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Das Doppel- leben des Dr. Knie Auf der Piste: Der Mannschaftsarzt
ОглавлениеSamstag, 12. Januar 2019, Skiweltcup im Slalom und Riesenslalom in Adelboden, Schweiz: Der deutsche Skirennfahrer Stefan Luitz liegt 0,22 Sekunden im Rückstand zu seinem führenden Konkurrenten Henrik Kristoffersen aus Norwegen. Im Finale an diesem Tag fährt er »voll auf Angriff«. Das geht gründlich schief. Schon wenige Sekunden nach dem Start rutscht Luitz auf dem vereisten Chuenisbärgli weg und bleibt mit dem linken Arm auf der Piste hängen. Ein Helikopter bringt den 26-jährigen Sportler ins Krankenhaus. Diagnose: eine ausgekugelte Schulter. Fünfhundert Kilometer weiter sitzt in München der Mann, der die medizinische Versorgung koordiniert: Manuel Köhne alias »Dr. Knie«. Köhne ist Orthopäde und leitender Mannschaftsarzt der deutschen Ski-Nationalmannschaft Alpin. Bei diesem Rennen hat er keinen Dienst vor Ort, hält deshalb jetzt per Telefon und Skype den Kontakt zu seinen Kollegen auf der Piste und den Ärzten in der Schweizer Klinik. Rasch stellt sich heraus, dass der Sturz relativ glimpflich ausgegangen ist. Am Montag ist Luitz bereits bei Köhne in der OCM-Klinik. Weitere Untersuchungen wie eine Magnetresonanztomografie (MRT) sollen Aufschluss über mögliche Verletzungen nach dem Sturz geben. Hier kann Köhne grünes Licht geben – Luitz ist wieder voll einsatzfähig.
Freitag, 30. November 2018: Luitz’ Kollege, der 25-jährige Thomas Dreßen, geht beim Skiweltcup im amerikanischen Beaver Creek an den Start. Auf dem Weg zur neuen Bestzeit verkantet sich Deutschlands bester Speedfahrer nach 44 Sekunden mit seinen Skiern auf der legendären Weltcupstrecke »Birds of Prey« – und landet mit 125 Stundenkilometern im Fangzaun. Bilder, die schon beim Zusehen wehtun. Zu Hause in München verfolgt Manuel Köhne mit acht Stunden Zeitverschiebung das Rennen am späten Abend vor dem Fernseher. Er ahnt sofort: Da kommt Arbeit auf ihn zu. Dreßen wird mit einem Rettungsschlitten abtransportiert und in die Steadman-Klinik nach Vail gebracht.
Das hässliche Souvenir für den Topathleten aus Mittenwald: eine ausgekugelte Schulter – und ein Riss des vorderen Kreuzbandes im rechten Knie. Das bedeutet das sofortige Saisonaus für den 25-Jährigen. Der Sportdirektor der Ski-Nationalmannschaft telefoniert noch in der Nacht mit Köhne und kündigt Dreßen als Patienten an. Da der Sportler transportfähig und seine Erkrankung nicht lebensbedrohlich ist, fliegt er am nächsten Tag mit einer ganz normalen Linienmaschine nach Deutschland – in der Businessclass und mit hochgelagertem Bein. In München angekommen, fährt er direkt zu Köhne in die OCM-Klinik, wird gründlich untersucht und bereits am nächsten Tag mit einer neuen, innovativen Technik operiert. Dreßen wird die Quadrizepssehne aus dem Oberschenkel entnommen und als Kreuzbandersatz eingesetzt. Bereits nach zwei Tagen beginnen die ersten physiotherapeutischen Maßnahmen wie Aufstehen, Gangschulung sowie Lymphdrainage in der Klinik. Nach dem Abschwellen des Knies geht es für Dreßen in eine Rehaklinik in München. Im August 2019 kann der Topathlet schließlich wieder zum Training auf Schnee gehen.
Für Köhne ist eine Diagnose auch immer eine emotionale Gratwanderung und erfordert sehr viel Fingerspitzengefühl in der Kommunikation: Da sind auf der einen Seite Fans, Zuschauer, aber auch Sponsoren, die aus unterschiedlichen Gründen schnellstmöglich Bescheid wissen wollen, die Presse ist hungrig auf jedes Detail; und auf der anderen Seite stehen ein Athlet, der um eine mögliche Ausfallzeit zittert, und natürlich auch Angehörige, die sich zu Hause große Sorgen machen. Umso glücklicher ist er deshalb auch, wenn ein Patient mit von ihm operierten Kreuzband »einen Sieg erringt«. So geschehen bei der 30-jährigen Skicrosserin Heidi Zacher, die ein Jahr nach einem Kreuzbandriss auf der gleichen Strecke in Idre Fjäll in Schweden eine Goldmedaille holte. Da saß Köhne mit seiner Familie vor dem Fernseher, drückte Heidi Zacher (und ihrem operierten Kreuzband) kräftig die Daumen und schickte sofort nach ihrem Sieg sehr erleichtert eine SMS an die blonde Athletin.
Februar 2018: Bei den Olympischen Winterspielen im südkoreanischen Pyeongchang ist Thomas Dreßen, kurz nach dem legendären Kitzbühel „Streif“-Sieg im Januar, auf dem ersten Höhepunkt seiner Karriere. Zusammen mit ihm und dessen Kollegen der Speedmannschaft wie Joseph Ferstl und Andreas Sander landet Manuel Köhne nach einem anstrengenden Elfstundenflug an dem Ort, der für die nächsten zehn Tage seine mobile Praxis sein wird. Außerdem dabei sind die Physiotherapeutin der Mannschaft, die Trainer, Skiserviceleute und Techniker – und jede Menge Equipment. Jeder der Topathleten reist mit einem ganzen Arsenal von Skiern an, mehrfache tägliche Wechsel der Bretter sind in dieser Liga keine Seltenheit. Übergepäck verursacht auch die Kleidung der Sportler. Neben den Trainingsanzügen für die Rennen sind feste Outfits für jeglichen Auftritt während der Spiele von den Ausrüstersponsoren vorgegeben. Bereits einige Tage vor der Olympiade waren alle Teilnehmer und Betreuer zum großen Fitting in München eingeladen. Nach der Ankunft am Flughafen werden die Massen an Gepäck mit einem Lkw ins rund vier Stunden von Seoul entfernte Mannschaftshotel gebracht, Crew und Betreuer reisen mit dem Bus weiter.
Gegen Mittag trifft das gesamte Team im Mannschaftshotel direkt an den Wettkampfstätten in Jeongseon ein: Begrüßt werden sie von eisiger Kälte und Windböen mit bis zu 100 Stundenkilometern. Heimeliger ist es dagegen im schicken, unmittelbar vor Beginn der Spiele eröffneten Hotel mit hypermodernem Fitnessraum und einem Healthy-Food-Restaurant. Doch zum Ausruhen bleibt den Athleten wenig Zeit. Noch vor der offiziellen Eröffnung der Olympiade finden die ersten Trainings statt. Köhne trifft viele seiner Kollegen aus aller Welt, die er teilweise schon seit Jahren kennt. Zu Großereignissen wie diesen reisen in der Regel immer dieselben Mediziner an. Jede Nation, die mehrere Teilnehmer bei der WM hat, schickt auch ihre eigenen Teamärzte mit.
Für das deutsche Team sind neben Köhne noch vierzehn weitere Kollegen der olympischen Wintersportverbände vor Ort. Im Gepäck haben sie für den Notfall auch starke Schmerzmittel sowie Narkosemedikamente. Jeder Teamarzt wohnt unmittelbar in der Nähe seines zu betreuenden Teams, aufgeteilt auf die verschiedenen Wettkampfstätten im Land mit teilweise mehr als sechzig Minuten Distanz zueinander. Jeder Arzt hat mit anderen Herausforderungen und sportarttypischen Unfallgefahren zu kämpfen. Und könnte teilweise auch selbst zum Unfallopfer werden, gerade bei Abfahrtsläufen. Bei einem Sturz muss Köhne beispielsweise in Windeseile mit einem Rucksack voller Medikamente die teilweise extrem steile und vollständig vereiste Piste herunterfahren. Deshalb gehört zu den Einstellungskriterien neben den medizinischen Skills auch immer eine mehrjährige Ski-Erfahrung.
Beim ersten »Doctors Meeting« der Skifahrer trifft man die offiziellen Rennärzte, die aus der Region kommen und guten Kontakt zum Rettungsdienst sowie den örtlichen und überregionalen Kliniken haben. Die Strecke wird genau erklärt, jede Kurve benannt und besprochen. Wichtig vor allem: Wo sind die Rettungswege und wie wird der Patient befördert? Meist kommt gerade in den steilen Passagen ein Hubschrauber zum Einsatz, teils auch mit Seilwinde, da hier ein Akia (Wannenschlitten) nur schwer beladen werden kann. Alle wichtigen Telefonnummern werden ausgetauscht und die Abläufe des Notfalls genau besprochen, zum Beispiel:
Wann darf der Teamarzt auf die Strecke? Welche Medikamente werden bei bestimmten Verletzungen verabreicht? Kann der Teamarzt im Hubschrauber mitfliegen? Wo ist die beste Versorgung für die jeweiligen Verletzungsmuster? Wo können die Leichtverletzten untersucht werden?
Ärztemeetings finden an jedem Tag statt, an dem offizielle Trainings oder Rennen anstehen. Danach begleitet Köhne seine Mannschaft weiter durch den Tag. Mittagessen, kurze Pause, Konditionstraining auf dem Ergometer oder mit dem Ball. Für den Münchner Orthopäden ist Pyeongchang eine ruhige Olympiade. Schwere Verletzungen gibt es nicht zu versorgen. Das liegt unter anderem daran, dass die Strecke als nicht besonders anspruchsvoll gilt. Erkältungen sind dagegen bei Temperaturen von minus 10 bis minus 20 Grad an der Tagesordnung und fordern das Immunsystem von Athleten und Betreuern.