Читать книгу Der Weg des Goldes - Manfred Rehor - Страница 8
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Etwas Idyllischeres als den Ort Vinheim am Sall hätte ich mir nicht ausmalen können. Es gab vermutlich Menschen, die sich die ganze Welt so wünschten, wie dieser Ort erschien. Die Häuser waren breit, zweistöckig und herbstlich geschmückt. In den sauberen Straßen und Gassen gingen bunt gekleidete Bürger ihrem Tagwerk nach, immer mit einem Lächeln im Gesicht und freundlich allen gegenüber.
Auf dem kleinen Marktplatz sah ich Stände, an denen lokale Spezialitäten verkauft wurden, und natürlich Wein in allen Geschmacksrichtungen. Getrocknete Weintrauben bot man ebenfalls feil, außerdem Schnäpse und Liköre. Was es nicht gab auf diesem Markt, waren - Taschendiebe.
In Dongarth war es eine Selbstverständlichkeit, dass Vertreter dieser Zunft zwischen den Ständen lungerten und nach Opfern Ausschau hielten. Da ich selbst eine gewisse Ausbildung in diesem Bereich erfahren hatte, besaß ich einen Blick dafür. Mir entgingen solche kleinen Gauner nirgends, egal wohin ich reiste. Aber hier entdeckte ich keinen einzigen.
Dafür gingen Wachleute in nicht unerheblicher Zahl durch die Menge. Sie trugen farbenprächtigere Uniformen, als ich sie bisher irgendwo gesehen hatte, waren aber nur mit Knütteln bewaffnet. Doch sie beobachteten das Treiben mit wachen Augen. Ich bemerkte, wie gleich mehrere unserer kleinen Gruppe mit Blicken folgten.
Natürlich war auch Vinheim nicht ohne Schattenseiten - in welcher Stadt gab es keine? Zu denen gehörten die Preise. Mit einem Einkommen, das in der Hauptstadt Dongarth ausreichend war für ein sorgenfreies Leben, wäre man hier ein Hungerleider. Lebensmittel kosteten das Dreifache, Zimmer in Gasthäusern das Doppelte der besten Häuser in der Hauptstadt. Das einzig Billige war der Wein, und selbst das galt nur für die einfachen Qualitäten.
Haram Gonn verabschiedete sich von uns, kaum dass wir angekommen waren. Er nahm Kontakt auf zu möglichen Abnehmern seiner Werkzeuge. Unterwegs hatte er beschlossen, nach Südosten weiterzufahren, sobald er seine Ware losgeworden war. Ihm gefiel nicht, was wir auf dem Weg hierher erlebt hatten. Er befürchtete, sein Name könnte in der ganzen Provinz Malbraan die Runde machen. Das wäre nicht nur gefährlich für ihn, sondern auch schlecht fürs Geschäft.
Dass unser Zusammenstoß mit den vier Angreifern nahe der Goldschmelze in Gandacker nicht unbemerkt geblieben war, stand inzwischen außer Zweifel. Kaum hatten wir an jedem Tag den Ort verlassen, holte uns der Kurrether Berthon ein, der von sechs Soldaten begleitet wurde. Er befragte uns ausführlich danach, wo wir gewesen waren. Durch scheinbar unverfängliche Fragen versuchte er uns dazu zu bringen, unseren Ausflug zum Fuhrpark und in den Wald zu gestehen. Als das nicht verfing, stieß er Drohungen aus und kündigte an, Fürst Malbraan zu informieren. Wir würden schon sehen, was wir davon hätten, nicht mit ihm zusammenzuarbeiten.
Auf dem Weg nach Vinheim waren wir durch mehrere Dörfer gekommen. Jemand hatte die Dorfvorsteher, Wachleute und sogar die Wirte der Tavernen vor uns gewarnt. Was man über uns erzählte, fanden wir nicht heraus. Aber wir fühlten uns nirgendwo willkommen. Was einerseits unsere Laune eintrübte, andererseits aber unsere Weiterreise beschleunigte. Außerdem wurde das Wetter zwar immer sonniger, dabei jedoch kälter. In den Planwagen war es auch bei Frost angenehm, aber die Nachtwachen wurden lästig. Deshalb fuhren wir oft noch nach Einbruch der Dunkelheit weiter.
In Vinheim selbst ließ man uns nicht spüren, ob man bereits von uns gehört hatte oder gar gewarnt worden war. Es waren vor allem die Preise, die mich und meine Freunde veranlassten, nur einen Tag in der Stadt zu verbringen. Wir hatten zwar dank des Goldes von Fürst Borran keine Geldprobleme, aber irgendwie war es uns allen zuwider, so freigiebig zu sein. Verschwendung widersprach unserer Natur.
Von Vinheim aus waren es nur noch dreißig Meilen bis in die Hauptstadt der Provinz, Andalach. Nachdem wir den Sall auf einer breiten Brücke überquert hatten, ritten wir auf der Straße entlang seines Nordufers weiter. Der Fluss war berüchtigt für seine Untiefen und Stromschnellen. Er wand sich wie eine Schlange durch das Tal, das er sich selbst geschaffen hatte. Wegen dieser Eigenschaften gab es keine Schifffahrt, alle Waren mussten auf Wagen transportiert werden. Aus diesem Grund herrschte auf der Straße fast so viel Verkehr wie in der Umgebung von Dongarth.
Das Wasser des Sall war klar und fischreich. Wir holten mit selbst gefertigten Angeln binnen weniger Minuten eine reichliche Mahlzeit heraus. Während wir die Fische brieten, saßen wir in der Sonne und ließen es uns gutgehen.
Alle fünf Meilen stießen wir auf eine aus Stein gebaute Brücke. Das war ein Luxus, den es am Donnan nicht gab, nicht einmal am Oberlauf, wo der Strom nicht besonders breit war.
Am frühen Nachmittag erreichten wir Andalach. Die Stadt konnte ich schon aus mehreren Meilen Entfernung sehen, denn sie lag am Hang eines langen Höhenzugs. Die Stadtmauern waren ähnlich eindrucksvoll wie diejenigen von Dongarth. Auch hier befanden sich einige Gebäude höher am Berghang als die übrigen. Besonders auffallend war eine Burg, die düster und abweisend wirkte. Das musste der Sitz des Fürsten von Malbraan sein. Links und rechts dieser Burg standen weitere Häuser, deren Funktion sich mir nicht sofort erschloss. Ein weiß getünchtes schätzte ich als Tempel ein, ein von Bäumen fast völlig verstecktes als Wohnsitz eines besonders reichen Händlers.
Vor der Stadt befand sich, wie auch in Dongarth, ein großer Platz, auf dem Fuhrwerke abgestellt werden konnten. Tavernen, Hufschmiede und Pferdeställe reihten sich aneinander. Was fehlte, waren die Häuser von Armen, von denen die Hauptstadt umgeben war wie von einem Gürtel.
Allerdings standen vor der Stadtmauer viele Zelte, und zwar solche, wie sie von Soldaten genutzt wurden, wenn sie in unwegsamem Gebiet kampierten. Das Besondere an diesen Zelten war, dass auf ihnen keinerlei Wappen oder sonstige Hinweise angebracht waren, die anzeigten, um wessen Truppen es sich handelte. Denn jeder Fürst hatte seine eigene kleine Streitmacht und das Königshaus eine größere. Auch wenn der Einfluss des Berges Zeuth keine großen Schlachten zuließ, so war Militär doch wichtig. Zum Einen, damit keiner der Fürsten auf den Gedanken kam, seinen Einflussbereich zu erweitern, wie es in früheren Jahrhunderten oft genug geschehen war. Zum Anderen, um das Verbrechen nicht überhandnehmen zu lassen. Eine Räuberbande von acht oder zehn gut bewaffneten Männern stellte für die Wachleute einer kleinen Stadt einen zu starken Gegner dar. In solchen Fällen wurden Soldaten zu Hilfe gerufen.
Auch auf der Straße vor der Stadt, auf der wir uns befanden, sahen wir viele Bewaffnete. Dabei handelte es sich eindeutig um Söldner. Manche waren auf dem Weg nach Andalach, andere kamen aus der Stadt heraus und ritten flussaufwärts, also nach Nordosten. Es gab keinen, der auf dem Weg nach Süden war und uns entgegen kam. Es war klar, dass im Norden viele Kämpfer gebraucht wurden.
Wegen der vielen Söldner ritten wir in dem Gefühl, nicht sonderlich aufzufallen. Man sah uns und unseren Pferden die lange Reise an, aber das galt für andere Männer und Frauen aus der kämpfenden Zunft ebenfalls.
Das Stadttor von Andalach stand weit offen, wie nicht anders zu erwarten an einem gewöhnlichen Tag. Einige Männer der Stadtwache stützten sich gelangweilt auf ihre Hellebarden. Trotzdem behielten sie die Menschen im Auge, die in die Stadt wollten. Immer mal wieder riefen sie jemanden aus der Menge heraus, um mit ihm zu sprechen. Aber in der Zeit, in der wir uns langsam näherten, durfte jeder nach einem kurzen Wortwechsel durch das Tor gehen.
Deshalb war ich nicht alarmiert, als man uns beiseite rief. Doch während die Männer der Stadtwache uns nach Namen und Zweck unseres Aufenthalts in Andalach ausfragten, ging einer von ihnen eilig in die Stadt hinein. Das gefiel mir nicht, aber es gab keinen Grund, misstrauisch zu sein. Als sich jedoch die Fragen an uns zu wiederholen begannen und klar war, dass die Stadtwachen Zeit schinden wollten, beschloss ich, kehrt zu machen. Ich erklärte, wir würden uns Zimmer in einer der Tavernen an dem großen Platz nehmen und am folgenden Tag wiederkommen.
Das schien den Wachen nicht zu gefallen, aber ich hatte keine Lust, weiter mit ihnen zu streiten. Wenn wir die Stadt nicht betreten wollten, gingen sie unsere weiteren Pläne nichts an. Wir waren alle vier von unseren Pferden gestiegen, wie man es von Besuchern erwartete. Nun wollte ich wieder aufsitzen. Doch ein Wachmann griff in die Zügel.
Bevor ich darauf reagieren konnte, hörte ich einen warnenden Ruf von Serron. Ich drehte mich um und sah, dass sich uns von hinten Soldaten näherten, und zwar gleich drei Trupps von je vier Mann. Ihnen voran ging ein hagerer, langer Kerl, der zwar keine Offiziersuniform trug, aber trotzdem wie ein Anführer wirkte.
„Ich bin der Hauptmann der Stadtwache von Andalach“, verkündete er, als er vor uns stand. „Sie sind alle festgenommen. Kommen Sie freiwillig mit oder müssen die Soldaten Sie in Stücke hacken, damit wir Sie leichter in den Kerker transportieren können?“
Auch der Wachmann, der vor wenigen Minuten in die Stadt hineingeeilt war, war bei ihnen. Sie alle mussten durch ein anderes Tor herausgekommen sein, um uns von hinten den Rückweg abzuschneiden. Weitere Bewaffnete kamen heran, offenkundig, um uns in den Kerker zu führen.
Das Aufgebot war so groß, dass ich und meine drei Freunde schon wieder Chancen hatten, sie alle zu besiegen. Der Schutz des Berges Zeuth und des Ringgebirges war mit der kleineren Zahl. Aber damit wäre die Sache nicht erledigt gewesen, denn der Nachschub an Soldaten und Söldnern war hier fast unerschöpflich. Man hätte uns also trotzdem bald überwältigt - oder getötet. Denn auf der Krone der Stadtmauer sah ich nun auch Männer. Vermutlich zielten sie mit Armbrüsten oder Bögen auf uns.
Widerwillig überließ ich mein Pferd einem Soldaten, der es beiseite führte. Dann mussten wir unsere Waffen abgeben, was ich ungerne tat. Der Kaiserdegen war wertvoll. Allerdings würden die Soldaten das nur bemerken, wenn sie ihn aus der Scheide zogen und untersuchten.
Anschließend folgten wir den Wachmännern in die Stadt hinein. Wie vom Hauptmann angekündigt, brachte man uns in einen Kerker, der sich im Keller eines Hauses mit massiven Steinwänden befand. Vermutlich war das der Sitz der Stadtwache. Wir hatten keine Zeit, danach zu fragen oder uns umzusehen. Die Zellentür schloss sich hinter uns und wir waren alleine.
„Wir sind zu sorglos gewesen“, sagte ich.
„Auch schon gemerkt?“, höhnte Gendra. „Du musst bei der Goldschmelze beobachtet worden sein. Anders kann ich mir das nicht erklären.“
„Du meinst den Kampf im Wald?“, fragte ich zurück.
„Vielleicht sogar während des ganzen Wegs, den ihr zurückgelegt habt. Zu dem Fuhrpark, dann zum Zaun der Schmelze.“
„Warum sollte das jemand tun und uns dann erst hier in Andalach Probleme bereiten?“, fragte Martie.
„Weil er hier mehr Macht hat als in einem Dorf wie Gandacker. Es könnte der Fürst sein, oder aber ein Kurrether. Schließlich haben wir Hinweise auf ihre Goldtransporte entdeckt.“
„Die Kurrether sind es nicht. Es heißt ja, dass jeder stirbt, der ihr Geheimnis entdeckt.“ Ich dachte nach. „Außer, sie wollen etwas von uns. Etwas, für das sie uns lebend brauchen.“
Man ließ uns die ganze Nacht im Kerker sitzen. Wir bekamen einen zähen Brei und einen Krug mit Wasser. Ansonsten kümmerte man sich nicht um unsere Bedürfnisse und schon gar nicht um unsere Beschwerden und Fragen.
Am folgenden Morgen war man wohl der Ansicht, wir hätten den Ernst der Lage verstanden. Wir wurden abgeholt und in eine Säuberungszelle gebracht. Zunächst wir drei Männer, dann Gendra. Dort konnten wir uns mit eiskaltem Wasser waschen. Offenbar wollte jemand mit uns sprechen, der eine empfindliche Nase hatte.
Man legte uns Handfesseln an und führte uns auf die Straße zu einem Fuhrwerk mit einem Kastenaufbau aus Holz. Darin sperrte man uns ein. Die Fahrt ging rund zwanzig Minuten lang durch die Stadt. Da ich nicht nach draußen sehen konnte, wusste ich nicht, in welche Richtung man uns brachte. Aber das Rattern der Räder auf den gepflasterten Straßen hallte von den Hauswänden zurück, unser Weg führte also nicht vor die Stadtmauer.
Schließlich hielt der Wagen an, die Tür wurde geöffnet und wir traten ins Freie.
Vor uns lag ein kleiner Park mit einem Springbrunnen. Der Platz war nicht groß und von einer hohen Mauer umgeben. An seinem Ende erhob sich wuchtig die Burg, oder besser gesagt der Palast, des Fürsten Malbraan. Die Männer der Wache übergaben uns den Soldaten des Fürsten, ohne uns die Fesseln abzunehmen. Außerdem händigten sie ein Bündel aus, das in eine Decke gewickelt war und hoffentlich unsere Waffen enthielt. Der Wagen wendete und rollte davon. Da er nicht wartete, würden wir diesen Palast entweder frei oder tot verlassen. Als ich die Miene des Offiziers sah, der die Soldaten hier befehligte, fürchtete ich fast das Letztere.
Das Innere des Palasts vermittelte einen völlig anderen Eindruck als seine Außenseite. Alles war mit großem Prunk eingerichtet. Dicke Teppiche lagen auf dem Boden, vergoldete Ornamente prunkten an den geschnitzten Holztafeln entlang der Wände und an der Decke. Zumindest die Eingangshalle, in der wir standen, wirkte geradezu protzig, wenn ich sie mit der auch nicht gerade schäbig eingerichteten Residenz des Fürsten Borran in Dongarth verglich.
Wir gingen eine breite, mit Teppich belegte Treppe hoch, und dann noch eine, bis wir in einen Raum gelangten, der vermutlich ein Wartezimmer war. Dicke, rote Vorhänge an den Fenstern ließen nur gedämpft das Tageslicht herein. Gemälde in vergoldeten Rahmen zierten die Wände und gepolsterte Stühle standen in Reihen nebeneinander. Gut zwanzig Personen hatten hier Platz, ohne sich gegenseitig zu nahe zu kommen. Im Moment allerdings war der Raum leer.
Der Offizier gab Anweisung, uns die Fesseln zu lösen und sah zu, wie wir uns die aufgescheuerten Handgelenke rieben.
„Fürst Malbraan gewährt Ihnen eine Audienz“, sagte er mit lauter, tiefer Stimme. „Sollten Sie sich nicht zu benehmen wissen, ist das Ihr sicherer Tod. Auch wenn Sie es nicht bemerken - jede Ihrer Bewegungen wird verfolgt.“
„Unsere Waffen!“, forderte ich, ohne auf sein Gerede einzugehen.
„Bekommen Sie zurück, wenn der Fürst dies anordnet“, erwiderte er. „Warten Sie hier, bis man Sie hinein bittet.“
Die Soldaten und der Offizier gingen hinaus. Wir waren alleine.
Ich verstand den Hinweis auf unser Benehmen so, dass wir ständig beobachtet wurden. Vielleicht durch Löcher in den Wänden oder über ein System von trickreich versteckten kleinen Spiegeln, wo auch immer die sich befinden mochten. Von so etwas hatte ich Fürst Borran einmal erzählen hören, allerdings ging es damals um die scheinbar unheimliche Fähigkeit von angeblichen Gedankenlesern und Sehern. Die wussten, was in anderen Räumen vor sich ging, ohne selbst dort zu sein.
Entsprechend signalisierte ich meinen Freunden, zu schweigen und sich unverdächtig zu verhalten. Aber das war eigentlich überflüssig, denn sie waren zu derselben Schlussfolgerung gelangt wie ich.
Eine halbe Stunde ließ man uns warten, dann öffnete sich die weiße Flügeltür und ein Diener forderte uns auf, einzutreten.
Das Audienzzimmer, in das wir kamen, bot an sich nichts Neues. Es war üppig ausgestattet, überall Samt und Gold und Möbel aus wertvollen Hölzern. Aber die Personen, die uns entgegensahen, hatte ich hier nicht erwartet. Es waren fünf Kurrether und ein Mann, der so kräftig und dunkel wirkte, als sei er ebenfalls einer. Alle standen vor einem großen Schreibtisch, hinter dem entlang der Wand die Fahne Malbraans aufgespannt war.
Fünf von den Sechsen blickten uns finster an, aber einer lächelte, und das sorgte bei mir für eine Gänsehaut. Denn dieser sechste war kein anderer als der königliche Rat Geshkan. Seine Anwesenheit machte aus dieser Begegnung nicht nur eine offizielle politische Veranstaltung, sondern auch eine sehr persönliche. Bei unserer letzten Begegnung hatte ich ihm die Spitze meines Degens an die Kehle gesetzt. Warum ich das überlebt hatte, fragte ich mich seit dem immer wieder. Geshkan hatte mich anschließend ausgelacht, als wäre alles ein Riesenspaß für ihn gewesen. Er fühlte sich so überlegen, dass nicht einmal der drohende Tod ihn zu beeindrucken vermochte. Wenn es einen Kurrether gab, der eine tödliche Gefahr für mich und meine Freunde darstellte, dann er.
Ich überlegte, ob er wegen der Kämpfe hier im Norden der Ringlande war, oder wegen mir. Wobei es wohl eine Art von Größenwahn wäre, Letzteres anzunehmen.
Als Erster sprach der Mann, der kein Kurrether war.
„Sie sind also Aron von Reichenstein“, sagte er und sah mich scharf an. „Man hat Sie mir als intelligenten jungen Mann beschrieben, der allerdings zu Eigensinn neigt und sich nicht an Befehle hält. Warum sind Sie nach Andalach gekommen: auf Anweisung der Fürsten Borran oder aus eigenem Antrieb?“
Ich beschloss, ihn zu provozieren, in der Hoffnung, dass er verriet, was in ihm vorging. „Gibt es denn einen Grund, freiwillig in die Provinz Malbraan zu reisen?“, fragte ich mit spöttischem Tonfall.
Er ging nicht darauf ein, sondern zählte in vollem Ernst auf: „Die Landschaft, das Wetter, unsere schönen Städte und, nicht zu vergessen, die Möglichkeit, sich Geld als Söldner zu verdienen. Nie war Malbraan so beliebt. Von Norden und Süden strömen die Menschen zu uns.“
„Und alle sind willkommen?“, wollte ich wissen. Denn er spielte natürlich auf die Kaltländer an, die in seine Provinz eindrangen, und die Kämpfer, die er ihnen entgegen schickte.
„Warum nicht? Manche sind uns so wert als Gäste, dass wir sie nicht mehr weglassen. Wir begraben sie in unserer Erde. Was übrigens auch jungen Männern von verarmtem Adel zustoßen kann, die zu neugierig und zu vorlaut sind.“
„Eigenschaften, die mir nicht zueigen sind, weshalb Sie mich nicht meinen können“, konterte ich. „Sie sprachen davon, dass man hier als Söldner Geld verdienen kann. Wie wir unterwegs gehört haben, sogar mehr, als man für das Begleiten von Fuhrwerken erhält. Ich nehme an, das kommt daher, dass die Aufgabe, für die man bezahlt wird, ungleich gefährlicher ist.“
„Wer seinen Beruf versteht, hat nichts zu befürchten“, sagte der Fürst und sah dann nach rechts. Rat Geshkan hatte sich vernehmlich geräuspert.
„Zweifellos gibt es viele gute Gründe, in den Norden der Ringlande zu reisen“, sagte Geshkan. „Welchen davon Herr von Reichenstein angibt, ist belanglos. Er ist hier und er wird mit seinen Begleitern weiterreisen. Wir sollten dies zu unserem Vorteil nutzen. Rat Parakh, schildern Sie die Situation. Kurz, bitte.“
Sein geschäftsmäßiger Tonfall überraschte mich so, dass ich schweigend weiter zuhörte.
Einer der anderen Kurrether begann: „Es gibt weit nördlich von Andalach einen Pass durch das Ringgebirge, der von Händlern genutzt wird. Der Warenaustausch mit den Kaltlanden ist nicht besonders umfangreich, aber einträglich. Beide Seiten profitieren davon, deshalb kam es an diesem Pass nie zu Problemen. Wenn die Kaltländer früher die Ringlande überfielen, so nutzten sie die Küstenregion im Westen. Dies hat sich geändert.“
„Fürst?“, wandte sich Geshkan nun nach links.
„Bewaffnete Trupps dringen in meine Provinz ein. Keiner davon ist groß genug, um unter den Einfluss des Berges Zeuth zu fallen. Trotzdem hilft uns dessen Magie, denn Kämpfer aus den Ringlanden sind dadurch immer stärker als Eindringlinge. Doch es sind so viele, dass sie zum Problem werden.“
„Welches Ziel verfolgen die Kaltländer mit dieser Strategie?“, fragte ich.
„Sie rauben Transporte aus, mit besonderer Vorliebe natürlich solche von Golderz und Goldbarren. Dabei dringen sie immer weiter nach Süden vor. Ihr Ziel scheint es zu sein, bis nach Gandacker zu gelangen, wo die größte Goldschmelze steht. Ob sie die Schmelze selbst angreifen wollen oder es nur auf die Barren abgesehen haben, die dort hergestellt werden, wissen wir nicht.“
„Sie glauben also nicht an einen Eroberungsfeldzug, mit dem die Kaltländer sich dauerhaft in den Ringlanden festsetzen wollen?“, fragte ich.
Malbraan lachte hart. „Niemand kann uns dauerhaft besiegen, solange der Berg Zeuth uns beisteht. Nein, sie wollen Beute machen - und zwar vor allem Gold.“
Serron warf ein: „Es genügt also, die Goldtransporte besser zu sichern, und die Kaltländer gehen leer aus. Ich verstehe das Problem nicht.“
Rat Geshkan antwortete anstelle des Fürsten: „Dem kann ich abhelfen, denn es gibt mehrere Probleme, die für den Außenstehenden nicht sofort zu erkennen sind.“ Er hob die Hand und zählte mit den Fingern, während er weitersprach. „Erstens, die häufigen Überfälle auf die Minen stören die Arbeit dort. Bald werden die ersten Minenbetreiber ihre Betriebe schließen, weil die Bergleute sich weigern, unter dieser Bedrohung weiterzuarbeiten. Wir haben nicht genügend Truppen, um alle Minen ständig zu schützen. Zweitens, sollten die Kaltländer bis zur Goldschmelze gelangen, ist der Nachschub für die Münze in Dongarth gefährdet, das Wirtschaftssystem der Ringlande könnte in Gefahr geraten. Drittens, was wollen die Kaltländer mit so viel Gold? Sein Besitz verschafft Macht und Einfluss, aber wen wollen sie beeinflussen, was wollen sie mit diesem Reichtum anfangen? Viertens, die Bevölkerung ist verunsichert, die Versorgung leidet in den nördlichen Städten und Dörfern. Fünftens - aber ich will Sie nicht langweilen. Ich nehme an, Sie verstehen, dass es sich nicht nur um ein Ärgernis handelt, wenn die Plünderer aus den Kaltlanden hier so massiv auftreten.“
Ich nickte, dachte dabei aber an einen Punkt, den er nicht erwähnt hatte: Wenn es stimmte, dass die Kurrether große Mengen Gold heimlich aus den Ringlanden fortschafften, dann störten die Kaltländer dabei. Der Nachschub an Gold könnte stocken und die Transporte selbst könnten abgefangen werden, wenn die Plünderer so weit in den Süden vordrangen.
„An den Durchbrüchen der großen Ströme Donnan im Norden und Azondan im Süden durch das Ringgebirge stehen Festungen, die das Eindringen von Feinden verhindern“, sagte ich. „Vielleicht sollte man die Königin-Witwe bitten, den Bau einer Festung an der Passstraße nördlich von hier in Auftrag zu geben.“
Fürst Malbraan rümpfte die Nase über diesen Vorschlag. Denn der bedeutete, dass ihm die Macht über diesen Handelsweg in die Kaltlande genommen wurde - und damit womöglich auch ein Teil des Einkommens, das seine Provinz daraus bezog.
„Ein Vorschlag, der uns kurzfristig nicht hilft“, sagte er ablehnend. „Der Bau einer Festung dauert Jahre. Wir benötigen eine Lösung noch diesen Herbst oder spätestens im Winter.“
„Warum schließt niemand den Pass?“, fragte ich weiter. „Ich stelle ihn mir als eine Straße vor, die sich in Tälern und Einschnitten durch das Gebirge windet. Es sollte nicht allzu schwer sein, diesen Weg zu blockieren.“
„Man hat es versucht. Militärisch ist er nicht zu halten. Wir hoffen jetzt auf einen frühen, harten Winter. Der Pass ist zwar auch dann noch begehbar, aber es wird schwieriger. Die Natur könnte uns helfen, ihn zumindest für einige Monat unpassierbar zu machen.“ Fürst Malbraan deutete auf einen weiteren Kurrether. „Rat Murpuna hat dazu Vorschläge entwickelt.“
Ich sah den betreffenden Kurrether an - und hätte vor Überraschung beinahe laut „Oh!“ gerufen. Das Äußere glich völlig dem anderer Männer dieses Volkes: die breite Statur, die hohe Gestalt, die selbstbewusste Art sich zu geben, die kriegerisch anmutende Kleidung, das golden glänzende Schwert an der Seite. Aber nun sah ich, dass es sich um eine Frau handelte. Täuschte ich mich? Nach einem Moment völliger Verwirrung hörte ich die ersten Worte des Rats. Es war tatsächlich eine dunkle Frauenstimme. Das ging völlig gegen alles, was man von Kurrethern gewohnt war. Noch nie hatte ich eine Frau aus diesem Volk gesehen. Zumindest nicht bewusst. Die Unterschiede waren so minimal, dass ich vermutlich ein Dutzend von ihnen in einer Gruppe zusammenstehen hätte sehen können, ohne auf die Idee zu kommen, dass es keine Männer waren.
„Ich gehöre seit kurzem zum Vorstand der Gilde der Erzgewinner und Minenbetreiber“, sagte Rat Murpuna. „Unser Gewerbe versteht es, wertvolle Rohstoffe tief aus dem Gestein zu gewinnen. Wir haben Erfahrung damit, Felsmassen zu sprengen. Es wäre uns technisch möglich, an einer engen Stelle die Passstraße durch eine Explosion zu blockieren. Entweder, indem wir die Straße selbst durch eine Sprengung unterbrechen, oder indem wir weiter oben große Felsmassen in Bewegung bringen, die sie verschütten.“
„Warum hat man das nicht längst gemacht?“, fragte Serron. Ihn schien das Geschlecht dieses Rats nicht zu irritieren.
„Der Handel mit den Kaltländern ist für beide Seiten einträglich. Eine Sprengung verursacht Schäden, die womöglich erst nach Jahren wieder völlig beseitigt sind. Die Händlergilde würde nicht mit Vorwürfen sparen - und mit Schadensersatzforderungen.“
Geshkan wandte sich an Murpuna. „Nennen Sie den wahren Grund“, sagte er mit Vorwurf in der Stimme. „Wir werden ihn nicht lange geheimhalten können.“
Schon wieder war ich überrascht. Dass ein Kurrether offen einen anderen kritisierte, und sei es nur durch Körperhaltung oder Stimmlage, war unerhört. Ehre war etwas, das ihnen unendlich wichtig war. Galten Frauen in ihrem Volk weniger als Männer? Falls ja, warum hatte dann eine Frau die Position eines Rats inne?
„Selbstverständlich, Rat Geshkan“, sagte Murpuna mit einer angedeuteten Verbeugung. Sie wandte sich an uns: „Trotz der geschilderten Bedenken haben wir versucht, kleinere Explosionen auszulösen, die den Verkehr auf der Passstraße zumindest vorübergehend behindern.“
„Wer ist wir?“, fragte ich dazwischen.
„Die Gilde der Erzgewinner und Minenbetreiber. Unsere Mitglieder gehörten zu den Leidtragenden der Angriffe und haben zurecht gefordert, dass die Gilde etwas dagegen unternimmt.“
„Und was ist geschehen?“
„Wir haben nacheinander drei Trupps von Sprengmeistern in den Pass geschickt, jeweils begleitet von erfahrenen Söldnern. Wir haben nie wieder etwas von ihnen gehört.“
Martie stieß einen überraschten Pfiff aus, sagte aber nichts.
„Es ist also gefährlich dort?“
„Zumindest im Sommer. Im Winter dürfte die Gefahr geringer sein, obwohl sich die Kaltländer natürlich in Eis und Schnee besser zurechtfinden. Aber selbst sie können sich nicht so ungehindert bewegen wie während der schneefreien Jahreszeit. Das hoffen wir jedenfalls.“
„Also werden Sie noch einmal Sprengmeister dorthin schicken?“, fragte ich.
„Das ist eine Möglichkeit, die wir erörtert haben. Eine andere ist einfacher, weil mit ihr auch das geschilderte Problem möglicherweise dauerhafter Schäden an der Passstraße elegant umgangen werden kann. Ich rede davon, Schneelawinen auszulösen, die den Pass unpassierbar machen. Im Frühjahr wird der Schnee schmelzen. Es werden zwar auch dann einige Aufräumarbeiten nötig sein, aber der Handel wird bald wieder in Schwung kommen.“
„Eine gute Idee“, gab ich zu. „Aber auch dafür werden Sie jemanden benötigen, der in höheren Lagen diese Lawinen auslöst.“
Meine Begleiter - Serron, Gendra und Martie - sahen mich mit fragenden Blicken an. Sie stammten alle aus den mittleren und südlichen Gebieten der Ringlande. Sie hatten starken Schneefall schon erlebt. Aber im Gegensatz zu mir wussten sie nichts von Lawinen, die mächtig genug waren, große Gebiete unter sich zu begraben. Diese Macht der Natur war ihnen nicht geläufig.
„Das Auslösen von Lawinen ist sehr viel einfacher als das Sprengen von großen Felsmassen“, erklärte Rat Murpuna. „In dafür günstigen Lagen genügt es, wenn ein paar kräftige Männer den Schnee weit oben ins Rutschen bringen. Die Frage ist, wie jemand dorthin gelangt, wenn sogar von Söldnern geschützte Trupps einfach verschwinden.“
„Das ist eine Frage, die wir uns bis heute alle gestellt haben“, sagte nun Rat Geshkan. „Wer ist in der Lage, in den Pass vorzustoßen, an den Stellungen der Gegner vorbeizuschleichen und dann an einem Ort eine Schneelawine auszulösen, die den Pass verschließt?“
„Und?“, fragte ich und ahnte im selben Moment schon die Antwort.
„Die fraglichen Personen stehen vor mir“, sagte er und deutete mit einer Handbewegung auf mich und meine Freunde. „Sie werden das übernehmen!“
Den harschen Empfang, den Fürst Malbraan uns in seiner Hauptstadt bereitet hatte, machte er wieder wett. Er brachte uns auf seine Kosten im teuersten Gasthof unter. Vier Zimmer waren für uns reserviert, und eine reichhaltige Mahlzeit wartete bereits, als wir dort eintrafen. Vorher hatte man uns die Waffen zurückgegeben und uns versichert, die Pferde würden in einem Stall außerhalb der Stadtmauern bestens versorgt. Sie stünden jederzeit für uns bereit.
Nachdem wir zugestimmt hatten, die Reise nach Norden anzutreten, war Malbraan geradezu überfreundlich geworden. Von den Kurrethern konnte man das nicht behaupten. Sie schienen es für selbstverständlich zu halten, dass wir uns nicht verweigerten. Niemand stellte uns die Frage, warum wir überhaupt nach Andalach gekommen waren. Vermutlich wollte Fürst Malbraan einem Konflikt mit Borran aus dem Weg gehen, indem er dieses Thema mied.
Zwischen uns vieren herrschte Einigkeit darüber, den Pass zumindest in Augenschein zu nehmen. War alles so, wie man es uns geschildert hatte, würden wir versuchen, ihn vorübergehend zu schließen. Die Idee, zu diesem Zweck eine Lawine loszutreten, war gut, denn dann würde die für den Handel wichtige Verbindungsstraße nach der Schneeschmelze wieder frei sein.
Nun saßen wir in meinem Zimmer beisammen und besprachen unser weiteres Vorgehen bei einer Flaschen Wein. Wir entwickelten uns zu Kennern und studierten das Etikett aufmerksam. Die Hauptstadt Andalach lag zwar bereits zu weit nördlich für den Weinanbau, trotzdem trug die Abfüllung ihren Namen. Vermutlich zu Ehren des Fürsten, der hier residierte. In Vinheim, wo wir gewesen waren, gab es zwar noch Weinberge an den Südhängen entlang des Sall, aber dort wurden keine guten Qualitäten mehr gewonnen. Die Stadt hatte es geschafft, ihren Namen bekannt zu machen, weil sie den Weinhandel an der Straße nach Dongarth an sich gezogen hatte. Daher stammten ihr Reichtum und ihr Einfluss.
Wirklich strittig unter uns war nur, ob es sich bei Rat Murpuna um einen Mann oder um eine Frau handelte.
„Eindeutig eine Frau!“, beharrte ich, als wir Stunden später unsere Erlebnisse besprachen.
„Ich habe noch nie von einem weiblichen Kurrether gehört“, beharrte Martie auf seinem Standpunkt.
Serron dagegen sagte, es gebe Gerüchte, dass auch in der Hauptstadt einige Frauen seien. Aber sie kleideten und verhielten sich wie Männer und hatten dunkle Stimmen, so dass man nie sicher sein könne.
Während wir darüber sprachen, klopfte es an der Tür. Ein Diener des Gasthauses fragte, ob wir einen Besucher empfangen würden. Dessen Name sei Nerran Seibald und er gehe davon aus, dass er erwartet werde.
Wir sahen uns fragend an. Ich sagte dem Diener, der Besucher möge sich gedulden, ich werde zu ihm hinunter in den Gastraum kommen.
„Wer kann das sein?“, fragte ich.
Serron grinste und antwortete: „Dein Gedächtnis reicht nicht weit, Aron. Du hast die verschlossene Nachricht vergessen, die dir Romeran übergeben hat. Du sollst sie in Andalach öffnen. Es gibt hier einen Kontaktmann des Fürsten Borran.“
Ich schlug mir mit der flachen Hand gegen die Stirn und durchsuchte die Innentaschen meiner Jacke, bis ich den kleinen Umschlag fand. Nachdem ich ihn geöffnet hatte, las ich halblaut den kurzen Text vor, der dort stand: „In Andalach lebt ein Mann, der sich Ihnen gegenüber Nerran Seibald nennen wird. Suchen Sie nicht nach ihm, Sie werden ihn nicht finden. Wenn er zu Ihnen kommt, fragen Sie ihn nach Romerans Stock. Er wird antworten, der Stock sei so gerade wie Romeran selbst; das ist die Kennung. Nerran Seibald ist ein Magi, der an der Akademie ausgebildete wurde. Er soll herausfinden, ob bei den Angriffen im Norden Magie im Spiel ist. Er wird Ihnen berichten, was er weiß, aber Sie nicht begleiten. Er hat wichtigere Aufgaben. Verbrennen Sie diesen Brief.“ Darunter war das seltsame Zeichen, das Fürst Borran manchmal anstelle einer Signatur benutzte.
Ich reichte das Papier an Gendra weiter, die es in den Kamin warf. Dort flackerte ein Feuer, denn die Nächte in Andalach waren schon kalt. In einem teuren Gasthof wie diesem erwartete man nicht, dass sich die Gäste in Decken hüllten und in dicken Federbetten schliefen. Man heizte abends ein.
Ich holte unseren Gast unten ab und führte ihn in unser Zimmer. Er war ein kleiner, schlanker Mann von Ende dreißig, der wirkte, als sei er ein verschüchterter Schreiber im Kontor eines großen Handelshauses. Intelligent, aber ohne Ambitionen oder besondere Talente.
„Bevor Sie fragen“, begann er und lächelte kurz, „lassen Sie mich die Sache mit Romerans Stock erklären. Dass er sich so gerade hält wie sein Stock, ist ein Scherz, den ich mehrfach ihm gegenüber geäußert habe. Er ist stolz darauf, in seinem Alter noch so aufrecht dazustehen, auch wenn er das nicht zugeben mag.“
Ich nickte und bot Seibald ein Glas Wein an, das er aber ablehnte.
„Sie sind Magi“, sagte ich. „Welche Fähigkeiten haben Sie? Kampf, Verblendung, Magieabwehr oder sind Sie gar ein Seher?“
„Nichts von alledem“, antwortete er. „Fürst Borran hat mich nach Andalach geschickt, weil ich viele Arten von Magie ein wenig beherrsche. Vor allem jedoch, weil ich sie in anderen Menschen erspüren kann. Er hat den Verdacht, dass bei den Angriffen aus den Kaltlanden auch Magie mit im Spiel ist. Obwohl man bisher davon ausgegangen ist, dass primitive Völker wie die Kaltländer nicht in der Lage sind, magische Talente so weit zu entwickeln, dass sie praktisch anwendbar sind.“
„Und was haben Sie bisher herausgefunden?“, fragte ich.
„Magie spielt eine erhebliche Rolle, aber ich weiß nicht, welche“, antwortete er. „Es scheint eine größere Gefahr für die Ringlande zu bestehen, als wir bisher ahnen konnten.“
„Welche Art von Gefahr?“, hakte ich nach.
„Es könnte um unsere Existenz gehen. Denn die Kaltländer selber sind inzwischen besorgt über das, was geschieht.“
„Ich dachte, sie sind diejenigen, von denen die Angriffe ausgehen“, sagte ich. „Sie dringen von Norden her durch das Ringgebirge zu uns vor, zerstören und plündern. Dabei versuchen sie, so weit nach Süden zu gelangen, dass sie die Goldschmelze in Gandacker unter ihre Kontrolle bringen können.“
„So sieht es aus. Aber es gibt mindestens zwei Gruppierungen unter den Kaltländern. Die eine greift uns an und die zweite will Frieden. Ich bin unter anderem auch hier in Andalach, weil ich die Händler aushorche, die bisher Waren mit dem Norden ausgetauscht haben. Die wissen allerdings auch nicht viel über die Verhältnisse dort, vor allem nichts darüber, wer die Macht hat.“
Es war mir bisher nicht in den Sinn gekommen, dass das unkultivierte, kriegerische Volk nördlich des Ringgebirges nicht geeint sein könnte. Wir lebten in den Ringlanden und waren, bei allen Unterschieden zwischen den Provinzen, alle Ringländer. Ebenso, dachte ich, würden alle Kaltländer ein Volk bilden, das allerdings rückständig war und in einfachen Dörfern hauste.
„Es ist Ihre Aufgabe“, fuhr Nerran Seibald fort, „festzustellen, ob nur einige der Kriegsfürsten der Kaltländer die Trupps von Plünderern zu uns schicken. Oder wie auch immer man die Anführer bei denen nennt. Ich konnte nicht einmal in Erfahrung bringen, ob sie einen König haben oder eine ähnliche Instanz. Eine weitere Aufgabe für Sie ist es, herauszufinden, ob die Kaltländer ihr Magiesystem so weit entwickelt haben, dass sie es gegen uns einsetzen können.“
„Was meinen Sie damit?“
„Verfügen sie über Kampfmagier? Haben sie Seher, die Bewegungen des Gegners ahnen? Stellen sie magisch verstärkte Waffen her? Oder ...“ Nerran Seibald beugte sich vor und sagte leiser als bisher: „... verfügen Sie gar über eine Möglichkeit, den Schutz des Berges Zeuth vorübergehend außer Kraft zu setzen?“
Dieser Gedanke schockierte uns alle. Für einem Moment schwiegen wir.
Dann fragte ich: „Gibt es Hinweise darauf?“
„Die Kaltländer sind erfolgreicher, als es zu erwarten wäre. Es muss Gründe dafür geben. Finden Sie sie heraus.“
„Wie groß schätzen Sie die Gefahr für die Ringlande ein?“, fragte Serron, der sich bisher zurückgehalten hatte.
Nerran Seibald lächelte und antwortete: „Ich gebe Ihnen nicht meine Einschätzung, sondern diejenige der Kurrether. Der königliche Rat Geshkan ist von Dongarth nach Andalach geeilt und berät sich mit dem Fürsten. Und die Kurrether haben etwas getan, was einmalig sein dürfte: Sie haben eine Zauberin in die Ringlande geholt.“
„Eine was?“, fragten wir alle durcheinander.
„Eine Zauberin. Oder Hexe. Oder Magierin. Ich weiß nicht, wie unter ihresgleichen Menschen mit einer solchen Begabung heißen. Sie ist direkt nach ihrer Ankunft in Andalach in den Vorstand der Gilde der Erzgewinner und Minenbetreiber aufgenommen worden.“
„Rat Murpuna ist eine Magierin?“, rief ich laut.
„So ist es. Und sie ist vermutlich aus demselben Grund hier wie ich. Aber ich muss jetzt gehen. Versuchen Sie nicht, mir zu folgen oder zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal Kontakt mit mir aufzunehmen. Es wird Ihnen nicht gelingen und falls doch, wäre es für mich gefährlich. Ich wünsche Ihnen viel Glück.“
Wie gelähmt sah ich zu, wie er aufstand und mein Zimmer verließ. Vielleicht war ich sogar magisch gelähmt, denn es ging nicht nur mir so, sondern auch meinen drei Freunden. Als wir schließlich hinunter rannten in den Gastraum, um Nerran Seibald noch ein paar Fragen zu stellen, starrte man uns dort erstaunt an. Niemand konnte sich erinnern, ihn gesehen zu haben.