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Wie Currywurst und Pommes im Mutterleib schmecken

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Italienerinnen der Generation meiner Mutter – also in den 1930er- Jahren geboren – kochten sehr unterschiedlich. Eine unsichtbare kulinarische Grenze verlief unterhalb der Po-Ebene. Nördlich davon verwendeten die Köchinnen Butter, ausschließlich raffiniertes Olivenöl, weil milder im Geschmack, Eiernudeln, Reis, Parmesan und auch Schweinefleisch. Südlich dieser Grenze war nur kaltgepresstes Olivenöl als Fett im Einsatz. Hartweizennudeln bildeten die Ernährungsgrundlage, dazu Pecorino als Reibkäse und meistens Rindfleisch. Das Hauptnahrungsmittel der Po-Ebene war bis zur Industrialisierung der Landwirtschaft Polenta, also ein Brei aus Maisgrieß. So nennt man die Bewohner dieses Teils Italiens die Polentoni, also Polentafresser. Und so wurde auch ich im Mutterleib gefüttert, als Polentona.

Der Fötus ist eine unglaublich ausgeklügelte Baustelle: Tag für Tag wächst und funktioniert sie sofort. So ist auch das Nervensystem bereits ab der achten Schwangerschaftswoche rudimentär aktiv. Das sieht man an den Spontanbewegungen des Ungeborenen, an den ersten Reflexen (Greifreflexen), die vierzehn Tage später auftreten und gut im Ultraschall zu beobachten sind. In der Fruchtblase ereignet sich aber allerlei, das man von außen nicht sieht: Etwa beginnt der Fötus im fünften Monat zu hören41! Spielt man ihm ein Geräusch vor, reagiert er mit beschleunigter Herzfrequenz und Bewegungen. Geschieht es des Öfteren, reagiert er nicht mehr mit der gleichen Intensität, weil er das Geräusch »kennt«. Somit lernt er seine Umgebung zuerst akustisch kennen: die Stimme der Mama, die vom Papa, der Geschwister, vom Hund, den Lärm der Müllabfuhr in der Nacht. All das geht durch das Fruchtwasser durch und wird zur gewohnten Geräuschkulisse, die sich im Lauf der Monate zum beruhigenden Herzschlag der Mutter gesellt. Deswegen schlafen Babys ja so gut, selbst wenn alles um sie herum laut ist.

Die erste Schule des Lebens ist der Mutterleib. Im Gehirn des Fötus vernetzen sich Neurone. Sie sind eine besondere Art Zellen. Sobald sie stimuliert werden, wachsen ihre Fortsätze, die Dendriten und das Axon. Die Dendriten, mit denen die Zelle aus anderen Zellen Information empfängt – sozusagen ihre »Antennen« – werden länger und verzweigter, gleiches gilt auch für das Axon, das »Sprachrohr« der Zelle, das Information zu anderen Zellen überträgt. Lernen geschieht, wenn Information aus der Außenwelt das kindliche Gehirn erreicht und die Neurone sich vernetzen.


Neuron

Hört der Fötus im Mutterleib die Stimme seiner Mama, verlängern sich diese Fortsätze in der Hörrinde. Das ist jener Bereich der Gehirnoberfläche über den Ohren, der für die Stimmverarbeitung zuständig ist. Dass Zellen untereinander kommunizieren, ist aber erst möglich, wenn auch am Axon und den Dendriten Kontaktstellen, die sogenannten Synapsen, entstehen: Nur an der Synapse kann das Signal von Zelle zu Zelle übergehen. Je öfter der Fötus eine Stimme hört, desto »stärker« werden Dendriten, Axone und Synapsen. Miteinander bilden sie ein Netzwerk, welches als einzigartiges Muster eine Stimme oder ein Geräusch im Gehirn repräsentiert. Nicht nur das: Diese Zellen, die sich zum Netzwerk für die Stimme der Mama formiert haben, kommunizieren untereinander: Man sagt dazu, sie »feuern« besonders heftig, wenn der Fötus sie hört. Mit anderen Worten sind sie nicht nur anatomisch ein Netzwerk, sondern funktionieren auch als solches. Eine einzige Zelle in der Hörrinde kann »nichts«. Sie kann erst im Verband viel, wenn sie vernetzt ist. Übrigens: Weil die Mama-Stimme so wichtig ist, wird sie besonders gut gespeichert. Durch die Knochen und insbesondere durch das Becken wird sie »verstärkt«, daher intensiver wahrgenommen und als stabiles Muster abgelegt, während Geräusche und andere Stimmen aus der Außenwelt durch das Fruchtwasser nur gedämpft ankommen. Aber auch sie bilden Netzwerke.

Als ich das Licht der Welt erblickte, erkannte ich bereits die Stimme meiner Mamma. Die Voraussetzungen, um gut auf dieser Welt zu funktionieren, waren bei mir allerdings nicht optimal. Ausgerechnet in den letzten drei Monaten der Schwangerschaft entstehen besonders viele Dendriten, sie verästeln sich, die Axone wachsen und sie werden dicker. Diesen Vorgang nennt man »Arborisierung«. Wie nicht anders zu erwarten, bilden sich auch die Synapsen in der 34. Woche auf Hochtouren, circa 40.000 pro Sekunde. Bei einem solchen anatomischen Wachstum faltet sich die Rinde, denn sie hat im kleinen Babyschädel immer weniger Platz. Der Kopf darf sich seinerseits nicht vergrößern, denn er muss den Geburtskanal passieren. Alles ganz schön ausgeklügelt von der Evolution!

So lernt der Fötus im Mutterleib viel mehr, als wir vermuten, zum Beispiel Geschmack42. Ab dem fünften Monat beginnt er Fruchtwasser zu schlucken, seine erste Mahlzeit sozusagen. Sie erreicht die Zunge und die Mundhöhle, in der sich ab der zehnten Woche funktionsfähige Geschmacksrezeptoren entwickeln, also Andockstellen für chemische Substanzen, die im Fruchtwasser enthalten sind. Diese Rezeptoren unterscheiden zwischen salzig, süß, bitter, sauer und umami, dem Geschmack der Fleischbrühe, wie man ihn im Japanischen bezeichnet. Werden die Rezeptoren durch das Fruchtwasser aktiv, schicken sie ein Signal an die Insel, jene Region im Gehirn, die Geschmack verarbeitet. Ihre Neurone verbinden sich zu Netzwerken für das »Geschmeckte«. So hat jeder Geschmack eine Repräsentation im Gehirn, ein Muster. Interessant ist die Beobachtung, dass Kinder im Mutterleib bereits Präferenzen haben: Süß mögen sie gleich, an einen Bittergeschmack müssen sie sich erst gewöhnen. Bereits in den 1930er-Jahren des vorigen Jahrhunderts führte DeSnoo, ein holländischer Wissenschafter, Experimente zu Vorlieben im Mutterleib durch. Er leitete eine süße und eine bittere Lösung in das Fruchtwasser ein. Bei der süßen schluckten die Föten mehr Fruchtwasser, bei der bitteren gar nicht43. Die natürliche Präferenz für Süßes ist möglicherweise evolutionär darauf zurückzuführen, dass Früchte, die zuckerhaltig sind, mehr Kalorien für das Wachstum bereitstellen. Bitter signalisiert hingegen, dass die betreffenden Früchte oder Pflanzen giftig sein können44. Abhängig von den Lebensmitteln, die von der Schwangeren gegessen werden, bekommt das Kind die geschmackliche Feineinstellung, die Anpassung an die Umwelt, in die es geboren wird. So isst das Kleine gerne, was ihm gereicht wird. Das ist verständlich und gut so, denn die Nahrung der Inuit in Grönland hat sich bis vor 100 Jahren stark unterschieden von jener der Massai in Kenia. Die Kleinen hier wie dort müssen damit zurechtkommen.

Wie zu erwarten, verstärkt eine zuckerreiche Ernährung der Mutter die natürliche Prädisposition für Süßes im Kind. Ob meine Liebe zu Gemüse schon im Mutterleib entstanden ist? Ich habe bestimmt eine vorgeburtliche Erfahrung mit dem bitteren Löwenzahnsalat gemacht, der bei uns im Aostatal im März nach der Schneeschmelze auf den Kuhweiden geerntet wird. Meine Mamma bereitete ihn als Salat zu, mit Schalotten, hartgekochten Eiern von der Oma, grob gemahlenem schwarzen Pfeffer und Olivenöl, aber auch als gekochtes Gemüse, in Butter geschwenkt und mit Parmesan überbacken. Heute dünge ich meinen Garten nicht, damit auch der Löwenzahn frei von Phosphaten wächst und ich ihn mir nach der Familientradition zubereiten kann: So entstehen Vorlieben für den einen oder den anderen Geschmack bereits im Mutterleib!

Iss dich klug!

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