Читать книгу PERSEUS Kristallmagie - Manfred Rehor - Страница 6
ОглавлениеKapitel 2
Die Sonne Chenderras brannte heiß vom blauen Himmel. Schon im Frühsommer hatte sie in diesem Jahr mehr Kraft als üblich. Es würden unangenehme Tage werden für die Kristallschleifer in den Dörfern.
Yogar stand am Rand des Grasmeeres, von dem das Dorf Wernningen nach allen Seiten hin umgeben war. Eine halb zugewachsene Landstraße führte durch die zwei Meter hohen, grünen Halme in den Ort. Sie war gerade breit genug, um ein Fuhrwerk passieren zu lassen. Der Aufkäufer, die Händler und der Planwagen der Kristallpriesterin konnten nur auf diesem Weg hierher gelangen.
Das Dorf war auf lehmigem Boden erbaut worden, auf dem Gras nicht wachsen konnte. Hinter den letzten Häusern kamen dann die ersten Grashalme, nur wenige Zentimeter hoch. Je weiter der Abstand zum Dorf war, desto höher wuchsen die Halme.
Das Grasmeer breitete sich nach Westen hin rund vierzig Kilometer weit aus. Erst jenseits davon kam fruchtbarer Boden, auf dem Bauern ihr Getreide ansäen konnten. In den anderen Himmelsrichtungen waren es sogar Hunderte von Kilometern. Das Gras wuchs auf dieser riesigen Fläche überall gleich hoch und gleich dicht. Warum es ab und zu einen Platz frei ließ, auf dem Menschen ein Dorf errichten konnten, wusste Yogar nicht. Vielleicht kannte die Priesterin den Grund. Wenn sie das nächste Mal kam, würde er sie danach fragen.
Wernningen umfasste nur zwanzig Häuser. Die meisten von ihnen gehörten Kristallschleifern. Es gab eine Taverne, in der man sich traf, ein Lagerhaus und ein Gästehaus für den Aufkäufer des Fürsten, der alle drei Monate vorbeikam.
Mehr benötigte man in einem Dorf im Grasmeer nicht. Es gab keinen fruchtbaren Boden, keine jagdbaren Tiere in der Umgebung und das Gras selbst war weder genießbar, noch für sonst irgendetwas zu gebrauchen. Alles, was die Menschen benötigten, musste von außen geliefert werden.
Yogar ging langsam um das Dorf herum, bis hinter das Lagerhaus. Dort befand sich der Friedhof. Er war nicht groß, denn schon nach einem Jahr war von den Begrabenen nichts mehr übrig. Die Wurzeln des Grases holten sich die Nährstoffe aus den Leichen. Dann konnte man an derselben Stelle wieder jemanden beerdigen.
Hardor war gestorben, mit zweiundvierzig Jahren. Es war lange her, dass ein Kristallschleifer ein so hohes Alter erreicht hatte. Hardor war ein zäher, alter Bursche gewesen. Nun lag sein Leichnam in ein Tuch eingewickelt am Boden, während zwei Männer eine Grube aushoben. Ohne jede Zeremonie legten sie den Toten in das Loch und schaufelten es wieder zu.
Wer in einem Dorf der Kristallschleifer starb, wurde durch den Segen der Kristalle in ein neues, besseres Leben geführt. Ein Leben zwischen grünen Wiesen, wo man viele Kinder hatte und gesund alt wurde. So erzählte es die Kristallpriesterin manchmal, wenn sie das Dorf besuchte. Warum das so war, konnte sie aber auch nicht sagen. Yogar hatte sie einmal danach gefragt und sie hatte eine Geschichte vom Schöpfer erzählt, die er nicht verstand. Aber es war ein schöner Gedanke, für die Arbeit und die Krankheit dann doch noch einen gerechten Lohn zu empfangen in einem neuen Leben.
Die Männer, die das Grab zuschaufelten, wischten sich den Schweiß von der Stirn. Es war schwül. Nur ein schwacher Wind kam von Osten.
Yogar hob den Kopf und sog die Luft mehrfach langsam durch die Nase ein. Täuschte er sich?
Die anderen Dorfbewohner, die der Beerdigung beiwohnten, wurden unruhig. Sie sahen Yogar an. Nun, da Hardor tot war, übernahm er das Amt des Dorfältesten. Es war seine Aufgabe, vor Gefahren zu warnen und das Überleben des Dorfes zu sichern.
Noch einmal roch er. Kein Zweifel, das war der leicht säuerliche Geruch, den die Flut mit sich brachte! Er wandte sich um und rief: „Die Käfer kommen! Bringt Vorräte aus dem Lager in die Häuser! Vernagelt die Fenster und helft den Schwachen, die das nicht selber machen können.“
Die tödliche Flut brach alle zwei, drei Jahre über das Dorf herein. Sie bestand aus einer viele hundert Meter breiten Front aus kleinen braunen Käfern. Die lebten im Grasmeer und traten dort normalerweise nur in geringer Zahl auf. Sie waren ungefährlich - einzeln. Aber wenn Millionen von ihnen sich auf die Suche nach tierischer Nahrung machten, dann konnten sie binnen Stunden die Bevölkerung eines ganzen Dorfes auslöschen.
Vielleicht gierten die Käfer manchmal nach Fleisch, weil sie von den Pflanzenresten im Grasmeer auf Dauer nicht leben konnten. Da es im Grasmeer kaum andere Lebewesen gab, waren die Menschen das Ziel der Käferflut.
Yogar ging zu seinem Haus. Sura wusste bereits, was bevorstand. Sie überprüfte die Vorräte und das Rohr, das unter der Erde Wasser aus dem abgedeckten Brunnen in der Dorfmitte ins Haus leitete. Yogar vernagelte die Fenster und holte einen Eimer mit klebrigem Harz aus dem Keller. Mit dieser Masse verschloss er all die kleinen Ritzen und Löcher, die er erkennen konnte.
Auf einem Rundgang durch das Dorf kontrollierte er die Häuser. Als Dorfältester war es seine Aufgabe, bis zuletzt im Freien zu sein und auf Probleme zu achten. Er hörte schon das Rauschen der Flut, als er seine Tür hinter sich verschloss. Er verkleisterte rundherum den Türspalt, bis kein Käfer mehr hindurch konnte.
Dann stieg Yogar hoch unter das Dach. Dort war eine Luke, durch die frische Luft ins Haus gelangen konnte. Neben ihr befand sich ein Rad, an dem dünne Holzblätter angebracht waren, ähnlich wie bei einem Mühlrad. Diesen einfachen Ventilator konnte man mit Hilfe einer Schnur und einer Umlenkrolle aus dem Wohnraum unten betreiben. Er saugte von außen Luft an und blies sie nach innen. Es genügte, wenn man alle halbe Stunde für ein paar Minuten an der Schnur zog, um in dem abgedichteten Haus nicht zu ersticken. Allerdings durfte man das Tag und Nacht nie vergessen. Spätestens, wenn die Kerzen zu flackern begannen, weil ihnen der Sauerstoff fehlte, musste man den Ventilator bedienen.
Diese Luke im Dach blieb offen, weil die Käfer nicht fliegen konnten. Sie bewegten sich mit Sprüngen voran, ähnlich Heuschrecken. Außerdem kletterten sie nie höher als zwei Meter an den Hauswänden empor. Vielleicht, weil es etwas Höheres in ihrer Heimat im Grasmeer nicht gab. Sollte sich das eines Tages ändern, so wären die Dörfer der Kristallschleifer verloren.
Zwei Stunden später drang ein summendes Geräusch von draußen herein. Erst wurde es lauter, dann schien es, als prasselten Hagelkörner gegen die Wände und die verbarrikadierten Fenster.
„Es ist heftiger als sonst“, sagte Yogar nach einer Weile. „Das bedeutet, es wird auch länger als üblich dauern. Mehrere Tage.“
Er stand auf und zog ein paarmal an der Schnur. Die Luft, die hereinkam, stank entsetzlich. Sura verzog angeekelt das Gesicht.
Schweigend saßen die beiden Menschen da und hörten dem prasselnden Geräusch zu. Es klang nun gedämpfter und leiser, bis es fast ganz aufhörte.
„Was ist das?“, sagte Sura plötzlich.
Yogar sah sie fragend an.
„Ich habe Schreie gehört.“
„Entweder, jemand war so unvorsichtig, ins Freie zu gehen“, sagte Yogar, „oder es ist den Käfern gelungen, in eines der Häuser einzudringen.“
Dann hörte auch er es: männliche Stimmen, die in Todesangst schrien. Weit entfernt und stark gedämpft.
Sura schluchzte und hielt sich die Ohren zu.
Nach ein paar Minuten brachen die Schreie ab.
Yogar stand auf und machte mit einer Kerze in der Hand einen Rundgang durchs Haus. Er kontrollierte, ob durch irgendeine kleine Ritze Käfer eindrangen. In den letzten Jahren war niemand während der Flut umgekommen. Sollte es nun, so kurz nach Hardors Tod, noch einen Kristallschleifer weniger geben in Wernningen, so stand die Existenz des ganzen Dorfes auf dem Spiel. Wo es zu wenige Menschen gab, die mit Kristallen hantierten, sank die Qualität der Produkte. Die Kristalle waren eigensinnig, was das betraf.
„Ich gehe aufs Dach“, sagte er. „Nachsehen, was passiert ist.“
„Das ist zu gefährlich!“, rief Sura. „Wenn die Käfer dich bemerken, werden sie einen Weg hinauf suchen!“
„Das haben sie noch nie getan.“ Yogar stieg hoch und streckte den Kopf durch die Lüftungsluke. Sein Blick ging hinunter auf den Dorfplatz. Überall war der Boden von einer wuselnden, bräunlichen Masse bedeckt, die sich an den Hauswänden bis auf zwei Meter Höhe hochzog. Es war kein Geräusch zu hören außer dem raschelnden Knistern, das von den Käfern ausging.
Ein heller Fleck zwischen zwei weiter entfernten Häusern fiel ihm auf. Er sah genauer hin und glaubte, die Knochen von Skeletten zu sehen.
Der Kristallschleifer runzelte die Stirn. Es sah aus, als wären dort ein Pferd und einige Menschen gestorben. Es mussten Fremde gewesen sein, denn als sie ins Dorf kamen, hatte die Invasion der Käfer bereits begonnen. Niemand, der sich im Gebiet des Grasmeeres auskannte oder auch nur davon gehört hatte, würde freiwillig mitten zwischen die Käfer reiten.
Sura schwieg, als er ihr von der Entdeckung erzählte, doch sie sah noch unglücklicher aus als bisher.
Fünf Tage blieben Yogar und Sura im Haus eingesperrt. Dann war es soweit. Alle Anzeichen sprachen dafür, dass die Käfer sich zurückzogen ins Grasmeer. Die Luft, die vom Dach herunter in die Wohnräume kam, roch anders - frischer. Yogar bekam Kopfschmerzen davon.
Als es draußen völlig still war, kletterte Yogar noch einmal hoch zu der Luke und sah hinaus.
„Sie sind weg“, rief er triumphierend nach unten zu Sura. Das war ein Grund zum Feiern: Sie hatten wieder eine Flut überlebt!
Trotzdem blieb er vorsichtig. Zunächst entfernte er die klebrige Masse, mit der er die Ritzen versiegelt hatte. Dann zog er die Tür langsam auf. Einige Käfer lagen auf der Schwelle, doch sie waren tot. Auch auf der Straße sah er Käfer liegen. Vielleicht waren sie von der Last der auf ihnen herumkletternden Artgenossen erdrückt worden, vielleicht auch eines natürlichen Todes gestorben.
Während er um das Haus ging, bewachte Sura die Tür. Es war zwar noch nie vorgekommen, dass die Käfer zurückkehrten oder ein Teil von ihnen im Dorf blieb, doch riskieren durfte man trotzdem nichts.
Auch aus den anderen Häusern kamen Menschen ins Freie. Sie erkundeten vorsichtig die Umgebung und begannen, die vernagelten Fenster zu öffnen.
Doch bevor auch Yogar das nötige Werkzeug holte, um die Bretter zu entfernen, ging er hinüber zu der Stelle, an der die Skelette lagen.
An einigen Kleidungsfetzen war zu erkennen, dass mindestens einer von ihnen ein Soldat gewesen sein musste.
Eine Gruppe von Dorfbewohnern hatte sich bereits versammelt und untersuchte die Reste, die auf dem Boden verstreut lagen.
„Ein Pferd und drei Menschen“, sagte einer von ihnen. „Das ist seltsam. Warum sollte einer reiten und zwei zu Fuß gehen?“
„Weil auf dem Pferd ein wichtiger Mann saß, dem das Marschieren zu Fuß nicht zuzumuten war“, erwiderte ein anderer. Er hielt einen seltsamen länglichen Gegenstand hoch. „Das lag dort drüben.“
„Das kenne ich“, sagte Yogar. „Es ist eine feuerspeiende Waffe, wie sie die Soldaten der Elitetruppe des Fürsten benutzen. Das gibt Ärger!“
Diese Feststellung sorgte für lautes Murmeln unter den Umstehenden.
Eine Frau fand eine von den Käfern halb zerfressene Ledertasche, in der einige Papiere steckten. Sie zog sie heraus und gab sie Yogar.
„Ausgerechnet Hardor war der Einzige, der gut lesen konnte“, sagte der, während er die Papiere hilflos hin und her drehte. „Aber hier ist ein Bild. Eine Frau. Und darunter sind Worte und Zahlen.“
„Ein Steckbrief!“, rief jemand. „Ich habe so etwas schon einmal gesehen. Wer die Frau findet und den Soldaten übergibt, bekommt eine Belohnung.“
„Sie muss schwere Verbrechen begangen haben, wenn der Fürst sie von seinen Elitesoldaten suchen lässt.“
Das Bild ging von Hand zu Hand. Keiner kannte die Frau.
„Zum Glück ist es niemand aus unserem Dorf.“ Yogar wurde sich seiner neuen Führungsrolle bewusst. „Wir sammeln die Ausrüstung und die Knochen ein und bringen sie in den alten Schuppen. Wenn der Aufkäufer des Fürsten das nächste Mal kommt, geben wir ihm die Sachen mit.“
„Aber die Waffe ist bestimmt wertvoll!“, rief einer.
„Mein Leben ist mir mehr wert. Man wird herausfinden, dass diese Männer bei uns im Dorf gestorben sind. Wenn wir ihre Ausrüstung verschwinden lassen, fällt die Strafe umso härter aus.“
Am folgenden Tag waren alle Spuren der Flut beseitigt. Die Dörfler machten sich wieder an ihre Arbeit.
Auch Yogar ging in die fensterlose Werkstatt, die an jedes Haus eines Kristallschleifers angebaut war. Sorgen bedrückten ihn. Sura war nicht gesund und auch er fühlte sich alt und ausgelaugt. Obwohl er nun mit sechsunddreißig der Dorfälteste war, hoffte er, noch ein oder zwei Jahre leben zu dürfen.
Er mischte sich seinen ersten Trunk zusammen. Dank der Drogen brachte er noch genügend Energie auf, um die Kristalle zu bearbeiten. Sie erwarteten es von ihm.
Aber es wurde Zeit, dass die Kristallpriesterin wieder ins Dorf kam.