durchs Unterholz.

„He, du kannst doch nicht einfach ...!“, rief Eban ihm nach.

Macay machte nur eine wegwerfende Handbewegung und ging weiter. Er hörte, wie die beiden anderen Männer aus dem Dorf Eszger, die zu ihrem Erkundungstrupp gehörten, ihm folgten. Als er sich nach einigen Dutzend Schritten umsah, hatte sich auch Eban ihm wieder angeschlossen.

Im sumpfiger werdenden Gelände wuchsen Lassach-Pflanzen, deren Samen wahrscheinlich von den Feldern herübergeweht worden waren. Macay bewegte sich äußert vorsichtig zwischen den messerscharfen Blättern der Pflanzen. Er wusste aus seiner Zeit als Gefangener, wie schnell man sich an ihnen verletzen konnte. Die Männer aus Eszger waren nicht so aufmerksam. Macay grinste, als er sie hinter sich leise fluchen hörte.

Er fand eine Stelle, an der er durch den Zaun freien Blick auf die Baracken des Lagers hatte. Macay sah niemanden. Aber er hörte nun entferntes Hundegebell und das Knallen von Peitschen. Irgendwo weiter südlich war etwas los. Er winkte Eban zu sich. Die beiden anderen Männer blieben zurück, um die Umgebung im Auge zu behalten. Breitbeinig, die Macheten schlagbereit in den Händen, stellten sie sich Rücken an Rücken auf. Aus dem Dschungel konnte jederzeit ein tödliches Raubtier kommen. Wachsamkeit war oberstes Gebot.

„Südlich von hier ist der Kai“, sagte Macay zu Eban. „Dort scheint es Ärger zu geben. Wie kommen wir dorthin, ohne gesehen zu werden?“

„Durch den Dschungel zum Ufer des Pil. Seit der Pil ausgetrocknet ist, wird sein Flussbett bei Flut von Meerwasser durchspült. Aber das Wasser ist nicht tief. Man kann ans andere Ufer waten.“

„Dann los!“

„Falls du gehst, gehst du alleine“, sagte Eban.

„Ihr habt Befehl von Mirjam, mich zu begleiten. Außerdem bin ich ohne euch aufgeschmissen. Ihr kennt euch im Dschungel besser aus, als ich.“

„Wir wissen genug über ihn, um ihn zu meiden, wann immer es möglich ist“, entgegnete Eban.

„Aber jetzt ist es nicht möglich.“

Sie sahen sich mehrere Atemzüge lang wortlos in die Augen. Dann gab Eban nach. „Bringen wir es hinter uns“, sagte er.

Eban ging diesmal voraus. Er schlug mit der Machete Äste aus dem Weg. Dabei machte er mehr Krach, als notwendig gewesen wäre.

„Versuchst du, wilde Tiere zu vertreiben, oder willst du uns die Wächter auf den Hals holen?“, schimpfte Macay.

„Entschuldigung“, sagte Eban und hieb besonders heftig auf eine Staude ein.

Sie kamen nur langsam voran. Eine Ködernatter ließ sich auf Ebans Schulter fallen, aber er schüttelte sie ab, bevor sie zubeißen konnte. Sie landete sich ringelnd auf dem Boden, wo Macay sie zertrat. Schaudernd erinnerte er sich, wie er auf seiner Flucht beinahe einem solchen Tier zum Opfer gefallen wäre.

Eine andere Gefahr näherte sich ihnen zunächst unbemerkt von unten. Eine violette Sumpfliane war ihnen gefolgt. Nun schlang sie ihre aus dem Boden wachsenden Tentakel um die Beine eines der Männer. Sie versuchte, ihn lange genug festzuhalten, um ihm ihre giftigen Dornen ins Fleisch zu drücken.

Der Mann schrie auf, aber nur vor Schreck. Seine Stiefel und die Hosen aus Leder boten ausreichend Schutz gegen diese Gefahr. Mit der Machete zerschlug er die Tentakel. Aber je mehr er abhieb, desto mehr wuchsen nach. Erst, als ihm die anderen zur Hilfe kamen und ebenfalls mit ihren Macheten unter den Tentakeln wüteten, gab die Sumpfliane auf.

„Lasst das verdammte Ding nicht entwischen!“, rief der Angegriffene. Er stieß mit seiner Machete in den sumpfigen Boden, wo er den Körper der Tierpflanze vermutete. Ein trüber Strahl bläulichen Blutes bewies, dass er traf.

„Wir müssen vorsichtiger sein“, sagte Eban.

„Noch wichtiger ist, dass wir schnell sind“, ergänzte Macay. „Weiter!“

Sie erreichten das Ufer des ehemaligen Flusses Pil, dessen Zufluss während Macays Abenteuer im Herzen des Nebelkontinents unterbrochen worden war. Durch das Meerwasser, das nun bei Flut das Flussbett bis weit ins Binnenland hinein auffüllte, wateten sie ans andere Ufer. Dort marschierten sie auf festem Boden weiter, bis sie die Flussmündung erreichten.

Die Männer aus Eszger staunten das weite Meer an, das sie noch nie gesehen hatten. Macay dagegen sog den salzigen Geruch ein, der ihn an seine Heimatstadt Mersellen erinnerte. Er suchte den Horizont nach Schiffen ab. Doch nirgends war ein Segel zu erkennen.

In der Deckung von Büschen näherten sie sich nun wieder dem Flussbett. Am gegenüberliegenden Ufer befand sich ein provisorischer Kai, an dem die Gefangenentransporter vom Kaiserlichen Kontinent anlegen konnten.

„Wozu dienen die Lagerhallen?“, wollte Eban wissen.

„Dort wird das Lassach gelagert, bis es ins Kaiserreich verschifft wird. Daraus gewinnt man dann das lebensverlängernde Rauschmittel für die Adeligen und das Kaiserhaus.“

Hundegebell und Peitschenknallen waren die ganze Zeit über zu hören gewesen, doch nun drang auch das Geschrei von vielen Menschen zu ihnen. Sie sahen, wie Dutzende ärmlich gekleideter Arbeiter aus der Deckung der Lagerhallen herausrannten ins Freie.

„Ein Fluchtversuch!“, rief Macay. „Wir müssen ihnen helfen.“ Nur zu gut erinnerte er sich seiner eigenen Flucht aus diesem Lager, die erst wenige Monate zurücklag. Damals wäre es unvorstellbar gewesen, andere Gefangene zu einer Massenflucht zu überreden. Die meisten waren apathisch und hatten sich in ihr Schicksal ergeben.

„Dort kommen die Wächter auf den Kai.“ Eban deutete hin. „Sie wollen verhindern, dass die Gefangenen ins Wasser springen.“

Gebannt sah Macay zu, wie es zum Kampf zwischen den Flüchtenden und den Wächtern kam. Die Wächter setzten keine tödlichen Waffen ein, was ihn überraschte. Zu seiner Zeit wären die Wächter nicht so zimperlich gewesen. Da wäre längst der Boden vom Blut toter Häftlinge rot gefärbt gewesen.

Umgekehrt schien sich die Gruppe der Flüchtlinge eher widerwillig der Freiheit entgegen zu bewegen. „Was geht da vor?“, fragte er, eher sich selbst als Eban.

„Sie scheinen vor zwei Gefahren Angst zu haben“, antwortete Eban. „Jemand treibt sie zum Wasser und die Wächter hindern sie, dorthin zu gelangen. Vielleicht ist ein wildes Tier aus dem Dschungel ins Lager eingedrungen.“

„Nein, es sind andere Menschen. Schau, dort hinten.“ Macay beobachtete, wie einige Männer in Häftlingskleidung die anderen Häftlinge auf den Kai zu trieben. Die Männer hatten sich mit Stöcken und anderem Arbeitsgerät bewaffnet, das den Häftlingen zur Verfügung stand. Sie setzten die Gegenstände nun gnadenlos gegen ihre Mitgefangenen ein.

„Das verstehe, wer will“, sagte Eban.

„Gleich werden sich die ersten ins Wasser stürzen und zu uns herüber schwimmen. Wenn sie schwimmen können.“ Macay, der bei seinem letzten Abenteuer beinahe ertrunken wäre wegen seiner miserablen Schwimmkünste, hatte Mitleid mit den Gefangenen. Vermutlich waren die wenigsten von ihnen in der Lage, sich selbst ans gegenüberliegende Ufer zu retten.

Einige fielen schreiend ins Wasser. Die Wächter ließen nun die Wolfshunde von der Leine, die über die wehrlosen Häftlinge herfielen.

„Wir müssen ihnen helfen!“, rief Macay. Er sprang aus dem Versteck hinter den Büschen und rannte die paar Schritte zum Wasser hinunter.

Doch seine Begleiter aus Eszger rührten sich nicht. Sie starrten ängstlich auf die Wächter, die nun ein Ruderboot zu Wasser ließen, um den Flüchtigen nachzurudern.

„Sie kommen hier herüber“, rief Eban Macay zu. „Wir müssen verschwinden!“

„Unsinn! Sie sind nur an den Flüchtigen interessiert.“ Macay beobachtete, wie der erste Gefangene aus dem Wasser ins Boot gezogen wurde. Warum tun die das, fragte er sich. Zu seiner Zeit hätten die Wächter sich einen Spaß daraus gemacht, die Menschen im Wasser mit Pfeilen abzuschießen. „Sie müssen einen großen Mangel an Arbeitern haben“, folgerte er. „Deshalb wollen sie so wenige wie möglich töten.“

Nun sprang eine ganze Gruppe der Gefangenen ins Wasser, und zwar nicht freiwillig, sondern weil ihre Mitgefangenen sie mit den Stöcken hineintrieben. Dann sprangen diese Antreiber auch. Sie schwammen durch die Flussmündung genau auf die Stelle zu, an der Macay stand.

Der war so erstaunt, dass er nicht reagierte, bis es zu spät war. Vom Boot aus entdeckte man ihn.

„Dort drüben wartet einer auf sie. Er ist bewaffnet!“, rief ein Wächter. Das Boot drehte und ruderte auf Macay zu. Diesmal hatten die Wächter keine Hemmungen. Sie nahmen ihre Bogen auf und begannen, auf Macay zu schießen. Zum Glück schwankte das Boot so, dass sie ihn nicht trafen. Kurz, bevor das Boot das Ufer erreichte, krabbelten die ersten Gefangenen aus dem Wasser.

„Helft ihnen!“, rief Macay nach hinten, wo seine Begleiter warteten. „Bringt sie in den Dschungel und dann nach Eszger.“

Er half den Menschen aus dem Wasser und schickte sie hinter die Büsche, wo sie sich sammelten. Dann war das Boot da. Macay spannte seinen Bogen und schoss. Er fühlte einen unbändigen Hass auf diese Männer, die auch ihn vor einigen Monaten noch gequält und erniedrigt hatten.

Sein erster Pfeil traf einen Wächter in den Arm. Zu einem zweiten Schuss kam Macay nicht. Ein anderer Wächter stürzte mit gezogenem Schwert auf ihn zu. Doch einer der Flüchtlinge, die triefend nass aus dem Wasser kletterten, hob einen Stein auf und schleuderte ihn mit solcher Wucht diesem Wächter an den Kopf, dass der bewusstlos umfiel.

Der Mann bückte sich nach einem neuen Stein. Das war ein Fehler, der ihn beinahe das Leben kostete. Der dritte und letzte Wächter im Boot spannte seinen Bogen. Er hätte den Mann in den Rücken getroffen, wenn Macay seinerseits nicht schneller gewesen wäre. Macays Pfeil traf den Wächter in die Brust und warf ihn nieder.

Schnell rannte Macay zu dem Boot und drückte es mit aller Kraft hinaus ins Wasser, wo es langsam davontrieb.

„Was machst du Dummkopf da?“, schrie der Gefangene, dem er eben das Leben gerettet hatte. „Hol sofort das Boot zurück!“

„Wir flüchten durch den Dschungel. Dort entlang.“

„Wir flüchten nirgendwo hin, Jungchen. Geh ins Wasser und hol das Boot oder du wirst Perret Perran kennenlernen.“

„Ich kann nicht schwimmen. Los, wir müssen abhauen, dort kommt ein weiteres Boot mit Wächtern.“

„Dann warten wir, bis es da ist, und kapern es, verstanden?“ Perret stellte sich breitbeinig ans Ufer, als wollte er die Wächter geradezu anlocken.

Macay packte ihn am Arm, doch Perret schüttelte ihn ab. Weitere Gefangene kamen ans Ufer geschwommen. Sie kletterten heraus und rannten in den Dschungel.

Die Wächter sammelten sich in größerer Zahl am anderen Ufer und begannen, mit Langbogen auf Perret und seine Gefolgsleute zu schießen.

Das zweite Boot näherte sich. Auch von dort aus schoss man nun mit Pfeilen. Macay zog sich zurück bis fast an den Rand des Dschungels.

Eban rief ihm zu: „Wir verschwinden jetzt mit den Befreiten!“

„Nein, wartet noch!“

Was am Ufer geschah, irritierte Macay. Er glaubte fast, Perret sei berauscht, so merkwürdig verhielt sich der Mann. Dessen Ziel war eindeutig die Eroberung des Ruderbootes. Ihm schien sein Leben nichts wert zu sein im Vergleich dazu.

Macay hätte eingreifen können, aber er wusste nicht, was er davon halten sollte. Also nahm er seinen Bogen und schoss ein paar Pfeile auf das zweite Boot ab. Die Wächter darin waren jedoch gut geschützt dank ihrer verstärkten Lederwesten, so dass die meisten Pfeile an ihnen abprallten.

Schließlich geschah, was unvermeidlich geschehen musste: Ein Pfeil traf Perret und blieb in seiner Hüfte stecken. Perret taumelte, stolperte ein paar Schritte ins Wasser hinein und fiel dann um – mit dem Gesicht nach unten.

Macay blieb keine andere Wahl: Wenn er den Mann nicht ertrinken lassen wollte, musste er ihn retten. „Gebt mir Deckung!“, schrie er nach hinten in der Hoffnung, seine drei Begleiter aus Eszger würden genug Mumm haben, ein paar Pfeile abzuschießen. Das sollte genügen, um die Wächter im Boot und die Männer mit Langbogen am anderen Ufer abzulenken.

Er ließ seinen Bogen und Köcher fallen und rannte zu Perret. Der Mann war bei Bewusstsein. Blut quoll aus seiner Hüfte und vermischte sich mit dem Wasser. Der Pfeil war abgebrochen. Ohne zu überlegen, was er tat, riss Macay den Rest des Pfeiles samt der Spitze aus der Wunde. Ein Schwall Blut kam nach und Perret schrie auf.

Der Schmerz schien Perret auf die Beine zu zwingen. Er taumelte ein wenig und folgte dann Macay, der ihn hoch zu den Büschen zerrte, wo er sich in Sicherheit glaubte.

Zu ihrem großen Glück waren die kaiserlichen Wächter miserable Bogenschützen. Als Macay die Büsche erreichte, landete das Boot und die Wächter sprangen heraus, um Macay und Perret zurückzuholen.

In der sicheren Gewissheit, hinter den Büschen seine Begleiter und die anderen Geretteten zu finden, strengte sich Macay noch einmal an. Perret war so weit bei sich, dass er, auf Macay gestützt, selbst gehen konnte.

Doch hinter den Büschen war niemand mehr. Eban und die beiden Männer aus Eszger waren mit den befreiten Gefangenen – mindestens zwei Dutzend – still und heimlich im Dickicht des Dschungels verschwunden. Sie hatten Macay und Perret ihrem Schicksal überlassen.

Aber auch die Wächter erwarteten, eine größere Anzahl Gegner vorzufinden. Nachdem sie gesehen hatten, wie Macay und Perret im Gebüsch verschwanden, diskutierten sie zunächst, ob sie ihnen folgen sollten.

Den Ausschlag gab das Gebrüll ihrer Kollegen vom anderen Ufer, die lauthals forderten, dass sie endlich etwas tun. Also nahmen sie ihren Mut zusammen und rannten mit gezogenen Schwertern auf die Büsche zu.

Macay machte sich bereit, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen. Auf seiner Reise zum Herzen des Nebelkontinents hatten ihm in solchen Situationen seine Freunde Rall und Zzorg beigestanden. Aber die saßen jetzt in ihren Hütten in Eszger und ließen es sich gutgehen.

Die Wächter waren hagere Männer, die ihren Posten auf dem Nebelkontinent hassten. Denn auch sie waren nicht freiwillig hier, sondern strafversetzt worden wegen irgendwelcher geringer Vergehen. Deshalb waren die meisten Wächter verbittert und darauf aus, ihren Hass an den Gefangenen abzureagieren.

Als die Wächter nur Macay sahen, der sein Kurzschwert sicher in der Hand hielt und den Eindruck eines erfahrenen Kämpfers zu vermitteln versuchte, hielten sie kurz inne. Dann schrie einer: „Auf ihn!“

Bevor Macay sie angemessen empfangen konnte, wurde er beiseite gestoßen. Perret richtete sich neben ihm auf, brüllte wie ein verwundeter Stier die Feinde an und stürmte ihnen mit bloßen Händen entgegen.

Entsetzt sah Macay, wie Perret sich in ihre Schwerter stürzte – doch es war ein Trugbild. Offenbar war der Mann doch nicht so schwer verletzt, wie es geschienen hatte. Im letzten Moment wich Perret den Waffen aus, schlug einen Wächter mit der Faust bewusstlos und bewaffnete sich mit dessen Schwert. Binnen Sekunden waren die Gegner besiegt, während Macay immer noch mit seinem Kurzschwert in der Hand bei dem Gebüsch stand und Perret fassungslos anstarrte.

„Was glotzt du so? Los, rein in das Boot“, herrschte Perret ihn an.

„Nein, in den Dschungel. Dort sind wir sicherer.“

„Wir haben keine Zeit zum Streiten, die Ebbe setzt ein. Das Wasser wird hier bald zu niedrig sein, selbst für ein Ruderboot. Komm mit, ich kann mit meiner Verletzung nicht schnell genug rudern.“

Widerwillig half Macay ihm, das Boot ins Wasser zu schieben. „Wohin willst du denn damit?“, fragte er.

„Dorthin!“ Perret deutete schräg an Macay vorbei.

Macay drehte sich um und entdeckte zu seinem Entsetzen ein kaiserliches Kriegsschiff, das auf die Küste zuhielt.

Die Besatzung des Kriegsschiffes musste bemerkt haben, dass im Lager etwas nicht in Ordnung war, denn es wurden eifrig Flaggensignale gegeben. Macay wandte den Kopf und sah, dass man auch vom Lager aus Signale gab.

„Sie wissen, dass ihr geflohen seid“, sagte er.

„Verdammt, wir hätten das Schiff unbemerkt erreichen können, wenn du mit deiner blöden Aktion nicht dazwischen gepfuscht hättest!“ Perret war außer sich, was ihn aber nicht daran hinderte, das Ruderboot auf das große Schiff zuzusteuern.

Macay wurde sich plötzlich bewusst, wo er sich befand – in einem Boot auf dem Wasser. Alles drehte sich um ihn. Er erinnerte sich an die Qual der Überfahrt zum Nebelkontinent auf einem Gefangenenschiff. Für einen schrecklichen Moment glaubte er, wieder gefesselt und den Elementen hilflos ausgeliefert zu sein. Der Schwindel nahm überhand, alles war Macay egal – nur weg hier!

Perret schrie erstaunt auf, als Macay einfach umkippte, aus dem Boot heraus ins flache Wasser, das sie zum Glück noch nicht verlassen hatten.

„Komm zurück, du Idiot“, schrie Perret dem prustenden, nach Luft schnappenden Macay zu.

Macay strampelte mit allen Gliedmaßen. Das Wenige, was er vom Schwimmen wusste, war vergessen. Er kämpft im Wasser buchstäblich um sein Leben. Einen Knall und gleich darauf ein lautes Pfeifen hörte er zwar, aber es kümmerte ihn nicht.

Eine Erschütterung wurde durch das Wasser weitergetragen und drückte Macay unter. Er hörte noch ein lautes Klatschen neben sich, dann spürte er, wie ihn jemand am Kragen packte und ohne große Rücksichtnahme hochzog.

Perret war, als die erste Kanonenkugel des Kriegsschiffes ins Wasser klatschte, aus dem Boot gesprungen. Er hatte sich den zappelnden Macay gegriffen und zog ihn nun ans Ufer, so wie es kurz zuvor nach dem Pfeiltreffer Macay mit ihm getan hatte.

Dort schüttelte er Macay kräftig aus, als wäre der nur ein nasser Sack, und ließ ihn dann auf den Boden fallen. „Das hast nur du mir eingebrockt!“, schimpfte er und stapfte das Ufer hoch Richtung Dschungel. „Steh auf und komm mit, sie werden gleich anfangen, den Strand zu beharken.“

Ein weiterer Knall, ein lautes Pfeifen, und eine Kugel zerschlug das davontreibende Ruderboot in tausend Stücke.

Macay rappelte sich auf und folgte Perret. Unterwegs nahm er seinen Bogen und den Köcher auf, dann war er ebenfalls hinter den Büschen.

Perret blieb stehen und beobachtete die Flussmündung. „Die Wächter kommen bei Ebbe herüber gewatet, wie ich vermutet habe. Sie haben aber ihre Hunde nicht dabei. Wahrscheinlich weigern die sich, ins Wasser zu gehen. Kennst du dich mit diesen Wolfshunden aus?“

Macay schüttelte den Kopf. Er hatte Wasser in den Ohren und hörte Perret nur undeutlich.

„Auch gut. Jedenfalls können wir hier nicht bleiben. Schade um das schöne Boot. Schade um den schönen Plan, das Schiff zu entern. Schade um die Kameraden, die nun weiter im Lager bleiben müssen. Schade, schade, schade. Und die Schuld liegt bei dir. Eigentlich sollte ich dich kielholen lassen oder an der Rah aufhängen, aber ohne Schiff ...“ Perret unterbrach seine Schimpferei, weil ein Pfeil dicht neben ihm einschlug. „Oha, die fackeln nicht lange. Und da legt ein weiteres Boot ab. Das ist gut, weil jetzt das Kriegsschiff seine Kanonen nicht mehr einsetzen kann. Dieses Boot ist um einiges größer als die anderen beiden. Verdammt! Da sind Hunde drin. Jetzt wird es ernst. Zu unserem Glück müssen sie gegen den Ebbstrom anrudern, das dauert.“

Eilig machten sie sich auf den Weg.

Das Boot mit den Hunden erreichte keine zehn Minuten später das Ufer. Die Wächter machten sich bereit, die geflohenen Gefangenen zu suchen. Ihnen war nicht wohl dabei, denn von den Gefahren des Dschungels hatten alle schon gehört. Aber sie wussten auch, welche Strafen ihre Vorgesetzten im Kaiserreich über sie verhängen würden, wenn sie die Gefangenen nicht wieder einfingen. Denn wegen des Arbeitermangels könnte die Ernte des wertvollen Lassachs nicht rechtzeitig eingebracht werden, so dass die Adeligen nicht genügend von ihrem Rauschmittel bekamen.

So machten sie sich mit dem festen Vorsatz auf den Weg, die Flüchtigen zurückzuholen und deren Befreier gnadenlos zu bestrafen.

Die Brückeninseln

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