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Am nächsten Nachmittag:

»Überraschung!«, gellt es in Julians Ohr und reflexhaft reißt er die Augen auf.

»He, du Penner, wuchte deinen Hintern aus dem Bett, sie sind da!« Tammy steht in der Tür und schneidet eine Grimasse. »So früh!«, bringt er schlaftrunken hervor und begreift erst dann, dass es nicht Morgen, sondern Nachmittag ist.

Tammy rollt die Augen: »Das ist ja eine Tussi.«

»Wer?«

»Na, die Freundin von Claas.«

»Mel?«

»Ich hoffe, diese Mel zickt nicht rum.«

Jetzt setzt er sich auf. Streckt seine Hand nach ihrem Haar aus, das ihr übers Gesicht fällt, doch da hat sie die Strähne schon selbst hinters Ohr zurückgestrichen und er hält inne, ernüchtert.

»Mach also«, sagt sie, »ich hab keine Lust, sie allein an der Backe zu haben.« Bevor er noch etwas Beschwichtigendes sagen kann, hat sie sich schon umgedreht und die Tür offen gelassen.

Er schüttelt den Kopf, um seine Haare aufzulockern, zieht T-Shirt und Shorts an und geht barfuß über die Steinfliesen aus seinem Zimmer den Stimmen entgegen.

So weit meine Vorstellungen. Von da an war ich dabei.

Das Videobild friert ein.

Der nächste Teil beginnt.

Die Perspektive hat sich verändert. Sie ist wohl aufgestanden und sitzt ein wenig weiter links. Im Hintergrund kann man jetzt ein Stück einer Bücherwand sehen. Ein Buchrücken reiht sich an den anderen und das Regal reicht bis zur Decke.

Mit der inzwischen vertrauten Geste streicht sie sich das Haar zurück. Sie blickt in die Kamera, ohne etwas zu sagen. Als warte sie darauf, dass jemand da im Netz zu ihr sprechen würde.

Okay, es geht weiter. Diese ersten Minuten in der Villa! Ich hätte am besten auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre mit dem Taxi wieder in den Ort zurückgefahren.

Höre auf deine Gefühle, denn sie sind die Sprache deiner Seele, hat meine Großmutter immer gesagt. Ich hätte auf meine Gefühle hören sollen.

Hab ich aber nicht.

Ich bin dageblieben.

Wenn ich gewusst hätte, dass es so einfach gewesen wäre, mich zu retten, vielleicht nicht nur mich, auch die anderen ...

Auf das Hupen des Taxifahrers tauchte in der Lücke der undurchlässigen Zypressenhecke Tammy auf und öffnete das Gartentor.

Ich spürte sofort, dass sie mich blitzschnell taxierte und zu dem Ergebnis kam: keine Konkurrenz.

Ich wiederum kam zu dem Ergebnis: egozentrisch, rücksichtslos – und ziemlich schön. Sie war es gewöhnt, sofort beachtet zu werden – ohne etwas dafür tun zu müssen – und hatte in der Schule sicher eine Menge Anbeterinnen, die hofften, dass für sie ein paar Jungs abfielen, die sich umsonst um Tammy bemühten. Ich war neidisch. Okay, ich geb’s zu.

Wir lächelten uns falsch an.

Claas rief: »Du musst Tammy sein!«

Sie kannten sich nicht, denn während er im Haus der Wagners Julian Nachhilfe gab und öfter eingeladen wurde, war Tammy zum Schüleraustausch in den USA gewesen.

Ihr Lächeln konnte Claas vielleicht täuschen, mich aber nicht. Sie fand ihn uninteressant. Und wahrscheinlich sah sie keinen besonderen Sinn darin, sich mit ihm – mit uns – abzugeben.

»Das ist Mel«, stellte mich Claas vor. »Und ich bin Claas.« Er wollte ihr, glaube ich, auch die Hand geben, aber sie nickte nur und sagte: »Hi.« Mit noch immer demselben Lächeln auf dem Gesicht. »Gleich gefunden?«

»Wir hatten dem Fahrer die Koordinaten gegeben«, erwiderte Claas lässig, »in ein paar Jahren fahren die Autos damit auch ohne Fahrer. Ist ja schon lange in der Testphase. Dann hätte die Bezeichnung Auto auch endlich wieder einen Sinn.«

Mir entging nicht, wie Tammy ihn anstarrte. Als hätte er was auf Mandarin zu ihr gesagt.

»Auto heißt selbst«, erklärte ich ihr. »Es würde dann auch endlich wirklich selbst fahren.«

Claas nickte zufrieden, während Tammys Lächeln endgültig gefror. »Hatte ich ganz vergessen, ihr seid ja die beiden Supergehirne.«

Claas grinste und steckte – um Coolness bemüht – die Hand in die Hosentasche. »Stimmt, Mel, oder?«

Ich überhörte seinen völlig missratenen Versuch, die Atmosphäre zu entspannen, und lächelte Tammy an.

In diesem Moment, glaube ich, schämte ich mich zum ersten Mal für uns und das Bild, das wir zusammen abgaben. Ob es an der Umgebung lag, daran, dass in dieser Fremde unsere gewohnten Schlagabtausche plötzlich deplatziert wirkten? Eines jedenfalls begriff ich damals zum ersten Mal: dass Claas und ich eigentlich nicht richtig zusammen waren, dass wir uns nur zusammendachten – dass unser Zusammensein eine Illusion war.

Wir folgten ihr über einen Weg mit Natursteinplatten zum Haus.

Ehrlich gesagt: Ich hatte ein ganz nettes Ferienhaus erwartet, einen Bungalow, wie man in den 1950er-Jahren baute, eher hässlich als schön – aber nicht dieses Schlösschen, das in seiner übertriebenen Protzigkeit schon wieder stilvoll war.

Die Büsche, der Rasen waren eher braun als grün, kein Wunder bei der Hitze. Da wartet man den ganzen Sommer auf ein bisschen Wärme und dann erlebt man so was! Ich konnte kaum atmen.

»Habt ihr hier ein sicheres Wasserversorgungssystem?«, fragte Claas, der hinter Tammy herging. »Die Stauseen sind ziemlich leer und erst mal werden natürlich die Städte versorgt.«

Ich fragte mich, ob mir Claas’ Unfähigkeit, normale Konversation zu machen, bisher einfach entgangen war. Selbst ein Blinder konnte erkennen, dass Tammy ihn von Satz zu Satz langweiliger fand.

»Oder seid ihr gar nicht ans städtische Wassersystem angeschlossen?«, redete er unbeirrt weiter. »Habt ihr einen normalen Kanal oder eine Sickergrube?«

Jetzt drehte sich Tammy zu ihm um und sagte von oben herab: »Sickergrube? Wir haben zwei große Badezimmer und richtige Toiletten.«

Ich konnte nicht anders und lachte, worauf mich beide unverständig ansahen.

»Auch der Abfluss von richtigen Toiletten kann in Sickergruben gehen«, fühlte ich mich bemüßigt zu erklären. »Darin befinden sich Bakterien, die die Abwässer wieder reinigen. Theoretisch ... könnte man es dann sogar trinken.«

Ich genoss, wie sich Tammys Mund angeekelt verzog. Claas warf mir einen bösen Blick zu.

Ich tippte mir an die Schläfe und sagte zu Tammy: »Sagtjetzt nichts. Ich weiß: Supergehirn!«

So verliefen die ersten Minuten. Und ähnlich ging es weiter.

In dieser Hitze kippte ich fast um. Als wir im Haus waren, schaffte ich es gerade noch zum Esstisch, über dem dieser Jugendstil-Hirschgeweihleuchter hing, und konnte mich an der hohen Lehne eines schweren altmodischen Stuhls festhalten, der perfekt in eine Ritterburg gepasst hätte.

Tammy wollte ihrem Bruder Bescheid geben und verschwand im Flur – wahrscheinlich mehr als froh, uns für ein paar Minuten los zu sein.

Mein Blick schweifte über die Bücherwand und die antiken geschwungenen Kommoden mit den Messinggriffen und blieb an einem gerahmten Foto hängen.

Ich sah es mir näher an. Tammy und Julian hocken auf einer grünen Wiese, Tammy hat den Arm um Julian gelegt, ein großer brauner Hund liegt mit der Schnauze auf ihrem Schoß.

Claas schleppte von draußen unsere beiden Rucksäcke herein.

»Das mit dem Abwasser hättest du dir schenken können.«

Ich grinste. »Du hast mit diesem blöden Thema angefangen, vergessen?«

»Okay, schon verstanden«, stöhnte er und sah sich um. »Aber eins muss man ihnen lassen: geile Hütte, was?« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Dachte ich mir, dass das hier dir gefällt«, gab ich zurück.

Ich wusste, ich hatte gut reden, ich lebe ja nicht wie er in einer engen, vollgestopften Wohnung ohne Garten, ohne Balkon, zur Nordseite. Ich wohne mit meinen Eltern in einer großzügigen Altbauwohnung, direkt über unserem Delikatessenladen, ja, das ganze Haus gehört seit Generationen der Familie meines Vaters.

Aber das sagte ich ja schon.

»Ach, Mel, du bist doch bloß neidisch auf Tammy.« Er drehte sich um.

»Wieso?« Doch da war er schon rausgegangen und ich konnte mir nur noch selbst eine Antwort geben. Ja, ich war neidisch. Mir war nur noch nicht ganz klar, worauf. War es ihr Aussehen? Oder eher die arrogante Selbstsicherheit, mit der sie sich präsentierte?

Ich blätterte eines der amerikanischen Modemagazine auf, von denen ein ganzer Stapel auf dem Tisch lag.

Ich wusste natürlich: Man soll nicht neidisch sein. Das sagen sie einem in der Kirche und in der Schule. Denen reicht es nicht, uns Mathe und all das beizubringen. Nein, es sollte auch noch was fürs Leben dabei sein.

Aber heute weiß ich: Es hat nichts geholfen: Mission gescheitert, Lernziel verfehlt.

Also, ich war neidisch und ich mochte Tammy vom ersten Moment an nicht.

Schwitzend, müde und durstig sank ich auf einen der Ritterburgstühle mit den samtroten Sitzflächen. Das war ja alles so was von dekadent! Die Villa mit Türmchen und Treppchen und diesen alten Möbeln und den alten Tapeten. Man fühlte sich wie in einer Filmkulisse. Als Betten haben sie sicher Himmelbetten mit tausend Kissen, dachte ich gerade, als Tammy mit einem Stapel Handtüchern vor mir auftauchte. Da merkte ich, wie sehr ich mich nach einer Dusche sehnte.

»Also ehrlich«, erwiderte ich, ein bisschen zu theatralisch vielleicht, »ich sag nie mehr was gegen unser Wetter. Das ist ja Hölle hier.«

»Gewohnheitssache«, gab Tammy zurück, ich folgte ihrem Blick, der abschätzend an mir herunterglitt.

»Aber du hast ja auch echt weiße Haut! Am besten gehst du gar nicht raus.« Ihr Lächeln war gemein und ich gab es ihr genauso zurück.

»Kein Problem, ich hab Sonnencreme mitgenommen.«

»Wie klug von dir!«

Würde das jetzt die ganze Zeit so gehen? Würde eine Beleidigung auf die andere folgen?

Wenn es dunkel wird

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