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In gewisser Hinsicht, glaube ich, war dieser Fahrradausflug bedeutungsvoll, die beiden sprachen jedenfalls mehrmals davon und womöglich hätten wir sonst auch nicht nach diesem Alarm das Haus durchsucht und – ja – das Buch gefunden.

Die Biketour der beiden habe ich mir immer so vorgestellt:

Im Nachmittagslicht strahlt das Gebirge, das sich hinter der Villa entlang der Küste wie ein Rücken erstreckt, in einem warmen Bronzeton. Die Schatten sind länger geworden, und als Julian über die Schulter zurücksieht, weiß er, dass Tammy, wie immer, wenn sie sich selbst anzutreiben versucht, gegen ihren eigenen Schatten anradelt. Dieser Trick spornt – jedenfalls solange sie die Sonne im Rücken hat – sie jedes Mal zu Höchstleistungen an. Sie tritt in die Pedale, bis die brennenden Schmerzen in ihren Oberschenkeln und Lungenflügeln selbst ihr zu viel werden. Noch ein paar Meter hält sie durch, überholt Julian, dann fährt sie an den Wegrand und lässt sich vom Sattel rutschen. Julian ist nur knapp hinter ihr.

»Schon fertig?«, fragt er im Vorbeifahren.

»Dreiundvierzig Minuten«, sagt sie und sieht von ihrer Uhr auf. Sport ist für sie nicht nur Mittel, um fit zu bleiben, sondern macht ihr tatsächlich Spaß. Sie liebt den Wettkampf, er macht sie besser, stärker, schneller – und schöner. Und unbesiegbar. Denn eines ist ihr ganz klar, ist ihr Prinzip, Lebensregel: Sie will Dinge allein und aus eigener Kraft durchziehen. Um nicht so zu werden wie ihre Mutter, die ständig an sich zweifelt und die Männer für sich springen lässt. Ach, das kann ich nicht! Oh, das ist viel zu schwer für mich! langsam, wartet auf mich! Wie Tammy das zum Hals heraushängt! Damit drängt sich ihre Mutter immer in den Mittelpunkt. Und alle müssen auf sie Rücksicht nehmen. Wenn die Männer für sie, Tammy, etwas tun, dann bitte sehr, aber sie wird sich dafür nicht verbiegen. Sie braucht niemanden.

Denn sie kann jeden haben. Das ist ja gerade das Schöne. Es lässt sie ihre Macht spüren.

Und wenn ihre Fotos erst mal in den Magazinen sind, werden ihr Hunderttausende zu Füßen liegen.

Julian ist ein Stück zurückgefahren und steht nun neben ihr. »Wer zuerst unten ist!«

Tammy wuchtet ihr Rad herum, hievt sich wieder auf den Sattel und spurtet los. Noch ist Julian hinter ihr und sie versucht, den Vorsprung zu halten. Sie beugt sich über den Lenker, um den Luftwiderstand zu reduzieren, versucht, die Ideallinie zu fahren und Julian nicht an sich vorbeizulassen. Sie legt sich in die Kurve, rechts, links, sie findet ihren Rhythmus, rechts, links, und dann erfüllt sie endlich dieses Gefühl, das irgendwo unter dem Magen seinen Ursprung hat, das sie leichter und schöner und schneller macht, es wird stärker, breitet sich aus und lässt sie übermütig laut schreien. »Aaaaaaaaaaah!« In diesem Moment schießt etwas um die Kurve, ein Auto natürlich, sie hatja die ganze Zeit damit gerechnet, aber nicht gerade jetzt!

»Tammyyyyyyy!«, hört sie noch Julian rufen und gleichzeitig die schrille Hupe und das Quietschen der Autoreifen, im Reflex reißt sie den Lenker nach rechts – und ohne zu stürzen, rollt sie am Auto vorbei, das Schimpfen des Fahrers ist schon wieder weit weg. Dann erst hält sie an.

»Mensch, das war ziemlich scheiße!« Julian kommt neben ihr zum Stehen.

Jetzt erst merkt sie, dass ihre Knie zittern. Und sich ihre Hände an die Lenkstange krallen. Als sie den Griff lockert, zittern auch sie.

»Achtung!«, schreit Julian und stößt sie zur Böschung. Was!, will sie gerade schreien, als ein Auto knapp neben ihr bremst. Polizei. »Hat dieser Wichser nichts Besseres zu tun als die Polizei zu rufen?«, sagt sie leise zu Julian. Da hat der Polizist auf der Beifahrerseite schon das Seitenfenster heruntergelassen. »Ah, vous êtes les fils de Madame Wagner.«

Jetzt erkennt Tammy den Polizisten mit den Koteletten so lang, dünn und geschwungen wie Säbel. Er ist der Sohn des Bäckers im Ort, erinnert sie sich. Bei einem Dorffest im letzten Sommer hat ihre Mutter mit ihm gesprochen und sie und Julian vorgestellt.

»Julian et ...« Er zögert und sieht Tammy an.

»Tammy«, hilft sie ihm. Es kommt automatisch. Vielleicht will sie einfach, dass er sie nicht länger so anstarrt, dieser südländische Macho.

»Faîtes attention. Il y a une bande de cambrioleurs ici.«

»Was ist hier?«, fragt Tammy ihren Bruder, obwohl der auch nicht besser Französisch kann als sie. Er zuckt die Schultern. Der Polizist begreift, dass sie ihn nicht verstanden haben, und legt die Finger so um die Augen, als blicke er durch ein Fernglas, und macht dann eine Drehbewegung mit dem Handgelenk.

»Anscheinend Diebe!«, sagt Julian. »Sie beobachten das Haus.«

Der Polizist nickt. »Comprenez?«

»Dangereux?«

Der Polizist hebt die Brauen, die genauso dünn und schwarz sind wie seine Koteletten. »Qui sait?« Er schlägt mit der flachen Hand, die zum Fenster heraushängt, außen an die Tür. »Vous faftes attention, n’est-ce pas?«

Er hebt die Hand zum Gruß und fährt davon. Tammy sieht ihm nach, bis er hinter der nächsten Biegung verschwunden ist. »Sieht aus wie Satan persönlich«, sagt sie. Julian runzelt die Stirn. »Wenn ich diese Typen bei uns erwische, dann ...«

»Was dann?«, fragt Tammy erwartungsvoll.

Julian kneift die Augen zusammen und schiebt das Kinn vor. Manchmal wundert sie sich, wie schnell ihr Bruder wütend werden kann. Doch jetzt seufzt er und zuckt die Schultern. »Dann wird mir schon was einfallen.« Er steigt wieder aufs Rad. »Los, ich hab Hunger!«

Tammy ist die Lust am Schnellfahren vergangen. Wenn das Auto ein bisschen schärfer um die Ecke gekommen wäre ... für einen Moment blitzt das Bild vor ihr auf: Ein zerbeultes Rad auf der Straße, ein Auto, dessen Fahrer fassungslos auf den Boden starrt, wo mit verdrehten Gliedmaßen ein blutiger Körper liegt, ein Windstoß fährt ins blonde Haar, hebt es für Sekunden vom schmutzigen Asphalt.

Sie schiebt das Bild weg. Sie ist viel zu jung, um an den Tod zu denken. Schließlich will sie noch einiges aus ihrem Leben machen. Sie schwingt sich auf den Sattel und denkt an ihre Modelkarriere in L. A. Sie kann ihr Ziel erreichen, wenn sie es nur will. Und das will sie. Um jeden Preis – um jeden Preis? Zumindest fällt ihr im Moment nichts ein, das ihr mehr bedeuten würde. Wieder gut gelaunt fährt sie die gewundene Straße bergab.

Ein roter Peugeot überholt sie und hupt. »Blödmann!«, ruft sie hinter ihm her, doch der Wagen ist viel zu schnell und der Fahrer hat sie bestimmt nicht mal gehört, geschweige denn, dass er sie verstanden hätte. Ihr Blick wandert nach rechts hinunter zum Meer, das jetzt in der Abendsonne unwirklich tiefblau leuchtet. Vier weiße Segelboote und in der Feme zwei größere Schiffe, die sich in dieser Weite überhaupt nicht zu bewegen scheinen. So fühlt sie sich auch oft, wie diese Boote. Als hinge ein schwerer, eiserner Anker an ihr, der sie hindert loszusegeln. Das Austauschjahr in Kalifornien hat ihr gezeigt, wie cool Leben sein kann. In zwei Jahren hat sie endlich die Schule hinter sich. Sie kann es kaum abwarten, dass ihr Leben endlich anfängt.

Am Abend bringt Julian Tammy ein Bier und setzt sich neben sie auf die Mauer. Sie sind nach dem Radfahren noch mal schwimmen gewesen und jetzt hat er ein frisches Hemd und lässige Shorts angezogen. Tammy trägt ein weißes Top und einen Rock, in dem ihre langen, braun gebrannten Beine bestens zur Geltung kommen.

Es ist noch immer sehr warm und der Wind, der sonst abends um diese Zeit aufkommt, bleibt bisher aus. Julian nimmt einen Schluck Bier.

Von hier aus kann man hinunter in die tiefer gelegenen Gärten und Grundstücke sehen, alle üppig bewachsen mit blühenden Sträuchern und grünen Pinien. An dieser einen Stelle blitzt zwischen zwei ausladenden Pinienkronen ein Stück Strand hervor und man kann sogar – wenn man die Augen ein wenig zusammenkneift – die einzelnen Wellen mit ihren weißen Spitzen daran lecken sehen.

Julian legt den Kopf in den Nacken und atmet tief ein. Es ist seltsam, einerseits spürt er in sich diesen Drang, etwas zu tun, irgendetwas zu unternehmen, die Zeit nicht einfach so verstreichen zu lassen, und andererseits ist da etwas in ihm, das ihn unfähig dazu macht, das darauf wartet, dass etwas geschieht und ihn mitreißen würde – irgendwohin –, wenn nur etwas passieren würde.

Reflexartig, instinktiv, einem Gefühl gehorchend streckt Julian den Arm nach seiner Schwester aus, die genau wie er auf der Mauer sitzt und in den glühenden Himmel sieht, und dann kann er nicht anders, als die nasse Strähne, die ihr über die Schulter nach vom fällt, nach hinten zu legen. Ein warmes Gefühl durchströmt ihn dabei, und erst als sie ihn ansieht, wird ihm bewusst, dass er das vielleicht nicht tun sollte, er lacht und sagt rasch: »Die Sonne bleicht die Haare ganz schön!«

Tammy sagt nichts, nimmt einen weiteren Schluck aus der Flasche.

»Bin mal gespannt, wie Mel so ist«, redet er schnell weiter.

Als sie wieder nichts sagt, stößt er sie mit dem Ellbogen ein wenig an. »Was meinst du, sollen wir eine Wette abschließen?«

»Eine Wette?«

»Ja, zum Beispiel, ob sie es eine Woche mit uns aushalten oder ob sie hier miteinander Schluss machen oder ...«

Über Tammys Gesicht zieht sich endlich ihr typisches, freches Grinsen. Na also, denkt er und fühlt sich gleich besser.

»Du bist echt fies«, sagt sie und schlägt in seine ausgestreckte Hand ein. »Schluss machen.«

»Okay«, er nickt. »Dann sage ich, sie machen nicht Schluss. Um eine neue Sonnenbrille. Von ... Police.«

»Prollig«, bemerkt sie und verzieht das Gesicht. Na also. Er weiß einfach, wie er sie amüsieren kann. Sie betrachten die Sonne, die jetzt wie eine schmelzende Goldmünze langsam ins Meer tropft.

»Ich will eine Sportuhr«, sagt Tammy nach einer Weile, »wenn ich gewinne.«

Sie stoßen mit den Bierflaschen an. Er nickt und sagt:

»Wenn sie sich trennen, kriegst du eine Uhr.«

Sie sitzen da, Schulter an Schulter, bis die Sonne ganz im Meer versunken ist und der Himmel nur noch ihr Glühen zurückwirft. Das warme Gefühl in ihm wird intensiver; es ist, als wären alle seine Zellen mit elektrischem Strom geladen, und sobald er sie noch ein wenig mehr berührt, ihren Arm, ihren Rücken, wenn er seine Hand in ihren Nacken schieben würde, auf ihre zarte, warme und vermutlich ein wenig feuchte Haut, dann ... dann.

»Spaghetti!«, sagt er hastig und rutscht von der Mauer.

»Spaghetti«, wiederholt sie und lächelt zufrieden. Ihr Lächeln ist wie sein Lächeln, das weiß er, denn ihr Gesicht ist sein Spiegel – so wie sein Gesicht ihres spiegelt.

»Geht klar«, sagt er und, erlöst, erleichtert – und doch irgendwie enttäuscht darüber, dass der Moment vorbei ist –, geht er über die Terrasse ins Wohnzimmer und von da in die Küche. Mit den harten Steinfliesen unter seinen nackten Füßen scheint es, als ob er sich wieder auf festem Boden befindet, aber er wird das Gefühl nicht los, er schwebe. Seine Knie sind weich und sein Herz schlägt viel zu schnell.

Er nimmt den großen Wassertopf vom Haken, füllt Wasser ein und zündet mit einem Streichholz den altmodischen Gasherd an. Die blaue Flamme faucht, bis sie gleichmäßig brennt. Er schiebt den Topf darauf. Er kocht gern für sie beide.

Und plötzlich stört es ihn, dass Claas und ich morgen kommen.

Wir, die Fremden, würden in seine und Tammys Welt eindringen und sie entzaubern.

Tammy will beim Essen lesen, sie nimmt ihren Teller mit Spaghetti und dem geriebenen Parmesan – den hat sie sich heute mal erlaubt – mit zur Couch, zieht die Beine unter und versenkt sich in ihr Buch. Unschlüssig, was er jetzt tun soll, sieht Julian mit dem Teller in der Hand zu ihr hinüber. Wenn sie liest, ist sie vollkommen absorbiert, er ist sicher, sie hat ihn völlig vergessen. Er kommt sich fast schon überflüssig vor.

»Ich hab überhaupt keine Lust«, murrt er.

»Wer hat schon Lust auf Lernen?«, gibt sie zurück, ohne von ihrem Teller aufzusehen, von dem sie gerade Spaghetti auf ihre Gabel dreht.

Er seufzt. Sie hat recht. Aber er muss unbedingt von einer Fünf auf eine Drei in Französisch kommen. Sonst kann er das Abi gleich vergessen. Die letzten Tage hatte er das erfolgreich verdrängt.

Er setzt sich an den langen Küchentisch vor das Grammatikbuch, das seit gestern dort unberührt liegt.

»Und schmatz nicht so!«, sagt sie tadelnd und grinst, ohne von ihrem Buch aufzusehen.

Da muss er auch grinsen. Sie hat ihn doch nicht völlig ausgeblendet.

Zwei Stunden später hat er genug von Französisch, er kann sich nicht mehr konzentrieren und weiß, dass er sich diese Stunden auch hätte sparen können. Tammy sitzt immer noch mit dem Rücken zu ihm auf dem Sofa und er hört nur das Rascheln, wenn sie eine Seite umblättert. Einmal ist sie aufgestanden, um sich noch etwas aus dem Kühlschrank zu holen, hat kurz aufgeschaut, aber nur durch ihn hindurchgesehen.

Ist wahrscheinlich doch ganz gut, dass Mel und Claas morgen kommen, denkt er, da hat er wieder eine Ausrede, nicht Französisch lernen zu müssen.

Er steht auf, räumt den Teller in die Spülmaschine, verabschiedet sich mit einem »Gute Nacht«, geht in sein Zimmer, legt sich ins Bett und hört Musik.

Immer wieder dämmert er langsam weg, mit Bildern im Kopf, die ihn nicht loslassen, und wacht wieder auf.

Es liegt nicht am Mond, sagt sich Julian, dass ich nicht schlafen kann. Ist ja noch nicht mal Vollmond.

Er starrt auf die halbe, blass leuchtende Scheibe über den Zypressen, schlägt die Decke zurück und steht auf. Er ist aufgewühlt, fühlt sich, als würde der Blutstrom in seinen Adern ständig die Richtung wechseln. Ein leichter Windhauch streicht über seine nackte Haut und trocknet den dünnen Schweißfilm. Sie fühlt sich heiß an von der Sonne, die sie den Tag über gespeichert hat. Tammy schläft nebenan, er glaubt, ihre Atemgeräusche durchs offene Fenster zu hören, aber eigentlich kann es nicht sein, denn sie schläft ganz still und ruhig. Aber dennoch spürt er ihr Atmen in sich, als wäre sie ein Teil von ihm. Er atmet schwer.

Es ist still bis auf die Geräusche aus dem Garten, die Zikaden, hin und wieder ein Vogelruf, Blätterrascheln und von ganz in der Feme klingt das gleichmäßige Rauschen des Meeres heran. An den Schriftsteller muss er immer wieder denken. Paige hieß er, oder? Henry Paige.

Er ist einfach aus seinem Leben ausgestiegen. Julian überlegt.

Man könnte Zeugnisse fälschen, sich den Pass aus einem halbwegs zivilisierten Land besorgen, Kreditkarten klauen – wahrscheinlich ist es gar nicht so schwierig.

Julian hat auf einmal das Gefühl, als würde ein anderes, weniger quälendes Leben da draußen auf ihn warten, aber er bringt es nicht fertig, die Tür aufzumachen und alles hinter sich zu lassen.

Er hat sich so auf diese Tage in der Villa gefreut, doch jetzt sehnt er sich nach seinen Kumpels, mit denen er feiern und trinken und Sport bis zum Umkippen machen kann, um irgendetwas da drin in sich nicht mehr zu spüren, irgendetwas, das mit Tammy zu tun hat.

Wenn es dunkel wird

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