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Ich bin nicht zum ersten Mal im Süden«, sagte ich mit noch immer demselben Lächeln auf den Lippen. Ich versuchte Claas, der gerade wieder hereinkam, mit meinem Blick zu verstehen zu geben, dass es eine blöde Idee war, mich hierher zu schleppen.

Aber Claas studierte schon mit schräg gelegtem Kopf die Titel der Bücherwand auf der langen Seite des Wohnzimmers.

Tammy zuckte die Schultern. Sie musste es nicht aussprechen, ich wusste auch so, dass ihr mein Sonnenbrand total egal wäre.

Während ich noch überlegte, mit welcher Strategie ich sie am tiefsten und zuverlässigsten verletzen könnte – ließ mich eine Stimme herumfahren.

»Hi!«

Mein erster Gedanke war, als ich Julian an der Küchentheke lehnen sah: Ich bilde ihn mir nur ein. Er entspringt meiner Fantasie, der klischeehaften Vorstellung siebzehnjähriger Mädchen von einem – nennen wir ihn mal: Traumtypen.

Peinlicherweise musste ich zugeben, dass ich wohl in dieser Hinsicht auch ziemlich archaisch ticke – in denselben simplen Kategorien denke wie meine zotteligen Vorfahren in den Steinzeithöhlen.

Nein, er sah nicht intellektuell aus und auch nicht kompliziert – sondern einfach bloß... cool. Als wären ihm die Schule und das, was sie einem als Zukunft versprechen, scheißegal, als wüsste er, dass nur der Moment zählte, und deshalb würde er sich einfach das Surtbrett unter den Arm klemmen und zum Strand schlendern. Barfuß über den Asphalt, mit nacktem Oberkörper. Die blonden Haare ausgebleicht von Sonne und Meer, braun gebrannte Haut über klar definierten Muskeln. Kurze Hosen und keine Schuhe.

Ich glaube, meine Hand zitterte ein wenig, als ich sie ihm entgegenstreckte, bevor ich merkte, dass diese steife Begrüßung völlig unpassend war. Er lachte – ich sah seine regelmäßigen weißen Zähne – und ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde und auch meine Knie zu zittern begannen.

»Hallo«, sagte ich mit viel zu hoher Stimme.

»Mel, richtig?« Seine blauen Augen blickten in meine und für einen Moment hatte ich wirklich das Gefühl, ich könnte ihn interessieren.

»Und du musst Julian sein«, konterte ich, ein wenig gefasster schon.

Es kam mir vor, als hätte sich ein Vakuum um uns herum gebildet, in dem wir erstarrt waren. Julian und ich in einer Blase.

Da rettete Claas – ob er mitbekam, was da gerade passierte, weiß ich nicht – die Situation. »Und wo ist jetzt die coole Bar von deinem Vater, Julian?«

Die Blase zerplatzte und schleuderte uns wieder in die profane Welt zurück, zu Julians arroganter, schöner Schwester und einem klugen, spöttischen Claas.

»Komm, ich zeig sie dir!«, sagte Julian und lachte dieses Schauspielerlachen, das mein Verstand überheblich gefunden hätte, wenn er denn noch funktioniert hätte.

Ich sah zu Claas hinüber. Obwohl er nicht schmächtig war, wirkte er gegen Julian geradezu schmal. In seiner Stirn klebte eine braune Locke. Seine Brillengläser waren beschlagen und er selbst war blass. Ich fürchtete, dass auch ich nicht gerade ein gutes Bild abgab, durchgeschwitzt, mit dem Ansatz eines Sonnenbrandes auf den Armen und auf der Nase. Wir passten irgendwie nicht hierher, in diese Welt der strahlenden Schönheiten, des Reichtums und der Coolness.

Es ist beschämend, ja, aber sofort beherrschte mich nur noch die Sehnsucht nach Julian. Sie fühlte sich an wie eine Wunde, die nur heilen würde, wenn er seine Hand darauf legte.

Meine Augen suchten ihn, als wären sie magnetisch von ihm angezogen, so lange, bis er in meinem Blickfeld auftauchte. Und dann warteten sie darauf, dass er ihren Blick erwiderte.

»Wir haben Wodka ...«, sagte er, aber ich hörte gar nicht, was er alles aufzählte, sah ihn nur gebannt an, wie er auf der Terrasse am Kühlschrank lehnte, so ohne Eile. Cool eben.

Wie in einem Luxushotel standen weiße Liegestühle an einem Pool mit himmelblauem Wasser. Direkt vor uns lud eine Lounge, von einem weißen Sonnensegel überspannt, zum Chillen ein.

Zikaden zirpten und die Spitzen der Zypressen bewegten sich ganz leicht im Wind. Irgendwo zwitscherte ein Vogel immer dieselben zwei Töne.

»Mann!« Ächzend ließ sich Claas auf die Rattancouch mit den weißen Polstern fallen und streckte die Beine von sich. »Genial, oder, Mel?«, sagte er voller Begeisterung. Ich setzte mich auf einen extrabreiten Sessel schräg gegenüber von Claas und sagte: »Mhm, aber ganz schön heiß hier.«

Tammy kam mit zwei Wasserflaschen herüber. »Mel – hat dich deine Mutter nach Mel Gibson benannt?« Ihr Lächeln war zu strahlend, um echt zu sein.

Am liebsten hätte ich gar nicht geantwortet, doch da wir ja zumindest so taten, als wären wir nett zueinander, antwortete ich äußerst knapp: »Mel ist die Abkürzung von Melody. Ist ein irischer Frauenname. Meine Großmutter heißt so.«

»Ach, wie süß!« Ihr Haar zurückwerfend ließ sich Tammy auf die Couch fallen. »Oh je, bin ich froh, dass meine Eltern einen eigenen Namen ausgesucht haben. Sonst würde ich jetzt Martha heißen. Huuuh! Was dagegen, wenn ich dich Melody nenne?«

»Ja«, sagte ich bloß und drehte die Flasche auf.

»Schade!«, sagte Tammy. »Wenn ich deine Großmutter wäre, wäre ich gekränkt.«

»Wenn du meine Großmutter wärst, hätte mich meine Mutter sicher nicht nach dir genannt«, konterte ich. Aber ich hatte den Eindruck, sie verstand meine bösartige Bemerkung gar nicht.

Sie lehnte einfach den Kopf zurück und schloss die Augen, als wären wir gar nicht da.

Blöde Kuh, dachte ich und versuchte, meinen Ärger herunterzuschlucken. Warum genoss ich nicht einfach den Urlaub?

Ich hielt die Flaschenöffnung dicht an meine Lippen und spürte, wie die Kohlensäurebläschen platzten und ganz zart und kühlend mein Gesicht bespritzten.

Mein Wunsch nach Schlaf und einer Dusche war von einem viel stärkeren abgelöst worden: Ich war hellwach, schwitzte und wartete ungeduldig darauf, dass Julian hinter der Theke wieder auftauchen würde.

Claas redete unentwegt, ab und zu drang ein Wort zu mir durch, »romanische Ausgrabungen« und »Tagundnachtgleiche« und »Cicero« meinte ich, aufgeschnappt zu haben, aber im Grunde war es mir egal. Alles war mir auf einmal egal – alles außer Julian.

Da! Er kam mit diesem lässigen Grinsen, der Sonnenbrille auf dem Haar auf uns zu – mit vier Dosen Red Bull in seinen gebräunten, kräftigen Händen. Rasch sah ich weg, tat so, als starrte ich nicht ihn und seinen sonnengebräunten Waschbrettbauch an, sondern den blauen Himmel. Ach ja und seinen Nabel versuchte ich auch aus dem Kopf zu kriegen. Ich stehe auf Nabel.

Kennst du das, wenn man spürt, wie die Raubkatze in dir erwacht? Sie gähnt, dehnt ihren Rücken, streckt ihre Läufe, fährt die Krallen aus, leckt sich übers Maul, schärft ihren Blick und nimmt die Witterung auf, ihr Herzschlag beschleunigt sich, sie wartet auf ihre Beute.

Ich kam mir vor wie eine dressierte Wildkatze.

»Und, was macht ihr zwei so den ganzen Tag?«, fragte Claas, als sich Julian neben seine Schwester auf die andere Couch setzte, direkt mir gegenüber.

»Chillen«, sagte Tammy und strich sich mit einer grazilen Geste die blonden Haare aus der Stirn. Ich versuchte, mir eine Strähne aus der Stirn zu blasen, aber sie klebte fest. »Ist ja auch viel zu heiß«, hörte ich mich sagen, »da kann man nur schwimmen gehen und rumhängen.«

Julian sah zu mir herüber. Hatte er mich überhaupt schon richtig angesehen? Ob er schon bemerkt hatte, dass mich seine Schwester nicht mochte – und umgekehrt?, fragte ich mich.

»Wir haben überlegt, ob wir einfach hierbleiben«, sagte Julian und legte seiner Schwester die Hand auf den nackten Oberschenkel. Ich stutzte, aber dann sagte ich mir, dass das doch normal ist, sie kennen sich immerhin seit ihrer Geburt.

»Nein«, sagte Tammy zu ihm, »du hast es überlegt, ich nicht.«

Julian lachte, zog seine Hand weg und trank einen ordentlichen Schluck aus der Dose.

»Warum nicht, wär sicher ganz witzig«, sagte ich und dachte dabei jedoch nur an ihn und mich, wie wir ungestörte, nie endende Tage hier verlebten ...

»Witzig? Hier hast du noch nicht mal Handyempfang«, sagte Tammy ein bisschen zu ruppig.

»Wirklich?« Claas reckte sich. Die Schweißflecken unter seinen Achseln waren auf dem blauen Polo erschreckend groß geworden. Und ich schämte mich – schon wieder. Nicht wegen ihm. Sondern für mich. Weil ich geglaubt hatte, ich könnte froh sein, dass sich jemand wie Claas für mich interessierte. Ich hatte mich zu schnell zufriedengegeben, wurde mir klar, nur weil ich wie andere sein wollte, weil es rein vom Verstand her nicht viel gegen Claas einzuwenden gab und weil es normal ist, einen Freund zu haben, nein, nicht nur normal, weil man einen haben muss, sonst zählt man nicht, sonst gehört man nicht dazu, sonst kann man nicht mitreden, sonst geht man allein auf die Partys – oder wird gar nicht erst eingeladen.

»Und Fernsehempfang haben wir auch nicht«, sagte da Tammy. Ich hatte aufgehört, der Unterhaltung zu folgen.

»Eigentlich sollte schon längst jemand kommen«, erklärte Julian, »um die Satellitenschüssel neu auszurichten, ist beim letzten Frühjahrssturm wohl fast vom Dach geflogen, aber«, er machte eine wegwerfende Handbewegung und Tammy beendete den Satz: »... diese Handwerker haben immer eine Ausrede.«

»Wir können das morgen machen«, sagte Claas großspurig an sie gewandt. »Ich krieg das hin.« Ich wusste gar nicht, dass er technisch begabt war.

»Internet gibt’s natürlich auch nicht«, redete Tammy weiter, ohne auf sein Angebot einzugehen.

»Hm, klingt nach spannenden Abenden, oder, Mel?«, meinte Claas mit einem schiefen Grinsen.

»Na ja.« Ich warf ihm einen flüchtigen Blick zu. Seit wir dieses Grundstück betreten und ich Julian begegnet war, war mir allein die Vorstellung, Claas anzufassen, unangenehm.

Claas beanspruchte die ganze Couch, hatte die Beine breit gespreizt und beide Arme über die Rückenlehne gelegt. Seine Schweißflecken waren nicht zu übersehen.

Ich sah zu Julian hinüber. Er saß genauso da. Aber bei ihm sah es alles andere als lächerlich aus. Meine Fantasie ging mit mir durch und ich saß neben ihm, unter seinem Arm, wie unter einem ausgestreckten Flügel.

»Wir fahren manchmal runter in den Ort, da gibt’s ’nen Club ...«, sagte Tammy. Sie hatte ihre nackten Beine untergeschlagen und drehte gedankenverloren eine Haarsträhne zwischen ihren schlanken, gebräunten Fingern.

»Ist nicht gerade die beste Location«, redete Julian weiter, »aber hier ...«

»... gibt’s nichts anderes«, beendete Tammy mit einem leisen Seufzer den Satz. Claas grinste sie an.

Toll, dachte ich, dein Freund verguckt sich gleich nach einer Stunde in eine andere. Aber ich selbst war ja auch nicht besser!

Wie es an dem Tag weiterging?

Wir hörten Techno aus Julians Block Rocker, rauchten Shisha und stiegen irgendwann auf Gras um.

Ich legte den Kopf zurück auf die Rückenlehne und betrachtete den tiefblauen Nachmittagshimmel, an dem weiße Wölkchen klebten wie weiße Watte. So banal und doch so schön. Vor mir glitzerte noch blauer der Pool und die weißen Liegen warteten nur darauf, dass ich mich dort ausstreckte. Julian lächelte mich an. Für einen Moment schloss ich die Augen. Ich sollte das alles hier einfach für die paar Tage genießen – und mich nicht kopflos verknallen. Und Claas sollte mir egal sein.

Verlieben – und dann ausgerechnet in so einen Typen wie Julian! Eitel und viel zu anspruchsvoll.

Als ich die Augen wieder öffnete, glaubte ich, Stunden geträumt zu haben.

Tammy stand auf einmal hinter der Couch, die Arme in die Hüfte gestemmt, und sah zu ihrem Bruder hinunter. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie weg gewesen war. »Sag mal, hast du meinen iPod genommen?«, fragte sie mit deutlicher Verärgerung in der Stimme.

»Nee, wieso?« Julian schüttelte gähnend den Kopf.

»Ich hatte ihn auf den Schreibtisch in meinem Zimmer gelegt«, sagte Tammy nachdrücklich. Ihr Blick wanderte zu mir, worauf ich bloß herausfordernd auffällig die Augenbrauen hob.

»Auf den S-e-k-r-e-t-ä-r meinst du wohl.« Julian lachte bekifft und Claas kicherte mit.

»Das ist überhaupt nicht komisch!«, protestierte Tammy mit einem Blick auf Claas, der sofort verstummte. »Du weißt genau, was dieser Bulle gesagt hat, von wegen Dieben und so!«, wandte sie sich wieder an ihren Bruder.

»He Tammy«, Julian zog sie an ihrem Arm zur Couch herunter. »Jetzt chill mal, wenn du ihn dahin gelegt hast, liegt er da noch.«

Clever, Julian, dachte ich und nahm einen Zug aus der Wasserpfeife.

»Er ist aber nicht da!« Tammy riss so schwungvoll ihren Arm los, dass sie beinahe hinfiel. Sie konnte sich gerade noch an der Rückenlehne festhalten.

»He!« Claas lachte. »Vielleicht hast du ihn einfach in deinem Zustand übersehen, woandershin gelegt, keine Ahnung?«

»Wieso Zustand? Meinst du, ich werde von dem bisschen Zeug high oder was?«, blaffte sie ihn an.

Jetzt lachten beide laut, Claas und Julian. Claas lachte wie Julian. Unter anderen Umständen wäre das mein Stichwort gewesen, um einzuschreiten, mich auf die Seite der Ausgelachten zu schlagen und sie zu verteidigen. Unter normalen Umständen – also wenn ich Tammy gemocht und Julian nicht so gut ausgesehen hätte.

Stattdessen zog ich tief den Rauch ein und dachte: Wunderbar, wie im Kino. Gleich würde einer eine Kanone ziehen oder Tammy würde Julian eine kleben oder Claas ...

»Vielleicht hast du ihn vorhin in eine Tasche oder eine Jacke gesteckt«, meinte Julian langmütig, nachdem er und Claas wieder ernst geworden waren.

»Quatsch«, sagte Tammy und warf jetzt mir feindselige Blicke zu.

»Ich war’s nicht, wenn du mich meinst.« Ich reckte herausfordernd lächelnd das Kinn.

»Mann, Tammy, hier war doch niemand!«, sagte Julian.

In dem Moment spürte ich, wie etwas in mir nach unten rutschte, als würde sich mein Inneres vom Äußeren ablösen und dem Gesetz der Schwerkraft folgen. Mein Gehirn sank in die Beine, Füße und noch tiefer. Ich wollte mich irgendwo festhalten, griff ins leere oder vielleicht bewegte ich mich auch gar nicht, aber dann stürzte ich, tiefer und tiefer, in vollkommene Schwärze, haltlos und bodenlos.

Ja, glaub es ruhig, denn heute wünsche ich mir oft, wieder in so eine Schwärze zu fallen, so tief, dass keine Erinnerung dorthin reicht.

Wenn es dunkel wird

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