Читать книгу Handbuch des Strafrechts - Manuel Ladiges - Страница 21
3. Gerechtigkeit als Ziel des Strafprozesses
Оглавление9
Soweit die „Gerechtigkeit“ als Ziel des Strafverfahrens postuliert wird,[26] ist dies zwar ein hehres Ziel, und die Gerechtigkeit mag im Einzelfall auch einmal (dann aber wohl auch mit präziseren Begriffen umschreibbar) gewisse unhintergehbare Grenzen des Prozessrechts markieren;[27] als operabler Maßstab positive Inhalte festzusetzen vermag sie dagegen in den meisten Fällen nicht. Dies gilt selbst dann, wenn man den allgemeinen Gerechtigkeitsgedanken – etwa in der klassischen und bis heute in der abendländischen Kultur wirkmächtigen Differenzierung nach Aristoteles – etwa zwischen austeilender und ausgleichender Gerechtigkeit (iustitia distributiva und iustitia commutativa) weiter ausdifferenziert. Einen stärkeren Bezug zum Strafverfahren mag man einem dritten Gerechtigkeitsaspekt zubilligen, der etwa bei Coing als „iustitia protectiva“ bezeichnet wird und besagt, dass alle Macht von Menschen über alle Menschen begrenzt sein müsse.[28] Indes ist auch dieser Gesichtspunkt positiv-rechtlich wohl schärfer an der Geltung von Grundrechten gegen staatliche Eingriffe im Strafverfahren festzumachen.
10
Neben dieser „Verfahrensgerechtigkeit“ spielt auch der materielle Aspekt eines gerechten Prozessergebnisses eine Rolle. Dieser weist untrennbare Bezüge zu den vorher genannten Prozesszielen der Verwirklichung des materiellen Strafrechts und der Wahrheitsermittlung auf: Ob nämlich die Behandlung eines Straftäters „angemessen“ erscheint, richtet sich zunächst und in erster Linie nach den Strafdrohungen, die das materielle Strafrecht für bestimmte Verhaltensweisen aufstellt. Nur wenn diese „gerecht“ erscheinen, kann der Strafprozess insoweit zu einem gerechten Ergebnis führen; soweit sie als „ungerecht“ empfunden werden, bleibt dem Richter aufgrund der in Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG statuierten Gesetzesbindung nur ein geringer Spielraum, eine „gerechtere“ Entscheidung zu treffen. Weiterhin ist für eine gerechte, d.h. hier also „den jeweiligen Eigenarten des Täters angemessene“ Strafe neben der abstrakten Strafdrohung für ein bestimmtes Verhalten in den Tatbeständen des Besonderen Teils auch die Strafzumessung von Bedeutung; diese muss insbesondere die persönliche Vorwerfbarkeit beim Täter berücksichtigen, wie es in § 46 Abs. 1 S. 1 StGB zum Ausdruck kommt. Da aber eine materiell strafrechtliche Norm nur das Verhalten gerecht sanktionieren soll und kann, das tatsächlich vorgelegen hat, und auch nur die Schuld Grundlage der Strafe i.S. des § 46 Abs. 1 S. 1 StGB sein kann, die der Täter tatsächlich auf sich geladen hat, liegt auf der Hand, dass ein gerechtes Urteil grundsätzlich vor allem ein solches ist, dem die bestmöglich ermittelte Wahrheit zugrunde liegt.[29]
11
Auseinanderlaufen könnten diese beiden Zielvorgaben, wenn im Interesse anderer Rechtsgüter auf die (vollständige) Wahrheitsermittlung bzw. -verwertung verzichtet wird (vgl. soeben Rn. 8). Denn darin könnte man zwar eine Einschränkung der Wahrheitserforschung, nicht aber der Suche nach Gerechtigkeit sehen, wenn man diese Einschränkungen gerade für „gerecht“ hält. Allerdings erscheint es sachgemäßer, als Anknüpfungspunkt für eine „gerechte“ Entscheidung nur das Tatgeschehen zu wählen (vgl. o.) und deshalb in den genannten Fällen zugleich einen Verzicht auf eine „gerechte“ Entscheidung anzunehmen, so dass es auch keine „Gerechtigkeit um jeden Preis“ gibt.[30] Auch die Gerechtigkeit umfasst damit nicht alle von einem Strafprozess potentiell betroffenen Interessen in dem Sinne, dass bei ihrer Beachtung keine Einbußen für andere Interessen mehr entstehen könnten. Vielmehr ist es gerade die Aufgabe des Strafverfahrensrechts, die Anforderungen von Wahrheit und Gerechtigkeit mit dem Schutz der vom Strafprozess bedrohten Rechtsgüter in einen angemessenen Ausgleich zu bringen.