Читать книгу Sommerfrost - Manuela Martini - Страница 6
ZWEI
ОглавлениеLyra entdeckte sie schon von Weitem. Bea, Oliver und Patrick lagerten hinter den Palmen, auf großen Handtüchern, zwischen einem blassen älteren Ehepaar, wahrscheinlich Touristen, und einer Gruppe spanischer Jugendlicher. Weiter weg waren die Sonnenschirme und Liegen, die man mieten konnte. Das Meer glitzerte hellblau und der Sand leuchtete gelb. Lyra musste unwillkürlich grinsen. Zwei Monate nur Sonne, Wasser und Strand! Sie war froh, dass ihre Mutter im Sommer nicht verreisen wollte, da sie in ihrem Büro Hochsaison hatte. Als Immobilienmaklerin war ihre Mutter vollauf beschäftigt. Viele Touristen und Ausländer kamen jetzt und wollten für ein paar Wochen oder Monate eine Wohnung oder ein Haus mieten.
Lyra hatte sich mit ihren Freunden an der Stelle hinter der Dusche verabredet, die einem Elefanten in Originalgröße nachempfunden war.
»Lyra!« Bea hatte sie entdeckt und winkte.
Lyra winkte zurück. Bea war ihre Freundin, ja, aber trotzdem ärgerte es Lyra, dass Bea schon wieder neben Oliver lag. Und neben Oliver lag Patrick, was also bedeutete, dass Lyra nicht neben Oliver liegen würde. Sie konnte einen Seufzer nicht unterdrücken.
Oliver hatte seine coole Brad-Pitt-Sonnenbrille auf die langen blonden Haare geschoben und aalte sich in der Sonne. Patrick war in ein Buch vertieft. Er war seit Jahren ein guter Freund von ihr und letztes Schuljahr hatte Lyra oft mit ihm zusammen gelernt. Vielleicht könnte sie ja Patrick auf die andere Seite rutschen lassen, dann könnte sie doch neben Oliver liegen.
Lyra behielt ihre Flip-Flops an, als sie über den schon heißen Sand ging. Sie war sicher noch vier Schritte von ihren Freunden entfernt, als Bea ihr langes blondes Haar schüttelte und rief:
»Lyra, weißt du schon, dass …«
»Ja, ich weiß«, schnitt ihr Lyra das Wort ab. Bea war eine echte Klatschtante. Es gab kaum etwas Schlimmeres für Bea, als wenn jemand anders zuerst eine Neuigkeit wusste.
»Ist das nicht furchtbar?« Bea setzte sich auf. Sie trug einen Bikini, den Lyra noch nicht kannte. »Pia ist verschwunden!«
»Glaubt ihr, es könnte ihr etwas zugestoßen sein?«, fragte Lyra Oliver und Patrick, die bäuchlings liegen blieben.
»Wenn sie einen Unfall gehabt hätte, dann hätte man es ja gleich erfahren.« Patrick stützte sich auf den Unterarm und blinzelte in die Sonne. Er war schon ziemlich braun. Seine dunklen Locken waren nass. Sicher war er gerade im Wasser gewesen.
»Patrick hat recht!« Bea nickte und cremte ihr Gesicht sorgfältig mit Sonnenmilch ein. »Vielleicht ist sie ertrunken?«
Lyra sah auf das blaue Meer hinaus, das heute so ruhig und harmlos wirkte. Sie dachte an die stürmischen Tage, wenn die Wellen sich tosend vor dem Strand brachen, weiß-graue Gischt auf den Wellenkämmen schäumte und die Wucht der Wogen große Teile des Strandes wegriss. Selbst wenn man sich an solchen Tagen nur bis zu den Knien ins Wasser wagte, zog die Strömung einen sofort hinaus.
»Aber wir hatten keinen Sturm, Leute!«, meinte Oliver und rückte die Sonnenbrille auf seinem Haar zurecht.
»Und wenn sie mit jemandem mitgegangen ist? Vielleicht ist sie in ein Auto eingestiegen«, überlegte Lyra.
Bea zuckte die Schultern und drehte die Sonnencremeflasche zu. »Also, da wäre sie ja echt blöd!«
»He, Bea, du bist doch auch schon bei jemandem ins Auto gestiegen«, sagte Patrick.
»Ich?« Bea schüttelte ihr Haar. »Nur zu Leuten, die ich kenne.«
»Siehst du. Wer sagt dir denn, dass Pia denjenigen oder diejenige nicht auch gekannt hat?«, fragte Patrick.
»Stimmt«, gab Lyra ihm recht. »Das hört man doch immer wieder, dass bei Verbrechen der Mörder aus dem Familien- oder Bekanntenkreis des Opfers kommt.«
Bea verdrehte die Augen. »Das sagen sie in jedem Fernsehkrimi, ich weiß.«
»Ihr habt vielleicht eine blühende Fantasie!« Oliver gähnte. »Ich finde auch, wir sollten nicht gleich das Schlimmste denken. Sie taucht bestimmt bald wieder auf«, sagte Lyra. Sie hatte ihr Handtuch neben Patrick ausgebreitet und legte sich hin. Oliver warf ihr nur einen müden Blick unter seinen blonden langen Haaren zu. Lyra ärgerte sich.
»Vielleicht ist sie ja entführt worden?«, redete Bea unbeirrt weiter. »Ihre Eltern sind ja nicht gerade besonders arm. Wenn ich an die Riesenvilla und die drei dicken Autos denke. Mal fährt ihre Mutter sie im BMW-Cabrio zur Schule, mal in so einem bulligen …«
»X5!«, warf Oliver dazwischen.
»Meinetwegen, und dann haben sie noch einen blauen …«
»Jaguar XJ 3.0«, unterbrach sie Oliver.
»Da ist sicher Geld zu holen!«, beharrte Bea.
»Dann hätten sich die Entführer doch schon längst gemeldet und Lösegeldforderungen gestellt«, gab Lyra zu bedenken.
Bea schüttelte heftig den Kopf. »Nein, das dauert immer. Im Fernsehen lassen sie die Eltern immer erst mal schmoren. Dann sind sie nämlich eher bereit, alles, was die Entführer verlangen, zu zahlen!« Bea biss sich auf die Lippen. »Wenn Pia … das wäre … unvorstellbar!«
»Was quatschst du für ein dummes Zeug!«, sagte Oliver. »Bestimmt hat sie einfach mal von zu Hause Urlaub gebraucht. Ihre Eltern würden mich total nerven.«
»Welche Eltern nerven nicht!«, meinte Patrick. »Aber deshalb haut man ja nicht gleich ab, oder?«
»Patrick hat recht. Und außerdem, wohin sollte Pia denn gehen?« Lyra konnte sich nicht vorstellen, wo sie ihren dringenden Urlaub von ihrer Mutter nehmen sollte. In Deutschland?
»Vielleicht hat sie eine Affäre am Laufen«, setzte Oliver das Gedankenspiel fort.
Bea stieß einen spitzen Schrei aus. »DIE?«
Oliver zuckte die Schultern. »Warum denn nicht?«
»Pia ist doch viel zu kindlich!« Bea schüttelte ihr Haar und richtete ihren Oberkörper noch weiter auf.
Blöde Kuh, dachte Lyra, das macht sie nur, damit Oliver auf ihren Busen glotzt!
»Stille Wasser sind tief«, bemerkte Patrick grinsend, »sagt meine Oma.«
Bea verdrehte die Augen und stöhnte. »Immer diese Sprüche. Pia hatte auf unserer Schule keinen Freund, das hätte man ja wohl mitgekriegt. Oder nicht?« Fragend schaute sie in die Runde.
Lyra musste ihr zustimmen. »Wer-mit-wem« sprach sich in der Schule immer sehr schnell herum. Es war fast unmöglich, so etwas geheim zu halten. Und Bea gehörte zu denen, die jede Neuigkeit zuerst erfuhren. Kaum wusste sie etwas, hatte sie auch schon das Telefon in der Hand.
»Also, ich sage euch, da ist etwas passiert, hundertpro«, sagte Bea. Oliver winkte ab. »Du willst, dass etwas passiert ist, Bea. Das ist ein kleiner Unterschied.«
»Genau«, pflichtete ihm Patrick bei.
»Was denkt ihr nur von mir?« Bea schlug sich in übertriebener Geste die Hand auf die Brust.
»Nur das Beste.«
Oliver grinste und Patrick schloss sich ihm an.
Lyra überfiel plötzlich ein merkwürdiges Gefühl. Als legte sich ein schweres dunkles Tuch über sie. Sie riss die Arme nach oben, als müsse sie dieses Tuch loswerden, das sie langsam erstickte. »Hört doch auf damit! Hoffen wir, dass Pia bald auftaucht«, sagte sie. Das Tuch war wieder verschwunden.
»Gut, wir werden ja sehen, was passiert. Sollen wir eine Wette abschließen?« Bea blickte herausfordernd in die Runde.
»Du spinnst doch! Um so etwas wettet man nicht«, sagte Patrick und streckte sich auf seinem Handtuch aus.
»Das wäre geschmacklos.« Oliver gähnte und machte wieder die Augen zu.
Bea zuckte mit der rechten Schulter. »Dann eben nicht. War nur so eine Idee. Manchmal seid ihr schrecklich spießig.« Sie zog ihr Handtuch zurecht und legte sich auf den Rücken.
Lyra betrachtete die drei, wie sie bewegungslos in der Sonne lagen. Warum war ihr nur auf einmal so flau im Magen? Vielleicht hätte sie doch frühstücken sollen. Oder war es die Hitze? Aber die war sie doch gewöhnt. Was war nur los mit ihr? Pias Verschwinden beunruhigte sie immer mehr. Seltsam, dabei kannte sie sie doch kaum. Du hast Ferien, sagte sie sich, jetzt entspann dich mal! Lyra streckte sich auf ihrem Handtuch aus.
Nach einer Weile richtete sich Bea mit einem Schrei auf. »Mein Gott! Mir fällt da was ein!«
»Schon wieder?«, sagte Oliver gelangweilt.
Bea ignorierte seine Bemerkung. »Bei uns macht jede Woche so ein Typ mit seinem Moped die Runde. Zuerst hab ich gedacht, das ist ein Witz oder die drehen gerade einen historischen Film. Aber er schleift tatsächlich Scheren und Messer! Ja, so was gibt’s echt noch! Und jetzt kommt das Beste.« Sie hielt die Luft an und blickte triumphierend in die Runde.
»Komm schon, Bea, spann uns nicht auf die Folter!«, drängte Oliver.
»Ich habe Pia ab und zu beobachtet, wie sie mit diesem Scherenschleifer geredet hat.«
Lyra merkte, wie ihr trotz der Hitze ein Schauer über den Rücken lief. Der Scherenschleifer. Der war ihr heute Morgen doch auch aufgefallen. Warum eigentlich?
Bea blies sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Meint ihr, wir sollten es der Polizei sagen?«
»Du tickst wohl nicht richtig!« Oliver stützte sich auf die Ellbogen und schüttelte den Kopf. »Nur, weil die miteinander geredet haben? Was hast du denn gegen den Typen?«
»Ich?« Bea zeigte auf ihre Brust. »Überhaupt nichts. Aber er hat etwas ... etwas Unheimliches. Und wenn Pia mit ihm was hatte, sollte man ihn vielleicht mal vernehmen.«
»So was Blödes«, sagte Patrick.
»Wieso?« Bea sah ihn herausfordernd an und schüttelte ihr Haar, wie schon zum millionsten Mal an diesem Tag.
»Ach, weil er total harmlos ist«, antwortete Oliver an Patricks Stelle und strich sich eine lange blonde Strähne aus der Stirn. »Er kifft ab und zu und schiebt sein Moped durch die Gegend. Macht ein paar Euro mit diesem dämlichen Scherenschleifen. Das ist alles.«
Patrick nickte. »Du bist ganz einfach hysterisch, Bea!«
»Idiot!« Bea wandte sich an Lyra. »Weißt du, die meisten Menschen sehen nicht richtig hin. Wenn man sie fragt, ob jemand einen Schnurrbart oder eine Brille hat, können sie sich nicht mehr daran erinnern. Jeder behauptet dann etwas anderes. Aber wenn ich jetzt darüber nachdenke, ob Pia etwas mit dem Scherenschleifer hatte, dann werde ich immer sicherer. Ja, da war etwas Besonderes in ihrem Umgang miteinander.«
»Dr. Psycho Bea Hochstätter!«, höhnte Oliver.
Patrick lachte.
»Ihr seid blöd.« Bea schüttelte ihre Mähne. »Jungs haben von Psychologie null Ahnung! Stimmt’s Lyra?« Bea sah Lyra Beifall heischend an.
»Ist was? Du siehst auf einmal so komisch aus.«
Alle sahen sie an. Endlich würdigte auch Oliver sie eines längeren Blickes. Wieso sah sie komisch aus? Sie konnten doch nicht sehen, dass sie innerlich zitterte und sich zusammenreißen musste, weil ihr übel war. Sie wusste selbst nicht, was plötzlich mit ihr los war.
»Was soll denn sein?« Lyra kramte den iPod aus ihrer Tasche, steckte sich die Kopfhörer ins Ohr und legte sich wieder hin.
Bestimmt würde es ihr gleich besser gehen.
Patrick rüttelte leicht an Lyras Schulter. Er hielt eine Chipstüte in der Hand. Sie wollte nicht mehr an Pia denken. Ganz bestimmt würde sich alles aufklären. Dankbar griff sie in die Tüte und schob sich schnell ein paar Chips in den Mund.
Um halb zwei war es am Strand unerträglich heiß geworden. Ihre Freunde gingen dann immer nach Hause, weil ihre Mütter um zwei Uhr das Mittagessen fertig hatten. Alle Mütter – außer Lyras!
»Kannst gern mit zu uns kommen.« Patrick klopfte sich den Sand von den Shorts. »Meine Mutter hat Tacos gemacht. Und darin ist sie echt eine Meisterin.«
»Danke!«, sagte Lyra. »Aber ich kann nicht. Ich hab Nachhilfe.« Unwillkürlich verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse. Auf Pablo und seine Grammatikübungen hatte sie gerade überhaupt keine Lust.
»Du Ärmste«, meinte Patrick.
Lyra seufzte. »Ich muss mich beeilen.« Sie winkte den anderen zu und stieg widerwillig die Treppen zur Promenade hinauf.