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Im Kaiserpalast

Alambar D‘Rhan beobachtete, wie die Verurteilten unten im Hof zum Richtblock geführt und vom Scharfrichter hingerichtet wurden. Einer nach dem anderen. Es war ein schmerzlicher Anblick für ihn, aber er musste zeigen, dass er stark war. Er musste Angst und Schrecken verbreiten unter seinesgleichen. Jede Schwäche würde sofort von den Gefolgsleuten des alten Kaisers ausgenutzt werden, um ihn zu beseitigen.

Einer der von ihm zum Tode Verurteilten sah auf seinem letzten Gang hoch und schrie D‘Rhan wütend zu: „Du wirst büßen für das, was du getan hast! Schlimmer, als du es dir vorstellen kannst.“

Nachdem sein Kopf gefallen war, sagte D‘Rhan: „Ich habe schon gebüßt. Schlimmer, als du es dir je vorstellen konntest.“

Nachdem die letzte Hinrichtung vollzogen war, wandte er sich um. Lyrah D‘Orei stand hinter ihm.

„Das war nicht notwendig“, sagte sie. „Es war grausam und unser nicht würdig.“

„Nur mit Härte können wir überleben“, rechtfertigte sich D‘Rhan, wie er es in den letzten Tagen schon oft getan hatte. „Wir sind dabei, auszusterben …“

„Und du richtest ein Dutzend Adelige hin, nachdem du schon bei deiner Palastrevolte sechs von uns getötet hast.“

D‘Rhan musterte sie von oben bis unten. Wie er selbst trug sie einen langen Umhang mit Kapuze, der nur ihr ovales Gesicht frei ließ. Sie war genauso groß wie er, wie auch alle anderen Adeligen, denn sie waren alle eines und aus demselben widerwärtigen Experiment der Alten Menschen entstanden. Und doch hatte jeder von ihnen eine andere Persönlichkeit. Nicht anders, als die Menschen draußen vor dem Palast, die breite Masse, deren Bestimmung es war, von den Adligen beherrscht zu werden.

„Du redest, als wäre ich dabei, unsere Art auszurotten. Das Gegenteil ist der Fall, meine Liebe.“

„Der Kaiser …“

„Bin ich jetzt. Der alte Narr, der vorher diesen Thron eingenommen hatte, war nur noch mit seinem eigenen Sterben beschäftigt. Er hat versagt und er hatte sich damit abgefunden. Aber wir dürfen nicht aufgeben. Was ich tue, ist ein notwendiger Schritt. Alles andere wäre kollektiver Selbstmord. Du weißt es!“

„Ich weiß es. Aber ich bin trotzdem nicht sicher, ob deine Ziele deine Methoden rechtfertigen.“

„Unsere Ziele.“

Sie seufzte und reichte ihm den Arm. Er stützte sich auf sie und auf den Stock, den er in der anderen Hand hielt. So gingen sind mit kleinen Schritten durch den Säulengang zurück zu seinen Gemächern. D‘Rhan zog immer wieder scharf die Luft ein, wenn der Schmerz ihn zu überwältigen drohte. Seine Knie gaben nach, er ging wie ein Gelähmter, nur noch getragen von der Kraft seiner Arme – gestützt auf seine Begleiterin und den Stock. Er krümmte den Rücken, um die Muskulatur dort zu entspannen und ein wenig Erleichterung zu haben. Dann war der Anfall vorbei und er konnte sich wieder fast normal bewegen, nur eben langsam und vorsichtig.

„Du solltest dich ausruhen, dich kurieren“, ermahnte ihn Lyrah D‘Orei.

„Die beste Kur ist der Erfolg“, entgegnete er grimmig. „Ich muss weiter daran arbeiten. Der alte Narr hatte noch einen Plan in der Hinterhand, falls die Reise zum Nebelkontinent nicht den gewünschten Erfolg hat.“

„Er war sicher, dass er sterben würde, wenn er ohne das Elixier zurückkommt.“

„Er ist ja auch gestorben. Durch meine Hand. Nie werde ich seinen Gesichtsausdruck vergessen, als ich plötzlich vor ihm stand und den Dolch hob. Wie ein Geist, auferstanden von den Toten, muss ich ihm vorgekommen sein. Er hat mich verletzt in den Höhlen des Nebelkontinents zurückgelassen, in der sicheren Erwartung, dass ich keine Stunde mehr zu leben hätte. Aber ich bin nicht so verweichlicht, wie er es war. Sechshundert Jahre hat er diesen Kontinent regiert! Wir haben uns von ihm regieren lassen, weil wir uns unsterblich glaubten.“ Alambar D‘Rhan lachte bitter. „Und dann die Erkenntnis, dass wir alle zum Tode verurteilt sind. Da draußen tragen sie die Körper der geköpften davon, als wäre es eine Katastrophe, dass sie das Leben lassen mussten, dabei sind sie uns doch allen nur ein paar Jahre vorausgegangen.“

„Du bist sehr sicher, dass deine Herrschaft etwas daran ändern wird.“

Sie erreichten die Tür zu D‘Rhans Gemächern. Ein Diener öffnete sie. Als er seinen Arm reichte, um den neuen Kaiser selbst zu stützen, scheuchte ihn D‘Rhan mit einer unwilligen Kopfbewegung beiseite.

Die Räume waren düster eingerichtet, mit uralten Möbeln aus Hölzern, deren Namen niemand mehr kannte. Einige Regale und Truhen stammten noch aus den Zeiten der Alten Menschen. Sie waren aus dem fast unverwüstlichen, hellgrauen Metall gefertigt, das die Alten Menschen von den Sternen mitgebracht hatten. Niemand wusste, ob das Erz, aus dem solches Metall gewonnen werden konnte, überhaupt irgendwo auf dieser Welt vorkam, geschweige denn, wie man es schmelzen und legieren musste, um solche Wunderwerke herzustellen.

D‘Rhan ließ sich auf einen Liegesessel niedersinken, der so gepolstert worden war, dass seine vielfach gebrochenen und ungerade zusammengewachsenen Knochen so weit wie möglich entlastet wurden. Er seufzte erleichtert und griff nach einer Karaffe, die auf dem Tisch neben ihm stand. Doch bereits diese Bewegung bereitete ihm wieder Schmerzen.

„Dein Lebenswille ist bewundernswert“, gab Lyrah D‘Orei zu. „Aber deine Unvernunft übertrifft sie noch. Werde erst gesund, und dann kümmere dich um alles andere.“

„Jetzt ist die Zeit, hier ist der Ort. Dort auf dem Schränkchen liegen die Unterlagen. Sieh sie dir an.“

Lyrah D‘Orei nahm die Papiere. Sie waren uralt, vergilbt und teilweise unleserlich. Doch den meisten lag eine moderne Abschrift bei. Alle Papiere drehten sich um komplexe wissenschaftliche Zusammenhänge, die Lyrah beim ersten Überfliegen nur teilweise verstand. „Das sind offenbar die Pläne für die Produktion dieses Elixiers. Sie setzen voraus, dass die Produktionsanlage im Herzen des Nebelkontinents funktioniert. Die Pläne sind jetzt wertlos für uns.“

„Und doch hat sie der alte Narr sorgsam gehütet. Sie dir die letzten Seiten an.“

Lyrah blätterte weiter. „Eine unbekannte Station? Das ist ein Märchen, das seit Jahrhunderten weitererzählt wird. Aber die unzähligen Expeditionen, die danach gesucht haben, fanden sie nicht.“

„Manche sind nicht zurückgekehrt. Was bedeuten kann, dass sie die Station gefunden haben, es aber nicht überlebten. Fast alle Expeditionen, die man auf die Inseln im Süden geschickt hat, gingen verloren. Niemand konnte je mehr als die Uferregion einiger der Inseln dort erkunden. Der alte Narr hat das gewusst. Er hat die richtigen Schlüsse daraus gezogen und sich diese Möglichkeit offengehalten für den Fall, dass sein Plan mit dem Nebelkontinent nicht funktioniert. Statt das Problem offensiv anzugehen und beide Möglichkeiten zugleich zu erkunden. Die Ressourcen hätten wir gehabt. Aber ihm fehlte die Energie dazu.“

„Die Brückeninseln, so nennt man sie wohl, liegen weitab von den Handelsrouten. Sie haben nur Bedeutung durch dieses Gewürz, das seit einigen Jahren von dort geliefert wird.“

„Die Entdeckung des Gewürzes ist ein Zufall, der es erlaubt hat, dort ein Lager zu errichten, ohne dass es Aufsehen erregt hätte.“

„Aufsehen bei wem? Den Menschen kann es doch egal sein, wohin ihre Verbrecher geschickt werden.“

„Es sollte uns, den Adeligen, verborgen bleiben. Der alte Narr sah es als Schwäche an, sich um einen Ersatzplan zu bemühen. Er war ein unfähiger Dummkopf.“

„Und wir haben es nicht bemerkt. Diesen Jungen auf dem Nebelkontinent hatte er ebenfalls in ein Lager gesteckt und damit riskiert, dass er dort oder auf der fingierten Flucht stirbt.“

„Er hatte noch das Mädchen.“

„Beide leben noch, wir brauchen uns also um Genmaterial keine Sorgen zu machen.“

„Den Jungen betrachte ich nicht als Material, jedenfalls nicht für unsere Pläne. Höchstens beim Erproben tausend neuer Wege, einen Menschen zu Tode zu foltern. Er hat alles zunichtegemacht. Ich habe bereits mehrere Fangtrupps auf den Nebelkontinent geschickt, um ihn dingfest zu machen.“

„Verschwendete Energie!“ Lyrah D‘Orei legte die Unterlagen wieder zurück und ging zur Tür.

„Oh, nein. Du verstehst nicht. Wenn es auf den Brückeninseln eine Station der Alten Menschen gibt, warum auch immer, dann kann der Junge sämtliche Kontrollen der Station überwinden. Sein Erbgut stimmt so genau mit dem der Alten Menschen überein, dass die Maschinen ihm vielleicht sogar die Kommandogewalt übertragen. Dieser Junge ist gefährlich. Aber wie schon gesagt, meine Rache wird ihn treffen, ebenso wie seine halb-tierischen Freunde. Oh, ja, sie werden leiden, noch mehr, als ich gelitten habe. Seine Schwester dagegen lassen wir zunächst, wo sie ist.“

„Und das ist wo?“

„In Heimstadt auf dem Nebelkontinent. Sie glaubt sich dort sicher. Aber sie ist von Spitzeln umgeben, die sie im Auge behalten und dafür sorgen, dass sie nicht verschwindet. Wenn wir sie brauchen, ist sie binnen kurzer Zeit hier.“

„Wie du meinst.“ Lyrah D‘Orei öffnete die Tür. „Ich wünschte, du würdest dich ausruhen, aber ich weiß, dass du weiterarbeiten wirst.“

Sie verließ die Gemächer des Kaisers und kehrte zurück in den Teil des Palastes, in dem sich ihre Räume befanden. Als sie durch den Säulengang ging, sah sie, wie unten das Blut der Hingerichteten mit viel Wasser weggewaschen wurde. Das Gerüst, auf dem der Scharfrichter tätig geworden war, hatte man bereits abgebaut. Die schönen Mosaik-Muster des Innenhofes glänzten an den sauberen Stellen in der Sonne.

„Es könnte ein friedlicher Tag sein“, sagte eine Stimme hinter ihr.

Sie drehte sich um. „Aran. Ich habe dich nicht kommen hören.“

„Wie auch. Ich stand die ganze Zeit hier. Seit dem Beginn des Schlachtens dort unten.“

„Du warst auf seiner Seite. Ohne dich hätte er es nicht geschafft, den alten Kaiser zu töten und sich auf seinen Thron zu setzen. Du hast die Wachen davon überzeugt, dass es Zeit für einen Wechsel ist. Sogar die Leibwächter und die Dienerschaft.“

„Alle wussten, dass es so nicht weiter gehen konnte.“

„Du hast die Macht, all diese Menschen – und unseresgleichen – von deinen Ansichten zu überzeugen. Eine Macht, über die Alambar D‘Rhan nicht verfügt. Warum …“

„Warum habe ich mich nicht selbst auf den leeren Thron gesetzt, nachdem Alambar sich die Hände schmutzig gemacht hat?“

„Ja. Es hätte zu dir gepasst. Niemand wäre erstaunt gewesen.“

„Manchmal ist der am mächtigsten, der im Schatten steht, weil keiner seine Macht in Frage stellt. D‘Rhan hat den Weg ins Rampenlicht gewählt. Ich werde ihn weiter unterstützen, solange sein Handeln unser aller Vorteil ist.“

„Es war nicht zum Vorteil der Männer und Frauen, die dort unten getötet wurden.“

„Das waren wenige. Du darfst nicht vergessen, dass es um unser aller Überleben geht.“

„Aber was wird als Nächstes kommen? Eine weitere Säuberungsaktion?“

„Eine Expedition zu den Inseln im Südmeer. Wir werden alle daran teilnehmen.“

Lyrah D‘Orei war erstaunt. „Davon hat er mir nichts gesagt.“

„Noch weiß nicht einmal er davon. Er hat die besten Schiffe der kaiserlichen Flotte nach Mersellen beordert, um in wenigen Tagen mit ihr abzureisen.“

„Dass wir mitkommen, hast du alleine beschlossen?“

„So ist es. Er wird es rechtzeitig erfahren.“

Lyrah D‘Orei verneigte sich leicht vor ihm. „Ich grüße den wahren Kaiser“, sagte sie ironisch.

Aran D‘Eein lachte und ging davon.

Ein Diener kam zu Alambar D‘Rhan und brachte ihm einen Teller mit Obst. Dabei beugte er sich zu ihm herunter und flüsterte: „Herr, der intrigante D‘Eein versucht, die ehrenwerte Dame D‘Orei auf seine Seite zu bringen. Sie haben sich eben unterhalten.“

D‘Rhan lachte und winkte ihn weg: „Ich weiß Bescheid. Besser, als es sich jeder hier vorstellen kann. Aber halte trotzdem Augen und Ohren weiter offen.“

„Ja, Herr.“ Der Diener verließ die Gemächer.

D‘Rhan griff unter seinen Umhang und holte einen fingerlangen Metallstift hervor, den er zärtlich streichelte. „Ich weiß alles, was man wissen kann. Aber das Wissen der Alten Menschen geht mir noch ab. Du wirst es mir eines Tages verraten, nicht wahr, Bea? Erst dann ist mein Triumph vollkommen. Du hast versucht, dich selbst zu zerstören, als du uns kommen sahst, tief unten, im Herzen des Nebelkontinents. Du hast versucht, mit deiner Existenz auch das Wissen der Alten Menschen für immer von diesem Planeten zu verbannen. Ein verwegener Plan für eine Maschine. Nun bist du in meiner Hand, Bea, und du weißt es nicht einmal. Diesmal bin ich im Vorteil. Was mir noch fehlt, ist eine Maschine, mit der ich dein Wissen lesbar machen kann. Das Wissen, um diesen Planeten zu beherrschen und wieder zurückzukehren in die Reiche der Alten Menschen, wo sie in Herrlichkeit leben für immerdar.“

Er runzelte die Stirn, bevor er hinzufügte: „Wer weiß, was die von einem wie mir halten, dem Ergebnis eines misslungenen Gen-Experiments auf einem Planeten weit draußen irgendwo im Weltall. Vom Kaiser eines Reiches, in dem Schwerter aus Stahl und gusseiserne Kanonen die modernsten Waffen sind, und Segelschiffe und Pferde die schnellsten Fortbewegungsmittel. Aber egal, das wird die Zeit uns lehren. Schlaf weiter, Bea, bis zu dem Tag, an dem ich dir dein Wissen entreißen werde. Und sei sicher, das wird der Tag deines endgültigen Todes sein.“

Er steckte den Metallstift sorgfältig weg und klingelte. „Der Oberst der Wache soll kommen“, befahl er.

Es war ein Wunder, wie gehorsam die Diener und die Wachen, aber auch die ganze Armee des Kaiserreiches, ihm gehorchten. Dieses Wunder, das wusste Alambar D‘Rhan, trug den Namen Aran D‘Eein. D‘Eein versuchte, das Kaiserreich aus dem Hintergrund zu regieren. Stöhnend schob sich D‘Rhan in eine bequemere Position. Die Idee, ihn als Puppe zu benutzen, hatte etwas Erheiterndes – war er es doch gewesen, dem es gelungen war, den alten Narren zu lenken und ihm Gedanken einzugeben, die der bereitwillig für seine eigenen hielt. Auch die Sache mit dem Nebelkontinent war Alambars Idee gewesen. Er war es gewesen, der das Menschenpaar aufgespürt hatte, er war es gewesen, der Einfluss auf die Gerichtsverhandlung genommen hatte, um die Kinder zu Lagerarbeit verurteilen zu lassen.

Alambar grinste. Oh, ja. D‘Eein glaubte ihn an der Strippe zu haben – dabei war es umgekehrt. Er hatte dessen Talent im Beeinflussen von niederen Dienstboten und der Militärhierarchie erkannt und gezielt eingesetzt. Er würde sich auch weiter D‘Eeins Dienste bedienen – bis er ihn nicht mehr brauchte.

Heftiges Klopfen an der Tür schreckte ihn aus seinen Gedanken hoch. Die Tür öffnete sich, ohne dass er „Herein!“ gerufen hätte. Der Oberst der Wache trat ein. Er war ein Mensch, ein stämmiger Mann mittleren Alters mit einem roten Gesicht, das eigentlich nicht gerade für seine körperliche Fitness sprach. Aber er hielt sich kerzengerade und machte in seiner Uniform den Eindruck eines Mannes, der aus unzerstörbarem Metall geformt schien.

D‘Rhan lächelte ihn an und winkte ihn, sich neben sein Lager zu setzen. Menschen waren unheimlich leicht durch Äußerlichkeiten zu beeindrucken. Die Räume des alten Narren, die er jetzt bewohnte, waren vor allem deshalb so düster eingerichtet worden – auf D‘Rhans Vorschlag hin. Die wenigen Menschen, denen es vergönnt war, dem Kaiser leibhaftig von Angesicht zu Angesicht zu begegnen, schauderten jedes Mal, wenn sie hier hereinkamen.

„Wie ist die Lage, Oberst Maley?“ Der Oberst war seit D‘Rhans Putsch nicht nur zuständig für die gesamte Militärmacht im und um den Kaiserpalast, sondern diente auch als Verbindungsoffizier zu den Truppen und den Geheimdiensten. Zumindest, solange sich D‘Rhan deren Loyalität nicht völlig sicher war. Er würde, wenn die jetzige Aktion abgeschlossen war, auch dort eine Säuberungsaktion starten, die eine Menge Köpfe ins Rollen bringen würde – Menschenköpfe, deshalb war das nicht so tragisch. Erst danach würde er neue Führungsoffiziere einsetzen. Bis dahin sollte jeder Offizier im Dienst des Kaisers glauben, dass er durch sein Verhalten eine gute Chance hatte, davonzukommen.

Obwohl er auf einem Stuhl saß, gelang es dem Oberst, so etwas wie Haltung anzunehmen, während er meldete: „Der Palast ist sicher, Majestät, das Umland ist ruhig. Die Geheimdienste melden, dass der Bevölkerung noch gar nicht bewusst geworden ist, dass sie von einem neuen Herrn regiert wird.“

„So soll es zunächst bleiben. Sie sollen es an meinen Taten bemerken.“ Nachdenklich musterte D‘Rhan den Oberst, der sich nur hatte setzen dürfen, weil D‘Rhan ungerne nach oben sah – es bereitete ihm Schmerzen. „Gibt es Neues vom Nebelkontinent?“

„Die Suchtrupps sind unterwegs. Es ist zu unerklärlichen Verlusten bereits im Dschungel gekommen. Die Aussage, dass der Nebelkontinent nun nicht mehr so gefährlich sei wie früher, scheint nicht so ganz zu stimmen.“

Da die Aussage von D‘Rhan stammte, drückte sich der Oberst gewunden aus, um ihm zu sagen, dass er vielleicht Unrecht gehabt haben könnte.

„Der Nebelkontinent selbst setzt sich nicht mehr zur Wehr“, erklärte D‘Rhan mit sanfter Stimme. „Das bedeutet nicht, dass die Tiere und Pflanzen dort nun ungefährlich wären. Aber weiter: Hat man die Spur der Gesuchten gefunden?“

„Man sagt, sie hielten sich in einem Ort namens Eszger auf, wo sie unter dem Schutz der örtlichen Bewohner stehen. Man will sie abfangen, sobald sie sich außerhalb des Ortes aufhalten. Das ist aber bisher nicht gelungen.“

„Wie sicher ist die Information, dass sie sich überhaupt noch auf dem Nebelkontinent aufhalten?“

Der Oberst zog erstaunt die Augenbrauen hoch: „Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass sie den Kontinent verlassen haben könnten. Vielleicht sind sie weiter ins Inland gezogen. So ein Kontinent ist groß, Majestät.“

D‘Rhan starrte den Mann nur an. Der merkte, wie gewagt es war, einen Kaiser darüber belehren zu wollen, was ein Kontinent ist, und fügte hastig hinzu: „Die Karolier erweisen sich wie erwartet nicht als kooperativ. Deshalb können wir nur von der Ostküste aus operieren, die leider durch den Dschungel vom Landesinneren abgetrennt ist“, rasselte er im Rapportstil herunter. „Die Einrichtung eines geheimen Stützpunkts wurde eingeleitet. Ein Versorgungsschiff der kaiserlichen Flotte dürfte gerade in diesen Tagen dabei sein, nahe des Lagers das erforderliche Material abzuladen. Die Besatzung des Stützpunkts wird mit verstärkter Kraft auf die Suche nach den Übeltätern gehen.“

„Gut so.“ D‘Rhan fiel der fragende Blick des Obersten auf. Der wusste nämlich gar nicht, warum sein neuer Herr so sehr daran interessiert war, gewisse Bewohner des Nebelkontinents als Gefangene ins Kaiserreich bringen zu lassen. D‘Rhan hatte nicht vor, an dieser Unwissenheit etwas zu ändern. Nicht einmal die Suchtrupps vor Ort wussten, warum sie hinter einem Jungen, einem Katzer und einem Echser her waren. Mit einem Wink brachte D‘Rhan den Oberst dazu, aufzustehen.

„Ich reise in zwei Tagen ab nach Mersellen. Bereiten Sie alles vor. Sorgen Sie dafür, dass die Stadt sicher ist und die Residenz auf meine Ankunft vorbereitet wird.“

„Jawohl, Majestät.“

„Sie können gehen.“

Amüsiert beobachtete D‘Rhan, wie der Oberst hinaus stolzierte. Dessen Gesicht war jetzt nicht nur rot, sondern auch schweißbedeckt. Genau der richtige Mann, um in schwierigen Zeiten Befehle weiterzuleiten. Aber kein Offizier, den man im Krieg oder einer sonstigen echten Gefahrensituation gebrauchen konnte. Wahrscheinlich würde auch dieser rote, verschwitzte Kopf fallen, sobald die Aktion auf den Brückeninseln erfolgreich beendet war.

Stöhnend und seufzend drehte sich D‘Rhan in eine andere Position und versuchte, zu schlafen. Die Nacht, die vor ihm lag, würde wie alle anderen seit seiner Rückkehr sein: Kurze Momente des Schlafs, unterbrochen von Schmerzen. Alpträume wegen der überstandenen Gefahren und Angstzustände wegen der bevorstehenden. Aber eben auch wache Momente, in denen er klarer denken konnte als sonst den ganzen Tag über. Diese Momente brauchte D‘Rhan, in diesen Momenten plante er sein ganzes weiteres Vorgehen. Deshalb verfluchte er seinen Zustand nicht, sondern wusste sehr wohl um dessen Vorteile. Ein Krüppel war nicht in der Lage, sich all den Vergnügungen hinzugeben, die die übrigen Adeligen ablenkten von dem, was wichtig war.

Ein Krüppel hatte Zeit. Zeit, zu planen. Zeit zu denken. Zeit für die Rache.

Die Brückeninseln

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