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Eine Schwangere soll für zwei essen

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Meine Nonna (Oma) Irene war eine kleine Bergbäuerin im italienischen Aostatal. Ihre Wiesen waren karg und abschüssig. Ihr Gemüse baute sie auf Terrassen an, die von Trockenmauern gestützt, mühsam mit einem umgeleiteten Bach bewässert wurden. Sie belieferte uns mit allem, was wir brauchten: Gemüse, Obst, Eier, Wurst, Suppenhühner und Kaninchenfleisch. Als meine Mutter mit mir schwanger wurde – damals eine Spätgebärende, weil 33 –, fing Nonna Irene an, Wachteln zu züchten, in der Meinung, meine Mutter müsse öfter Fleisch essen: Zwei oder drei Wachteln in der Woche zu schlachten, sei ja kein großer Aufwand für sie, ja, für die Oma.

Eine Schwangere soll für zwei essen, heißt es. Diese Vorstellung stammt aus einer Zeit, als die Menschen von einer Mahlzeit nicht satt wurden. Dass ich es im Mutterleib nicht länger als sechseinhalb Monate aushielt, lag bestimmt nicht an der Ernährung meiner Mutter, die sehr abwechslungsreich, und man würde heute sagen »bio«, war. Meine Mamma behauptete, ich sei früher auf die Welt gekommen, weil ich zu neugierig war, um im Mutterleib zu bleiben. Schön gesagt. Gut war es für mich aber nicht. Mein Frühchen-Gehirn war nach sechseinhalb Monaten nicht so entwickelt wie jenes eines Babys, das neun Monate im Bauch seiner Mama verweilen darf. Mein Gehirn war kleiner, und vor allem war die Rinde, also die Oberfläche, die in den letzten drei Monaten vor der Geburt dicker wird, bestimmt noch relativ dünn und glatt, wenig gefaltet. Dies führt nicht selten zu Problemen in der kindlichen Entwicklung, zum Glück wusste meine Familie nichts davon.


Gehirnrinde (Kortex) und ihre Funktionen

Die Oberfläche unseres Gehirns, auch Kortex genannt, lateinisch für Rinde, besteht aus besonderen Zellen, den Neuronen. In sechs Schichten angeordnet, bilden sie eine Landkarte dessen, was wir sind, wissen und können. Für das Baby ist sie die Basis für sein künftiges Leben. Nachvollziehbar ist, dass die beste Entwicklung nur durch einen neunmonatigen Verbleib im Mutterleib gegeben ist. Im Fötus bildet sich die Rinde aus Stammzellen, also Zellen, die noch in einem »Rohzustand« sind. Aus dem Neuralrohr kommend, einer Struktur in der Tiefe des Gehirns, wandern sie – man sagt dazu »migrieren« – in jene Region des Kortex, wofür sie vorgesehen sind1. Erreichen sie ihre Bestimmungsorte, differenzieren sie sich: Sie werden zu Neuronen für unsere Sinne, also für Seh-, Gehör-, Riech-, Geschmacks- und Tastsinn sowie das Gleichgewicht, aber auch für Bewegung, Sprache, Denken, Lernen und Fühlen – für all das, was wir sind, wissen und können. Die »Zellproduktion« wird ab der siebten Schwangerschaftswoche auf 1.000 Neurone pro Minute hochgefahren. Bis zum Ende des neunten Monats müssen es ja um die 100 Milliarden werden. Während der fötalen Entwicklung ist unser Gehirn eine Großbaustelle, die ordentlich über die mütterliche Nahrungsaufnahme versorgt gehört.

Zur optimalen Ernährung des Babys im Mutterleib sind im Lauf der Jahrzehnte zahllose Vorschläge gemacht worden. Sie beziehen sich aber auf die allgemeine körperliche Gesundheit des Fötus, somit auch auf jene seines Gehirns als Organ, allerdings nicht auf die Auswirkungen der Ernährung auf die kognitiven – also geistigen – Fähigkeiten oder auf die Psyche des Kindes. Alle Ernährungsvorschläge richten das Augenmerk auf Lebensmittel, die Folsäure, Vitamine, Eisen, Jod, Kalzium und andere Spurenelemente enthalten. Unter diesen Substanzen ist Folsäure für die Entwicklung des kindlichen Gehirns tatsächlich unentbehrlich. In Lebensmitteln als Vitamin B9 vorkommend und künstlich als Folsäure hergestellt, unterstützt ihre Einnahme die Teilung und das Wachstum von Zellen. Dieses Spurenelement wird meistens am Anfang der Schwangerschaft als Nahrungsergänzung empfohlen, um das Risiko von Fehlbildungen des Neuralrohrs zu reduzieren. Bei Wirbeltieren ist das Neuralrohr jene Struktur, die im Lauf der fetalen Entwicklung zum zentralen Nervensystem wird, somit auch zum Gehirn.

Fehlbildungen des Neuralrohrs finden in den ersten vier Schwangerschaftswochen statt: Sie betreffen das Rückenmark, das sich spalten kann (Spina bifida), aber auch das Gehirn selbst, in dem noch wesentliche Teile, wie die Gehirnhäute, fehlen oder unterentwickelt sind (Anenzephalie). Kinder, die mit dieser Art von Fehlbildung auf die Welt kommen, überleben nur einige wenige Stunden. Um Neuralrohrdefekte zu reduzieren, werden in den USA und Kanada seit Mitte der 1990er-Jahre Mehl und Getreideprodukte mit Folsäure angereichert. Dadurch sind die Zahlen der Fehlbildungen auch nachweislich zurückgegangen2. Arme Länder hingegen, die aufgrund der Mangelernährung, aber auch der geringeren Möglichkeit, von Nahrungsergänzung Gebrauch zu machen, verzeichnen weiterhin diese Fehlbildungen des Nervensystems3. In Fachpublikationen wird in über 170 Ländern weltweit eine verpflichtende Zufuhr von Folsäure in Getreideprodukten empfohlen: Darunter fallen auch Deutschland, Österreich, die Schweiz und weitere europäische Länder4. Die Einnahme von Folsäure senkt ebenfalls das Risiko für Tumore im Gehirn und in der Wirbelsäule bei Kindern, wie ein Übersichtsartikel5 beschreibt. Vitamin B9 kann auf natürliche Art durch Weizenkeime, dunkelgrünes Gemüse und Hülsenfrüchte aufgenommen werden, idealerweise gemeinsam mit Vitamin B126. Letzteres ist am meisten in Innereien wie Leber und Niere, aber auch in Austern, Makrelen, Rindfleisch, Milchprodukten und in gewissen Algen enthalten.


Zentrales Nervensystem


Neuralrohrentwicklung

Zur Auswirkung einzelner Vitamine und Spurenelemente im menschlichen Gehirn greift die vorhandene Literatur nur auf Beobachtungen zurück: Zum einen kann man in einer natürlichen Ernährung Vitamine nicht voneinander trennen, zum anderen dürfen Experimente mit Menschen kaum durchgeführt werden. Schwangeren ist nicht zuzumuten, dass sie komplett auf ein Vitamin verzichten, um dessen Mangel auf die Entwicklung des kindlichen Gehirns zu prüfen. Die meisten Studien finden daher mit Tieren statt. Nager, Affen oder Schweine darf man während der Trächtigkeit einseitig füttern und die Mengen der jeweiligen Substanzen oder einer bestimmten Diät exakt dosieren. Dadurch ist es möglich, die Auswirkungen unterschiedlicher Arten von Ernährung und von Ernährungsmängeln auf das Gehirn der Brut zu testen. Der Unterschied zwischen Schweinen beziehungsweise Nagern und Menschen sind einige wenige Gene, und man kann davon ausgehen, dass die Resultate auch für Menschen in einem bestimmten Ausmaß aussagekräftig sind.

Eine der zahlreichen Studien mit Farbratten – jenen gefleckten, besonders zahmen Tieren, die zwar speziell für die Wissenschaft gezüchtet, aber auch als Haustiere gehalten werden – hat gezeigt, dass sich eine Diät der trächtigen Mutter mit hochdosiertem Vitamin A auf das Belohnungssystem der Brut auswirkt: Die Jungtiere werden zurückhaltender auf die Verlockungen durch Futter und zeigen weniger Interesse an zuckerhaltiger Nahrung7. Allerdings konnte die Wissenschaft bisher die Mechanismen in der Entwicklung des Fötus noch nicht identifizieren, die zu geschmacklichen Vorlieben führen. Man weiß allerdings, dass sich Nahrung im Mutterleib auf unsere Gene auswirkt. Inwiefern? Seit vielen Jahrzehnten haben wir die Vorstellung, dass wir ein Produkt unserer Gene sind, unverrückbar nach der klassischen Genetik definiert, wie wir sie im Biologie-Unterricht über die Mendelschen Regeln der Vererbung – ja genau die Erbsenkreuzungen – gelernt haben. So erkläre ich mir, warum ich grüne Augen und Sommersprossen habe, obwohl meine Eltern braune Augen hatten und ihre Haut in der Sonne auch sofort braun wurde: Ich bin wie Oma Irene geraten, habe ihre Augenfarbe geerbt und muss mich mit Sonnenschutzfaktor 50 ausrüsten, damit ich bei meinen Radtouren nicht krebsrot werde.

Die klassische Genetik kann äußerliche Merkmale erklären, aber Charakterzüge oder Verhaltensweisen, auch Krankheiten, nicht, vor allem, wenn sie im Familienverband noch nie aufgetreten sind. Die Mendelschen Gesetze decken daher nicht die enorme Verschiedenartigkeit unseres Seins, vor allem unserer geistigen Fähigkeiten und unserer Psyche, ab. So können Kinder mit demselben Erbgut unterschiedlich intelligent und kreativ sein. Sie können auch den Hang zu Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Krankheiten unterschiedlich voneinander entwickeln. Nach der Epigenetik, der Weiterentwicklung der klassischen Genetik, müssen wir, selbst wenn Genträger, nicht jene Eigenschaft oder Charaktermerkmale haben, die mit dem Gen verbunden sind. Nicht jeder, der das Gen für Depression in seinem Erbgut hat, muss auch depressiv sein. Das Gen muss im Lauf des Lebens zum Ausdruck gebracht werden, man sagt, »exprimiert«, also eingeschaltet werden. Das Gen enthält Teilprogramme, die schrittweise zur Krankheit führen. Es beginnt mit Schlaflosigkeit, später kommen die Stimmungsschwankungen, danach eine gestörte Wahrnehmung des Erlebten, eine inadäquate Kommunikation darüber, was man möchte, und so weiter. Der Mensch verändert sich laufend. All diese Schritte in Richtung Krankheit folgen aufeinander wie das Fallen von Dominosteinen. Allerdings gibt es vor dem ersten Domino-Stein eine Art Schalter, den Promotor.


Promotor und Transkriptionsfaktoren

Er kann das ruhende Gen aktiv werden oder es weiter »schlafen« lassen, abhängig von Transkriptionsfaktoren, die sich im Promotor einlagern. Dazu gehören Umwelteinflüsse, zum Beispiel das Fehlen von UV-Licht im Erwachsenenalter, aber auch Stress. Im Mutterleib zählen zu den Transkriptionsfaktoren die Ernährung und Substanzen, welche die Mutter über die Umwelt aufnimmt, wie Gifte im Essen, (Düngemittel oder Pestizide), Alkohol, Zigarettenrauch, aber auch psychosozialer Stress, der aus Konflikten stammt.

Ganz wichtig in diesem Zusammenhang sind Vitamine: Auch sie zählen zu den Transkriptionsfaktoren. So wirkt sich Vitamin A auf die Entwicklung des Belohnungssystems aus. Es unterstützt auch die Differenzierung von Stammzellen8 und verschiedene Wachstumsprozesse wie die Verlängerung der Axone9. In der Ernährung finden wir Vitamin A hochdosiert in der Leber verschiedener Tiere, daher auch in Lebertran und in orangefarbenem Gemüse, in Süßkartoffeln, Karotten, Kürbis, Aprikosen und Mango. Es findet sich ebenfalls in hohen Mengen in Butter und Grünkohl. Ernährt sich eine Schwangere bunt und abwechslungsreich, nimmt sie ausreichend Vitamin A für sich und ihr Kind auf. Vitamin D und K braucht der Fötus zur Entstehung und Differenzierung von Stammzellen10. Auch Wachstumsfaktoren, jene Substanzen, die das Wachstum der Zellen und somit das des Gehirns unterstützen11, entfalten ihre Wirkung, wenn diese Vitamine vorhanden sind. Vitamin K ist obendrauf an der Bildung von Blutgefäßen im Gehirn beteiligt.

Dass Vitamin B6 in der fetalen Gehirnentwicklung große Bedeutung hat, mussten wieder trächtige Farbratten beweisen. Einer Gruppe Tiere wurden täglich sechs Milligramm des Vitamins verabreicht, was einer durchschnittlichen Dosis entspricht, die man über die Nahrung aufnimmt. Die zweite Gruppe bekam den Vitaminzusatz, also die fünffache Menge (30 Milligramm) vom Vitamin B6, und eine weitere Gruppe wurde auf null Milligramm gesetzt. Die Forscher fanden heraus, dass der Vitaminmangel zur negativen Veränderung von Bauplänen im Gehirn der Jungtiere führte, welche die Ausschüttung und den Transport von Botenstoffen regeln. Nicht nur Dopamin, sondern auch Serotonin – der Neurotransmitter, der uns in der Balance hält –, und GABA – Gamma Aminobuttersäure, die uns Müdigkeit empfinden lässt12, sind davon betroffen. Vitamin B6 kommt in Milchprodukten, Leber, Fisch, Weizenkeimen, Hefe, Avocado, Hülsenfrüchten, Bananen, Vollkornprodukten, Kartoffeln und grünem Kohl vor.

Die Liste der Vitamine und Spurenelemente könnte man endlos fortsetzen, und immer kämen wir zur gleichen Aussage: Ihr Mangel wirkt sich schlecht auf das Wachstum des Fötus und das seines Gehirns aus, daher auch auf seine Psyche und seine kognitiven Fähigkeiten. Allerdings ist die Dosierung der Nahrungsergänzungen mit Vorsicht zu genießen: Von Land zu Land gelten unterschiedliche Richtlinien, zum Beispiel bei Vitamin D13, oder sie ändern sich mit der Zeit, wie bei der Folsäure14. Die Grenze zwischen einer nützlichen und einer schädlichen Menge ist für Laien schwer zu unterscheiden. Die Weltgesundheitsorganisation spricht Empfehlungen aus. Vorsicht ist dennoch geboten. Überdosierung von Vitaminen, auch Hypervitaminose genannt, kommt regelmäßig vor. Nahrungsergänzungsmittel sind günstig, überall zu haben und nicht verschreibungspflichtig. In der Meinung, dass mehr vom Guten mehr Gutes bewirkt, nahmen Schwangere in Boston sogar zwischen zwei- und siebenmal der empfohlenen Dosis an Folsäure, Vitamin A, D und E ein15, so eine Studie. Das muss Auswirkungen auf den Fötus haben. Auch die Häufigkeit der Einnahme ist ein wichtiges Kriterium: Mit 1.257 schwangeren Frauen wurden die zweimalige und die fünfmalige Einnahme von einem hochdosierten Kombipräparat aus Vitamin B12 und Folsäure untersucht und die Häufigkeit wurde mit dem Vorkommen von Autismus in Verbindung gebracht, »korreliert«, sagt man in der Wissenschaft. Die zweimalige Einnahme pro Woche senkte das Risiko von Autismus, die fünfmalige Einnahme allerdings steigerte es16. So dürfen Nahrungsergänzungsmittel nur unter professioneller Beratung eingenommen werden17, denn wir können die Auswirkung der Überdosierung auf das Gehirn des Fötus noch nicht einschätzen, trotz wissenschaftlicher Fortschritte. Im Zweifel ist gesunder Menschenverstand der beste Ratgeber: Frische und natürliche Lebensmittel, die möglichst abwechslungsreich zubereitet werden, sorgen auch für die größte Variation an Vitaminen und Spurenelementen für Mutter und Kind. In ihrer »natürlichen« Verpackung, also nicht isoliert und zusammen mit komplementären Substanzen, wirken sie am besten und das schließt eine Überdosierung aus. Ja, der Aufwand ist notwendig, für die Mama, aber vor allem auch für das Kind!

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