Читать книгу Der Weg des Goldes - Manfred Rehor - Страница 6
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Der Wolkenbruch am Abend ging in der Nacht über in Dauerregen. Es wurde kalt und das Laub bildete einen glitschigen Belag auf dem Boden.
Wir brachten die Pferde in eine windgeschützte Lichtung zweihundert Schritt entfernt von der Straße, wo sie das Gras abweiden und an einem Bach saufen konnten. Haram kannte diesen Ort von früheren Fahrten, sonst hätten wir ihn nicht gefunden. Die beiden Wagen blieben näher am Straßenrand stehen, aber durch Bäume vor Entdeckung geschützt. Der Regen prasselte auf die Planen, unter denen wir es uns mit Hilfe einiger warmer Decken gemütlich machten.
Doch zwei Wachen mussten wir bei den Pferden lassen. In diesen Höhenlagen nahe des Flusses Sall begann das Gebiet der Wölfe und Bären. Im Sommer war es denen hier zu warm, aber jetzt, im Herbst, wanderten sie manchmal auf der Suche nach Nahrung bis in diese Regionen. Das jedenfalls behauptete Haram, der auf Nachfrage aber zugab, noch nie eines der Tiere hier in der Gegend gesehen zu haben. Gendra und Kar übernahmen die erste Wache. Ich war daher entschlossen, mich unter meinen Decken ein paar Stunden schlafen zu legen.
Doch Haram hatte andere Pläne. Er trank Wein zum Essen, was für ihn ungewöhnlich war, und schien den Alkohol nicht so gut zu vertragen wie wir anderen. Nachdem er die beiden Sturmlampen im Wagen gelöscht hatte, setzte er sich an die Öffnung und sah hinaus ins Freie. Ich konnte in der Dunkelheit kaum seine Silhouette sehen.
„In solchen Nächten“, begann er gerade so laut, dass wir ihn hören konnten, „sind sie unterwegs. Manchmal nutzen sie diese Straße, statt im Tal des Sall zu fahren. Dort ist mehr Verkehr.“
„Wer?“, fragte ich verärgert. Ich wollte schlafen! In drei Stunden würde ich die Wache bei den Pferden übernehmen müssen.
„Schwere Fuhrwerke, gezogen von schwarzen Pferden und begleitet von Bewaffneten, die sich unter dunklen Umhängen verbergen. Wer sich zu nahe heranwagt oder ihnen zufällig in die Quere kommt, wird getötet.“
„Rede nicht so viel, lege dich schlafen!“, fuhr Inda ihn an.
„Ach, lass mich! Jeder weiß davon, aber keiner redet darüber. Die Kutschen fahren zur Küste, wo schwarze Schiffe warten.“
Nun wusste ich, wovon er sprach. Es gab ein Gerücht, von dem ich zum ersten Mal in der Hafenstadt Kethal gehört hatte. Es besagte, dass die Kurrether die Ringlande ausraubten und ihre Beute in Form von Goldbarren außer Landes brachten. Auch in Kethal hatte es geheißen, jeder Beobachter würde erbarmungslos getötet. Was nicht stimmen konnte, sonst hätte niemand jemals so einen Transport beobachten und Geschichten darüber verbreiten können.
„Glaubst du das wirklich?“, fragte ich Haram. „Es hört sich an wie eine Lüge, die sich jemand ausgedacht hat, um die Bevölkerung aufzuwiegeln. Schließlich können die Kurrether nicht an allem Schuld haben, was in den Ringlanden nicht so ist, wie es sein könnte.“
„Der Wohlstand unseres Landes wird geraubt!“, rief er, senkte aber gleich wieder seine Stimme. „Deshalb kommen wir wirtschaftlich nicht voran, wie viel wir auch arbeiten.“
„Das ist nachweislich falsch“, argumentierte ich, obwohl ich eigentlich das Gespräch abbrechen wollte, um endlich zu schlafen. „Der Wohlstand nimmt zu, wenn auch langsam. Unsere Großeltern konnten sich den Chai aus Askajdar genauso wenig leisten wie den Tobacco aus dem Barbarenland. Viele Häuser hatten keine Fenster aus Glas, sondern aus dünnem Leder, wenn überhaupt.“
„Ja, ja, es war alles ganz schlimm! Das ist es, was man uns erzählt. Aber man sollte es nicht unbesehen glauben. Der Reichtum unseres Landes, nach all den Jahrhunderten ununterbrochenen Friedens, müsste sagenhaft sein! Es dürfte eigentlich keine Armen mehr geben, jeder sollte ein Haus aus Stein besitzen und immer genug zu Essen haben. Alle Straßen könnten gepflastert sein und die Tempel müssten glänzen vor Gold. Sag mir, Aron, wohin ist der Reichtum einer so langen Friedenszeit in einem Land mit einer so fleißigen Bevölkerung verschwunden?“
„Hat es ihn je gegeben?“, fragte ich zurück.
„Aus den Bergwerken im Ringgebirge kommt Jahr für Jahr mehr goldhaltiges Erz, als es Gold in den ganzen Ringlanden gibt“, behauptete er. „Auch die reißenden Flüsse, die aus den Höhenlagen kommend in den Donnan münden, führen Gold mit sich. Man kann es mit ein wenig Geschick auswaschen. Ganze Dörfer leben davon, und geben ihre Funde weiter an die große Goldschmelze am Sall.“
„Am Sall?“
„Ja. Man braucht viel Wasser, wenn man Erz schmilzt. Deshalb bringt man zum Beispiel auch das Eisen, das abgebaut wird, in die Provinz Krayhan. Dort, am Oberlauf des Donnan, kann man den ganzen Schmutz in den Strom leiten. Aber Golderz ist zu wertvoll für den weiten Transport. Das wird hier in der Provinz Malbraan verarbeitet.“
„Du weißt erstaunlich viel darüber“, sagte ich und war auf einmal wacher als bisher. War Haram wirklich nur ein einfacher Händler, der die Küfer in den Weinbauregionen belieferte?
„Früher habe ich versucht, auch damit mein Geld zu verdienen. Aber es ist nicht so einfach, Fuß zu fassen in dem Gewerbe.“
„Zu viel Konkurrenz?“
„Nein. Zu viele Kontrollen. Man ist keine Minute unbeobachtet. Es wird sogar überwacht, mit welchen Freunden man abends in der Taverne spricht. Jeder, mit dem man redet, könnte ein Spitzel sein.“
„Das ist in der Hauptstadt nicht viel anders. Man kann sich nur auf die Menschen verlassen, die man schon lange kennt, oder für die andere einen guten Leumund abgeben.“
„Auf dem Land war das früher nicht so. Aber jetzt haben die Kurrether so viele Zuträger, dass man sich fragt, ob es überhaupt noch anständige Leute gibt.“
Ich wollte etwas erwidern, aber Haram stieß einen Zischlaut aus. Einen Moment später spürte ich, wie er mich am Arm packte und mit sich zog zu der Öffnung in der Plane des Wagens.
„Was ist das?“, flüsterte er mir ins Ohr.
Ich konzentrierte mich und glaubte, den Hufschlag von Pferden und das Rumpeln von Rädern auf der gepflasterten Straße zu hören. Aber es war nicht eindeutig, der Regen auf der Plane über uns war zu laut. Kurz entschlossen schwang ich mich aus dem Wagen heraus.
Ich kannte die Richtung, in der sich die Straße befand, und erinnerte mich ungefähr daran, wo die Bäume standen. Mit ausgestreckten Armen ging ich Schritt für Schritt voran, bis ich den ersten Stamm ertastete. Hinter mir bemerkte ich einen Menschen. Ich drehte mich um, fasste nach ihm und hörte Harams Stimme.
„Ich will es auch sehen“, sagte er heiser.
Nebeneinander tasteten wir uns weiter voran, bis wir zwischen den Büschen am Straßenrand standen. Hier war es etwas heller als im Wald. Wir kamen gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ein Fuhrwerk um die nächste Biegung verschwand. Zwei Reiter folgten ihm. Sie kamen von Norden, ihr Weg führte sie nach Südwesten, also die Strecke entlang, die wir gekommen waren.
Während ich noch überlegte, ob es sich lohnte, hinterher zu rennen, um mehr zu erkennen, hörte ich wieder Huftritte. Diesmal kamen sie auf uns zu. Dann das Rumpeln von Wagenrädern.
Zuerst erkannte ich zwei Reiter. Sie waren nur schwarze Schatten auf ihren Tieren, aber es war unverkennbar, dass sie sich nach allen Seiten umsahen. Zwei Dutzend Schritt hinter ihnen folgte das Fuhrwerk. Es schien schwer zu sein, das merkte ich daran, wie langsam es vorankam und wie laut und dumpf das Geräusch der Räder war. Links und rechts des Wagens kamen weitere Reiter daher, und dahinter noch zwei. Sechs Mann Geleitschutz für ein Fuhrwerk - die Fracht musste wertvoll sein.
Sollte ich mich aus dem Schutz des Gebüschs herauswagen? Ich könnte behaupten, ein Reisender zu sein, den der Regen überrascht hatte. Da ich unbewaffnet war, würde man mich vielleicht nicht als Gefahr einstufen und mit mir reden. Als ich mich dafür entschied, dieses Risiko einzugehen, spürte ich, wie Haram mich am Arm packte. Er schien zu ahnen, was ich vorhatte.
„Das wäre Selbstmord“, raunte er. „Schau genau hin.“
Ich wusste nicht, was er meinte. Aber als der Wagen und die Reiter auf unserer Höhe waren, bemerkte ich verschiedene Flecke an der Eskorte. Sie blinkten golden auf, wenn das schwache Licht von den Pfützen auf der Straße zurückgeworfen wurde. Die Kleidung der Männer schien, ebenso wie ihre Waffen und das Sattelzeug, mit Gold verziert zu sein, oder zumindest vergoldet. So protzig putzten sich nur Kurrether heraus.
Nachdem sie außer Sicht waren und kein weiterer Wagen nachfolgte, wagte ich es doch, auf die Straße zu gehen. Entlang des Gebüschs am Rand schlich ich mit schnellen Schritten weiter bis zur Kurve. Von dort aus konnte ich die Reiter noch einmal von hinten sehen. Es war auffallend, wie stolz, aufrecht und doch geschmeidig sie auf ihren Pferden saßen. Auch das war typisch für Kurrether, aber auch für viele andere Menschen. Es war eindeutig nicht die nachlässige Art von Söldnern, wie man sie gewöhnlich zum Schutz von wertvoller Fracht anheuerte.
Wieder war Haram mir gefolgt. „Siehst du sie?“, fragte er nun laut. „Zweifelst du immer noch?“
„Ich bin nicht sicher, wer sie sind“, antwortete ich. „Und vor allem wissen wir nicht, was auf den Wagen ist. Es kann ein ganz gewöhnlicher Transport sein. Selbst wenn sie Goldbarren geladen haben sollten, könnten sie auf dem Weg zur Münze in Dongarth sein. Oder sie beliefern das Lager der Gilde der Goldschmiede.“
„Das ist Unsinn“, sagte er und begann damit, mich zu unserem Wagen zurück zu lotsen. „Du bist einer von den Unbelehrbaren. Wie die meisten Leute. Aber was soll’s. Egal, ob wir herausfinden oder nicht, was sie wirklich tun: Die Kurrether sind nicht aufzuhalten. Also warum rege ich mich überhaupt darüber auf?“
Im Wagen wickelte er sich in seine Decke und schlief bald darauf ein. Während er laut schnarchte, konnte ich keinen Schlaf finden. Ich lag wach, bis Gendra kam und meine Schicht bei den Pferden begann.
„Wir sind in der Richtung unterwegs, aus der diese Fuhrwerke kamen“, sagte ich am folgenden Morgen. „Können wir herausfinden, woher sie stammen?“
Das Wetter war besser geworden, der Regen fiel nur noch leicht und würde wohl bald aufhören. Die Zugtiere hatten wir bereits vor die Wagen gespannt und wir waren bereit zum Aufsitzen.
„Diese Straße führt nach Vinheim“, antwortete Haram. „Abzweigungen gibt es nach Osten und Westen.“
„Falls die geheimnisvollen Kutschen letzte Nacht wirklich Goldbarren geladen hatten - wo werden die hergestellt?“, wollte ich wissen.
„Es gibt eine große Goldschmelze am Ostufer des Sall, die wir von hier aus erreichen können. Wir müssten vom direkten Weg nach Vinheim abweichen, das würde uns zwei Tage kosten.“
„Wie wird man dort reagieren, wenn wir unerwartet kommen?“, fragte Serron.
„Ich liefere Werkzeuge an die Küfer, das ist unverdächtig. Wir können behaupten, wir seien wegen des Wolkenbruchs vom Weg abgekommen und hielten es nun für besser, entlang des Flusses nach Vinheim zu fahren.“
Diese Ausrede erschien mir einleuchtend. „Klingt gut. Bist du bereit, den Umweg in Kauf zu nehmen?“
Haram zögerte. Kar und Inda war anzusehen, dass sie gegen diese Idee waren, aber sie sagten ihre Meinung nicht.
„Fahren wir hin“, entschied Haram schließlich. „Morgen Abend werden wir dort sein. Die Straßen in der Richtung werden genauso gut instand gehalten wie diese hier.“
Serron runzelte die Stirn. „Was übrigens ein weiterer Hinweis darauf ist, dass etwas Außergewöhnliches vor sich geht. Warum sollte man eine nicht oft befahrene Strecke so aufwendig ausbauen?“
„Wir werden es herausfinden!“ Ich stieg aufs Pferd und ritt voraus.
Die weitere Reise verlief zunächst ereignislos. Die Landschaft wurde hügeliger, die Straße führte immer häufiger bergauf, was den Zugpferden aber kaum Probleme bereitete, da die beiden Wagen nicht schwer beladen waren. Zu beiden Seiten befand sich Wälder, daran änderte sich während des ganzen Tages nichts. Abends suchten wir uns wieder eine geschützte Stelle, obwohl die Nacht klar zu werden versprach und der Wind eingeschlafen war.
Diesmal gelang es uns sogar, eine Lichtung zu finden, die leicht zugänglich war und Platz für Pferde und Fuhrwerke zugleich bot. Eine Wache genügte, um alles im Blick zu behalten. Da ich in der Nacht davor kaum geschlafen hatte, erlaubten mir die Anderen, mich vom Wachwechsel auszunehmen. Ich machte es mir im Wagen bequem und schlief sofort ein.
Doch ich wurde mitten in der Nacht geweckt. Als mich jemand am Arm rüttelte, glaubte ich, es wäre wieder ein geheimnisvoller Transport auf der Straße unterwegs. Aber es gab ein anderes Problem.
„Etwas ist los im Wald“, flüsterte mir Serron ins Ohr. „Nimm deinen Degen und komm mit!“
Möglichst geräuschlos kletterten wir ins Freie. Haram, Kar und Inda schliefen, doch Gendra und Martie warteten draußen auf uns.
„Ich habe Wache“, informierte mich Gendra so leise, dass ich sie kaum verstehen konnte. „Die Pferde sind unruhig geworden. Aber nur für ein paar Minuten.“
„War ein wildes Tier in der Nähe?“
„Nein. Im Gegenteil, sie sehen alle in dieselbe Richtung in den Wald, als würden sie sich auf jemanden freuen, der von dort kommt. Du weißt, was ich meine.“
„Erzähl keine Kindergeschichten!“, forderte ich. Es war eines der weitverbreiteten Märchen, dass in den Wäldern der nördlichen Provinzen Elfen lebten, die bei Tieren dieses Verhalten auslösten.
„Sieh selbst!“, forderte sie.
Tatsächlich verhielten sich die Pferde ungewöhnlich. Aber es gab eine einfache Möglichkeit, herauszufinden, was vor sich ging. Wen auch immer sie wahrnahmen, er musste sich in der Richtung befinden, in die sie sahen.
Zu viert gingen wir langsam vom Lagerplatz weg in den Wald hinein. Die Waffen ließen wir stecken, um niemanden zu einem Angriff zu provozieren. Sollten sich doch wilde Tiere hier herumtreiben, waren wir trotzdem bereit, uns zu wehren.
Rund zweihundert Schritte mussten wir zurücklegen, bevor wir ein weiteres Zeichen dafür hörten, dass etwas Ungewöhnliches vor sich ging: Vögel zwitscherten. Und das mitten in der Nacht. Es hörte sich an, als wäre gerade der Frühling ausgebrochen.
„Ist einer von euch schon einmal Elfen begegnet?“, fragte ich meine Freunde. Sie schüttelten wie erwartet die Köpfe. Von einer solchen Begegnung hätten wir uns längst gegenseitig erzählt. Wir kannten uns zu gut und zu lange, um solche Geheimnisse voreinander zu haben.
„Sie sollen friedlich sein, solange man nicht in die Nähe ihrer Siedlungen kommt“, flüsterte Gendra, während wir weitergingen. „Fühlen sie sich angegriffen, so verwandeln sie sich in furchtbare Kämpfer, denen sogar die Natur selbst beisteht. Bäume ziehen ihre Wurzeln aus der Erde und verwenden sie als Waffen. Wölfe und andere wilde Tiere kommen von weit her gehetzt, um die Elfen zu unterstützen. Raben stürzen sich aus dem Himmel herab und hacken ihren Feinden die Augen aus ...“
Helles Lachen unterbrach ihre Aufzählung. Es kam aus den Baumkronen über uns. Wir sahen wie auf Kommando nach oben - alle außer Serron, wie ich aus den Augenwinkeln wahrnahm. Er behielt die Umgebung im Auge.
Zunächst sah ich nichts als das dunkle Dach des Laubs. Doch dann schälte sich eine Figur aus der Dunkelheit. Sie stand auf einem dicken Ast und lehnte sich gegen den Stamm des Baumes. Von unten betrachtet konnte ich die Körpergröße nicht richtig einschätzen. Aber es schien eher ein Kind zu sein als ein ausgewachsener Mensch - wenn es sich um einen Menschen handelte.
„Wer bist du?“, rief ich nach oben.
„Ein fürchterlicher Elf, der gleich die Bäume gegen euch in Marsch setzt, bevor ihr von Wölfen zerfleischt werdet. Wer sollte ich sonst sein?“
„Elfen sind groß, schlank und haben spitze Ohren“, rief ich zurück.
„Du kannst meine Ohren von da unten gar nicht sehen“, kam prompt die Antwort. „Größe wird gemeinhin überschätzt und schlank bin ich sowieso. Sonst noch etwas?“
„Komm her, damit wir uns besser unterhalten können“, forderte ich.
Zu meiner Überraschung sprang der Fremde einfach in die Luft. Er schien die drei Manneslängen zu uns herunter nicht zu fallen, sondern zu schweben, bis er einen Schritt von entfernt mir auf dem Waldboden stand.
„Fiedig ist mein Name“, stellte er sich vor. „Wer seid ihr?“
Er war tatsächlich zwei Kopf kleiner als ich. Aber er war kein Kind, denn sein Gesicht war faltig wie das eines älteren Mannes. Die Falten entsprachen denen eines Menschen, der über ein sonniges Gemüt verfügte und viel lachte. Fiedig sah alt aus, sehr alt, und doch strahlte er eine Jugendlichkeit aus, die beneidenswert war.
„Wir sind auf der Reise nach Andalach und machen hier in der Nähe Rast“, antwortete ich.
Fiedig legte den Kopf zurück und sah mich mit einem freundlichen Lächeln an. „Ich habe gefragt, wer ihr seid, nicht warum ihr hier seid.“
Ich schluckte diesen Vorwurf hinunter und stellte mich vor. „Mein Name ist Aron von Reichenstein, dies sind Serron Barth, Gendra Grall und Martie Ondt. Wir kommen aus Dongarth.“
„Von Reichenstein? Ein Name, den man in früheren Zeiten im Nordosten der Ringlande häufig vernommen hat“, stellte der Elf fest.
„Meiner Familie gehörten einst große Ländereien in der Nähe von Kerrk.“ Mehr sagte ich dazu nicht.
„Ländereien, verstehe. Wer sind die Menschen, die in den Wagen schlafen?“
„Ein Händler, sein Namen ist Haram Gonn. Kar und Inda Andar begleiten ihn.“
„Genauso habe ich es gehört“, sagte Fiedig. „Folgt mir tiefer in den Wald hinein.“
Das weckte mein Misstrauen. „Warum?“, wollte ich wissen.
„Dort warten weitere Elfen darauf, euch zu sehen“, antwortete er. Mit ein paar fast schwerelosen Sätzen rannte er zu einem Baum in der Nähe, sprang auf den niedrigsten Ast und winkte uns, ihm zu folgen.
„Wir können nicht so gut klettern“, rief ich ihm zu. „Und für diese Äste sind wir zu schwer.“
„Dann müsst ihr leider auf dem Boden entlang krauchen. Aber egal wie, folgt mir!“
Er sprang auf einen höheren Ast und verschwand in der Dunkelheit.
„Diese Chance sollten wir uns nicht entgehen lassen“, meinte Serron. „Elfen zu begegnen ist ein seltenes Abenteuer.“
„Und es soll Glück bringen“, ergänzte Gendra.
„Ich bin auch dafür“, unterstützte Martie prosaischer ihre Meinung.
Also gingen wir in die Richtung, in der Fiedig verschwunden war.
Bald sah ich ihn wieder. Trotz der Dunkelheit im Wald konnte ich erkennen, wie er auf einem Ast saß und mit den Beinen baumelte. Ein kaum wahrnehmbarer Lichtschein umgab seine Gestalt.
„Trödelt ihr immer so?“, fragte er. „Kein Wunder, dass ihr Menschen Pferde braucht, um voranzukommen. Schneller jetzt, zur Morgendämmerung müsst ihr wieder zurück sein bei den Wagen. Sonst wundern sich die Händler, wo ihr abgeblieben seid.“
„Sie werden sicherlich bereits im Laufe der Nacht merken, dass wir weg sind“, entgegnete ich. Gleich darauf fluchte ich laut, weil ich in der Dunkelheit über eine Bodenunebenheit stolperte und beinahe hinfiel.
„Ungeschickt seid ihr also auch!“, kommentierte Fiedig. „Nein, die Händler werden in dieser Nacht nicht aufwachen. Ihr Schlaf ist tief und erholsam.“
„Haben Sie sie verzaubert?“, fragte Gendra.
Fiedig antwortete nicht, sondern bewegte sich wieder so schnell über die Äste von Baum zu Baum, dass ich ihn aus den Augen verlor. Aber die Richtung war klar, also folgte ich ihm, allerdings vorsichtiger als bisher.
Immer bereit, meinen Degen zu ziehen, ging ich tiefer in den Wald hinein. Ich wusste ohne mich zuzusehen, dass meine drei Freunde nach den Seiten und nach hinten sicherten, während ich nach vorne und nach oben sah.
Als wir eine Lichtung erreichten, an deren Rand ein Bach entlang lief, ahnte ich, dass wir unser Ziel erreicht hatten. Äsende Rehe, die sich von Fiedig nicht hatten aus der Ruhe bringen lassen, liefen vor uns davon. Es war hier heller, als es hätte sein dürfen, denn noch immer bedeckten Wolken den Himmel, die den Mond verbargen.
Der Elf stand abwartend in der Mitte der Lichtung und sah uns entgegen. „Ach, ihr seid ja auch schon da“, sagte er. „Dann können wir ja anfangen.“
Wie aus dem Nichts kommend standen einen Augenblick später sechs weitere Elfen um uns herum. Drei waren weiblich, eine davon schwanger. Trotzdem hielt sie wie die anderen eine Waffe in der Hand, einen kurzen Degen, der wie eine Kinderwaffe wirkte, aber gefährlich silbern glitzerte. Ich zog meine Waffe nicht, weil von den kleinen Gestalten keine Bedrohung ausging. Eher kam es mir vor, als sei es eine Ehrbezeugung uns gegenüber, dass sie uns ihre Waffen präsentierten.
Auch meine Freunde verhielten sich abwartend. Vielleicht war das ein Test der Elfen, um herauszufinden, wie angriffslustig wir waren. Aber warum sollten sie das tun? So etwas kann ja auch schief gehen - jemand zieht seine Waffe und es kommt zum Kampf.
Im nächsten Moment traten alle Elfen außer Fiedig einen Schritt zurück. Die Waffen behielten sie jedoch in Händen.
„Nun ist Ihnen doch noch eine Überraschung gelungen“, sagte Fiedig zu uns. „Nicht nur der Degen des Herrn von Reichenstein weist Besonderheiten auf, sondern alle Waffen, die Sie bei sich tragen. Wie kam es dazu?“
„Was meinen Sie mit Besonderheiten?“, fragte ich zurück.
„Ihre Waffen können nicht magisch beeinflusst werden. Das ist ungewöhnlich. Abgesehen von dem Degen, der aus dem alten Kaiserreich stammt.“
„Wollten Sie etwa unsere Waffen magisch verändern?“, fragte ich. „Verfluchen, womöglich?“
„Im Gegenteil! Wir hatten vor, genau das zu tun, was bereits geschehen ist: sie mit einem zusätzlichen Schutz versehen. Eigentlich können es nur Magier aus der Akademie des Zeuth in Dongarth gewesen sein, die uns dabei zuvorgekommen sind. Dort schätzt man also die Situation ähnlich ein wie bei uns. Gut zu wissen!“
Ich wollte unsere die Begegnung mit den Magiern nicht zugeben, deshalb fragte ich weiter: „Wie ist denn die Situation?“
„Gefährlich“, antwortete der Elf kurz. „Je weiter man nach Norden kommt, desto kriegerischer wird die Stimmung der Menschen. Jenseits des Ringgebirges, in den Gebieten, die von euch die Kaltlande genannt werden, ist das nicht ungewöhnlich. Dort lebt ein harter, immer kampfbereiter Menschenschlag. Aber hier verhindert der besänftigende Einfluss des Berges Zeuth eigentlich eine solche Einstellung.“
„Das wüsste ich gerne genauer“, sagte ich. „Wir hören immer nur Gerüchte, keine Fakten.“
„Es kann nicht unsere Aufgabe sein, Sie mit Wissen zu versorgen, das Sie auch anderswo her beziehen können“, sagte er mit gespielter Würde. „Es muss genügen, wenn wir bereit sind, Sie und Ihre Begleiter zu unterstützen.“
„Unsere Waffen sind bereits vor magischer Beeinflussung geschützt. Also helfen Sie uns bitte auf andere Weise.“
„Wer könnte dem Träger eines Kaiserdegens etwas abschlagen? Noch dazu, wenn er im Besitz eines Ombudsteins aus dem fernen Land Ostraia ist. Zeigen Sie uns den Diamanten!“
Das kam unerwartet. Woher wussten die Elfen von diesem Edelstein? Die Frage schien mir ins Gesicht geschrieben zu sein, denn bevor ich sie aussprechen konnte, ergänzte Fiedig: „Villur Schanck kam vor wenigen Tagen hier durch. Er hat von Ihnen erzählt. Sehr interessant, was Sie in Kethal erlebt haben. Wir Elfen sind salzigem Wasser eher abgeneigt. Aber wir hören gerne Geschichten über die Seefahrt und das große Meer, das sich bis nach Askajdar erstreckt. Vielleicht entschließen wir uns eines Tages dazu, diese Reise zu unternehmen.“
„Villur Schanck?“ Den berühmten Abenteurer hatte ich nicht mehr gesehen, seit er heimlich mit dem Reisenden Peregrin verschwunden war. Ich hätte zu gerne mit ihm über das gesprochen, was damals vorgefallen war. „Wann war das?“
„Vor kurzem“, sagte Fiedig.
Die anderen Elfen nickten bestätigend, aber nach wie vor sprachen sie kein Wort.
„Dieser Edelstein“, fuhr Fiedig fort und streckte die Hand aus, „ist wie dafür gemacht, eine magische Funktion anzunehmen. Ich werde ihn zu einem Signal aufwerten, das alle Elfen in den Ringlanden als Kennung akzeptieren. Sie gelten dann als Elfenfreund und erhalten Unterstützung, falls Sie sie benötigen.“
„Elfenfreund?“, fragte ich und zuckte zurück. Dieser Begriff war in meiner Heimat ein Spottwort für jemanden, der nicht ganz klar im Kopf war und sich fantastische Geschichten ausdachte.
Fiedig lachte. „Ja, nicht jeder, der von uns erzählt, hat sich alles ausgedacht. Manche Menschen sind tatsächlich besondere Freunde unseres Volkes. Nun geben Sie schon her!“
Ich holte den in Leder gewickelten länglichen Diamanten heraus und gab ihn Fiedig.
Er nahm ihn, drehte ihn ein paar Mal hin und her und hielt ihn dann zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe. In einer mir unverständlichen Sprache sagte er ein paar Worte zu den Elfen im Kreis um uns, die diese Worte wiederholten.
Das schien schon alles gewesen zu sein, denn er gab mir den Ombudstein zurück.
„Gute Reise“, wünschte er.
Die sechs anderen Elfen steckten ihre Waffen weg und verschwanden im Dunkel des Waldes.
„Nicht so schnell“, mischte sich Serron in das Gespräch ein. „Wissen Sie etwas über die Kutschen, die nachts manchmal hier vorbeikommen?“
„Und ob! Wir wissen alles darüber. Aber wir erzählen es nicht weiter. Findet es selbst heraus.“ Fiedig wandte sich um und rannte davon in den Wald.
Ich setzte ihm nach - und fand ihn nicht wieder. Ein junger Rehbock stand nicht weit vom Rand der Lichtung zwischen den Bäumen. Er starrte mich einen Augenblick lang an, dann warf er sich herum und verschwand in der Dunkelheit.
„Wie finden wir jetzt zurück zu den Wagen?“, fragte Gendra.
Ein lautes, fernes Wiehern beantwortete ihre Frage. Es erklang immer wieder, wie ein Signal.
„Das sind unsere Reitpferde“, sagte Martie. „Wir können uns daran orientieren.“
Es dauerte nur eine Viertelstunde, dann weckten wir Haram, Kar und Inda, um ihnen von unserem Erlebnis zu erzählen. Sie sahen uns an, wie man eben Elfenfreunde ansieht.