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Die ganze Geschichte fing letzten Sommer an.

Du musst es dir so vorstellen: Es ist ein brütend heißer August in Südfrankreich, an der Cöte d’Azur, grelle, bunte, flirrende Farben wie in einem SiebzigerjahreFilm.

Der Himmel ist von einem strahlenden, blendenden Blau, das Meer noch einen Ton tiefblauer, silbrig blitzen Sonnenreflexe auf sanften Wogen. Weiße Flecken und winzige Punkte, Segelboote oder Motorjachten, gleiten dahin und scheinen weiter am Horizont ganz still zu stehen. Sattgelb leuchtet der heiße Sand in den sichelförmigen Buchten, die sich zwischen die Felsen schmiegen. Man sehnt sich nach nichts mehr als nach einem kalten Zitroneneis, um sich dann dort unten auf einem weichen Badetuch auszustrecken, die Hitze aufzusaugen und dann ins kühle Wasser zu tauchen. Spürst du das Prickeln auf der Haut und schmeckst die Zitrone und das Salz auf deinen Lippen? Und erinnerst du dich an das Gefühl, wie es ist, wenn man aus dem Meer steigt? Es kommt einem jedes Mal vor, als würde man nach langer Abwesenheit die Welt wieder betreten.

Hinter den Buchten mit den Stränden, der Uferstraße und den reflektierenden Karosserien der parkenden Autos erheben sich die mit Pinien und Zypressen bewachsenen Ausläufer des schroffen, in der Mittagssonne metallisch gleißenden Gebirges. Am Abend dann verwandelt es sich in eine feurig glühende Wand, die die unglaubliche Hitze des Tages langsam in die Nacht verströmen lässt. Die Aufwinde der warmen Luftströme nutzend treiben Raubvögel und lassen ihre Blicke schweifen.

Und dann dieser Duft.

Die Luft ist schwer von Salz und Meer, eine Brise weht würziges Pinienharz und betörend süßen Jasminduft heran.

Zwischen Strand und Gebirge krönt ein kleiner Ort die Felsen, eine dichte Ansammlung von verschachtelten, weiß getünchten Häusern mit roten Ziegeldächern.

Der Ort heißt Les Colonnes, was so viel wie »die Säulen« heißt und wohl mal wieder auf die Römer zurückgeht. Les Colonnes darf man sich nicht wie die mondänen, nach Glamour und Stars klingenden Orte Cannes oder St. Trapez vorstellen. Von Glamour hat Les Colonnes nichts. Reichtum verschanzt sich hinter hohen Hecken und Gartenmauern. Genauso wie die düsteren Geheimnisse. Aber dazu später.

Les Colonnes ist vom Jetset und den nachfolgenden Touristenhorden, den neureichen Russen, die an der Cöte d’Azur mit Kohle um sich werfen, vergessen worden. Und so gibt es immer noch Läden, die unmoderne Klamotten verkaufen, Bäckereien mit richtigen Backstuben, die den Duft nach frischen Croissants und Baguettes verströmen – und es gibt herrlich chaotische, vollgestopfte Lebensmittelläden, die mittags ihren Rollladen halb herunterlassen, unter dem man durchschlüpfen muss, um im schummrigen, aber einigermaßen kühlen Dunkel die Packung Lieblingsspaghetti zu suchen. Daneben reihen sich in Strandnähe Geschäfte mit allem möglichen Kram für den Strand. Luftmatratzen, Surtboards, Bälle, Sonnenschirme, Klappliegen, Campingtische, Kühltaschen – und das alles in Plastik, hässlich und quietschbunt. Klar, eine Handvoll Bars und Cafes gibt’s natürlich auch, in denen zu jeder Tageszeit Espressomaschinen zischen und den intensiven Geruch nach frischem Kaffee verströmen.

Im Sommer, vor allem im August, brodelt der Ort von Leben. Tagestouristen, denen die Hitze nichts anzuhaben scheint, besichtigen die nahe gelegenen Grotten und kehren zum Mittagessen in die Restaurants und Cafes ein, wo ihnen eifrige Kellner blitzschnell und geübt Papiertischtücher über die Tische decken und ihnen ruck, zuck ihr Touristenmenü und gleich die Rechnung servieren, damit sie ohne viel Zeit zu verlieren in ihren Bus oder ihren Mietwagen steigen und weiterfahren können, zurück nach Cannes oder St. Trapez und Nizza.

Die eigentlichen Einwohner trifft man morgens und vor allem abends auf den Straßen und Plätzen, wo sich ihre Unterhaltungen zu einem brummenden Gemurmel vermischen, abends beschienen vom bronzefarbenen Licht der Laternen und begleitet von Musik aus den Bars, dem Rattern der Mofas und dem Klirren von Geschirr und Gläsern. Jetzt fügen sich zu all den Düften noch die von den verschiedensten Parfüms, von Wein, frischen Kräutern und Knoblauch und gegrillten Fischen.

Hier ticken die Uhren anders, habe ich gedacht, als ich damals mit Claas in Les Colonnes aus dem Bus stieg. Im Nachhinein wundere ich mich, dass ich so naiv war. Aber vielleicht kennst du das: Du sehnst dich so sehr nach etwas, dass du dir irgendwann vormachst, es gefunden zu haben.

Verlässt man den Ort nicht über die Küstenstraße, sondern nimmt man die schmale, ins Gebirge hinaufführende Straße, gelangt man zu den versteckt zwischen ausladenden Pinien gelegenen Ferienvillen, mit atemberaubendem Ausblick aufs Meer, kristallklaren Swimmingpools und weitläufigen, üppig blühenden Gärten. Dort leben glückliche, reiche Menschen, habe ich immer glauben wollen – und dass Julian und Tammy dazugehören. Doch das hat sich als Illusion herausgestellt.

Sechs Wochen vor dieser Sache hatte ich was mit Claas angefangen, muss ich vielleicht noch erwähnen.

Du musst dir Claas wie den lässigen Überflieger vorstellen, der in allen Fächern brilliert. Genau – schlaksig, mit braunen, wirren Locken, Hornbrille, einem meist spöttischen Grinsen im Gesicht und einem Blick aus den Augenwinkeln, der einem das Gefühl vermittelt, er wird gleich eine intelligente, witzige Bemerkung über dich machen und du denkst dir am besten jetzt schon eine schlagfertige Antwort aus.

Unsere Beziehung begann auf intellektueller Ebene, um das mal so auszudrücken. Ich bin nämlich auch eine Überfliegerin.

Claas gegenüber musste ich mich von Anfang an nicht dümmer geben, als ich bin – obwohl mir meine Mutter schon als kleines Mädchen mit dem altmodischen Horrorszenario drohte, als zu kluge Frau würde ich keinen abbekommen, ich würde nur alle verschrecken. Sie ist in manchen Dingen sehr altmodisch, reaktionär fast, aber das nur so nebenbei. Mir gefiel es, intelligent zu sein und von den Leuten für intelligent gehalten zu werden.

Mit Claas, den ich als Bruder Carolins kennenlernte, konnte ich wie mit sonst niemandem stundenlang über soziokulturelle Hintergründe des Zusammenbruchs irgendeines Weltreichs diskutieren oder über die Auswirkungen der Quantentheorie auf die zukünftige Medizin. Ihn interessierte das genauso wie mich.

Wenn wir uns richtig in Rage diskutiert hatten, küssten wir uns – und manchmal auch ein bisschen mehr.

Er war mein erster richtiger Freund, muss ich gestehen. Also der erste, mit dem ich einen echten freiwilligen Zungenkuss ausgetauscht habe –, eben nicht so einen wie den von dem Arschloch in der Jugendfreizeit, wenn du verstehst, was ich meine.

Vielleicht kannst du dir vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als Claas kurz vor den Sommerferien sagte: »Ein Freund von mir, dem ich Nachhilfe gebe, hat mich ins Ferienhaus seiner Eltern in Südfrankreich eingeladen. Ich hab mir gedacht, es wäre cool, wenn wir zusammen fahren.«

Und ich sagte: »He, cool.«

Ich hab die Schultage bis zu den Ferien gezählt, und zwar nicht nur einmal am Tag, wie sonst, sondern mindestens zehnmal am Tag. Ja, ich konnte es nicht mehr abwarten, endlich meinen Rucksack zu packen und mit Claas nach Südfrankreich abzuhauen. Die letzten Wochen hab ich zwei Schichten im Cafe gearbeitet, um noch das nötige Geld zusammenzukriegen. Und ich hasse diese Arbeit. Ich hasse den Geruch nach süßem Kuchen und milchiger Sahne, nach Putzmittel, mit dem nachher das Kuchenbuffet sauber gemacht werden muss, ich hasse meinen Chef, der die Frauen anglotzt, und ich hasse seine dauergewellte Mutter, die hinter dem Tresen über jede Portion herausgegebenes heißes Wasser wacht, als wäre es ein Goldbarren. Man kann sich also vorstellen, wie viel mir diese Reise wert war.

Ob ich in Claas verliebt war? Ich glaube, dass ich einfach davon ausgegangen bin, ja, weil es normal gewesen wäre. Schließlich passten wir doch zusammen. Beide Einserschüler, Außenseiter und wir beide hatten ehrgeizige Zukunftspläne. Ich wollte unbedingt Dolmetscherin bei der UNO werden und er, er wollte raus aus seiner spießigen Familie, hinaus in die Welt, am besten als Diplomat.

Und außerdem hat man sich doch in unserem Alter zu verlieben und einen Freund zu haben, oder?

Frankreich also. Bevor Claas und ich bei den Geschwistern eintrafen, hatten Tammy und Julian die Villa zum ersten Mal eine ganze Woche für sich allein. Ihre Mutter musste sich in einem Luxus-Wellnesshotel von einer Knie-OP erholen und ihr Mann, Dr. Wagner, Notar mit diesem typischen Ich-weiß-wie-die-Welt-funktioniert-Lächeln – ich hab ein Foto gesehen –, leistete ihr dabei Gesellschaft. Claas, der ja Julian Nachhilfe gab, war übrigens ziemlich beeindruckt von Dr. Wagner – und Dr. Wagner angeblich von ihm.

Gleich beim ersten Zusammentreffen mit den Geschwistern habe ich für einen Moment ein seltsames Gefühl gehabt.

Ich glaube, es war ihre Schönheit und Vitalität, die mich beeindruckte – und mir gleich darauf suspekt erschien. So, als müsste sich hinter dieser blendenden, leuchtenden Fassade etwas Düsteres, Hässliches verstecken.

Hinzu kam die fast unheimliche Ähnlichkeit. Dabei waren sie keine Zwillinge – Julian war fast anderthalb Jahre älter als seine Schwester. Aber beide hatten das gleiche weiche, leicht gelockte goldblonde Haar, die gleichen leuchtenden blauen Augen, dieselbe glatte und sich in der Sonne so mühelos tönende Haut. Und den gleichen Mund mit den vollen Lippen, die sich beim Lachen weit dehnten und perfekte kieselweiße Zähne freilegten. Sie trainierten ihre Körper auf mörderischen Mountainbike-Touren, steilen Klettersteigen, sie fuhren Snowboard, konnten endlose Strecken schwimmen und waren in all diesen Sportarten auch noch gut. Sie hatten einen Code aus einzelnen Worten, die für uns nicht viel bedeuteten, mit denen sie sich aber ganze Geschichten erzählten, sie warfen sie sich zu wie andere Bälle und jeder musste sich unweigerlich von ihnen ausgeschlossen fühlen.

Ihre schulischen Leistungen waren nicht ganz so überzeugend, erfuhr ich von Claas. Julian musste für das bevorstehende Abi-Jahr ziemlich viel aufholen – wofür sein Vater wie gesagt Claas engagiert hatte und bezahlte –, weshalb er seinem Sohn vorschlug, Claas – auch gern mit Freundin – ins Ferienhaus der Familie einzuladen.

Das Ferienhaus ist eine exzentrische Villa. Und, ich bin sicher, ohne dieses Haus wäre es wohl nie so weit gekommen, wie es gekommen ist. In den 1930er-Jahren wurde sie von einem wahrscheinlich mindestens genauso exzentrischen Musiker erbaut. Er musste ziemlich romantisch veranlagt gewesen sein, sonst hätte er sich nicht einen solchen Turm auf die erste Etage gebaut und auch nicht diese beiden dramatischen Sphinxe als Wächter auf die Terrasse gesetzt. Und erst der Pool! Zehn Meter lang und vier Meter breit, mit einer bequemen Treppe zum langsamen Eintauchen, Delfinmosaiken an Boden und Seitenwänden. Man hätte glauben können, man wäre im antiken Griechenland. Sogar der Wasserzufluss kam nicht aus Plastikdüsen, sondern aus drei geneigten Amphoren.

Schon im ersten Augenblick wurde mir klar, dass nicht nur die Menschen ihre Umgebung formen, sondern die Beziehung auch in der anderen Richtung funktioniert, dass die Umgebung die Menschen formt. Lebt man in einem Schloss, fühlt man sich recht schnell erhaben und auserwählt, glaubt, man kann sich alles erlauben und kann andere wie Leibeigene befehligen – lebt man in einer Blechhütte, weiß man, dass man durch Dreck und Unrat waten muss, um zu überleben und irgendwie weiterzukommen.

Ich denke an die Familie von Claas. Wie oft bin ich nach der Schule zu Carolin zum Hausaufgabenmachen gegangen. Ich glaube, seit der siebten Klasse. Bei Claas und seiner Familie drehte sich immer alles ums Geld. Ob die Kreditkartenrechnung fällig wurde, Telefon, Strom, Kabelfernsehen bezahlt werden mussten, die Rezeptgebühr beim Arzt waren Diskussionsgrund, das Benzin fürs Auto, die Miete ... von neuen Klamotten gar nicht zu reden.

Sein Vater arbeitete in der Stadtverwaltung und verdiente nicht das große Geld und seine Mutter hatte eine Halbtagsstelle als Sprechstundenhilfe bei einem Hautarzt.

Wie hätte wohl Carolin diese Villa in Les Colonnes gefunden, die zehn Monate im Jahr über leer steht und in deren Wohnzimmer ihre Dreizimmerwohnung reinpassen würde? Claas jedenfalls, daraus machte er kein Geheimnis, hasste seine Eltern für ihre Kleinbürgerlichkeit und dafür, dass sie seiner Meinung nach nicht genug aus ihrem Leben gemacht hatten.

Und hier, in der Villa, mit Julian und Tammy, konnte er endlich jemand anders sein. Auch ich habe geglaubt, hier etwas anderes leben zu können. Und so ist es ja auch gekommen. Nur ist der Traum vom anderen Ich in einen Albtraum umgeschlagen, von einem Moment auf den anderen.

Uns gehört der Sommer, haben wir gedacht. Claas und ich – und Julian und Tammy. Und er wird nie enden, er wird unser ganzes Leben lang dauern, so fühlten wir uns. Aber jener Sommer endete von einer Sekunde auf die andere, noch lange bevor sich die Blätter herbstlich färbten und morgens ein Dunstschleier auf dem aufgewühlten Meer lag.

Wenn es dunkel wird

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