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ОглавлениеIn den Siebzigerjahren ging die Villa samt Inventar in den Besitz eines englischen Schriftstellers über – eine mysteriöse Gestalt, die noch von Bedeutung sein wird –, der plötzlich verschwand. Seine Frau beschloss irgendwann wohl, er sei tot, und verkaufte das Haus an die Wagners. Ich habe mich unzählige Male gefragt, ob alles anders gekommen wäre, wenn wir das mit dem Schriftsteller nicht gewusst hätten. Dann wäre die Villa eine extravagante Ferienvilla gewesen, aber so umgab sie von Anfang an ein düsteres Geheimnis, das eine eigentümliche Anziehung auf uns ausübte.
Als ich wieder zu Hause war und nachts nicht schlafen konnte, stand ich oft auf, ging zum Fenster, starrte auf den dunklen, stummen Wohnblock und den Schuhladen gegenüber und dachte: Wir haben es vermasselt.
Ich versuchte, den Moment zu finden, in dem sich unser Schicksal gegen uns gewendet hat. Vielleicht gab es mehrere Momente, vielleicht hat sich auch gar nichts gewendet, vielleicht war alles von Anfang an, von unserer Geburt an so angelegt. Was, wenn es einfach unser Schicksal war?
Das Leben gibt dir, was du brauchst, hat meine irische Großmutter immer gesagt, wenn ich die Ferien über bei ihr war und sie mir das Kartenlegen beibrachte.
Wie in einer ewigen Bildschleife haben sich seit unserer Rückkehr immer wieder die Erinnerungen an die Tage in Frankreich in meinem Kopf abgespult – und irgendwann fing ich an, mir auch die Tage vorzustellen, bevor Claas und ich in der Villa eintrafen:
Die erste Woche hatten Julian und Tammy die Villa für sich.
Julian liegt auf dem Rücken, hat die Arme seitlich ausgestreckt und klatscht von Zeit zu Zeit mit den Handflächen auf das glitzernde Wasser des Swimmingpools. Sein Handgelenk fühlt sich ungewohnt leicht an, seitdem er das gelb-grüne geflochtene Freundschaftsarmband abgerissen hat. Heute, vor einer Woche. Aber eigentlich, eigentlich ist es besser so. Gina und er hatten sich nur noch gestritten. Er schiebt die Ray Ban wieder auf die Nase und genießt das sanfte Wogen der Luftmatratze auf dem Wasser. Das Leben kann so einfach sein. Endlich kann er wieder, wenn er zurück in München ist, mit seinen Kumpels ins Sausalitos gehen, trinken, feiern und snowboarden – und mit anderen Mädels flirten. Er streckt den Fuß ein wenig aus und versetzt der Luftmatratze seiner Schwester einen leichten Stoß.
»He!«, protestiert sie, er lacht.
»Mann, du erschreckst mich jedes Mal«, sagt sie verärgert. Tammy sonnt ihren Rücken und hat die Arme unter der Stirn verschränkt.
»Das mach ich nur, damit du dich mal rührst und keinen Sonnenbrand kriegst«, gibt er zurück.
»Krieg ich eh nicht«, murrt sie.
»Sicher?«
Tammy antwortet nicht, dreht ihren Kopf in die andere Richtung und döst wieder ein. Er kennt ihre Träume. Sie ist Model in L. A. und verdient Millionen. Sie strahlt überlebensgroß von Hauswänden und fährt mit ihrem Porsche Cabrio auf die coolsten Partys, umgeben von lässigen Typen, die Kohle haben. Julian schließt die Augen. Vielleicht sollte er einfach auch nach L. A. gehen, vielleicht fände er etwas, was ihm Spaß machen würde. Etwas mit Sport vielleicht oder mit Fotos. Oder er könnte auch modeln.
Ein winziger Vogel auf der Spitze der Zypresse schlägt ein seltsames Klopfen an. Sonst ist es still. Da kein Wind geht, dringt das Meeresrauschen nicht zu ihnen herauf, obwohl man von hier oben das Meer bis zum Horizont sehen kann.
Eines Nachts hab ich hier zu Hause diesen Vogel gehört. Oder ich habe es mir eingebildet. Aber ich musste aufstehen und aus dem Fenster hinaus auf die dürren Bäume sehen. Natürlich hab ich keinen Vogel entdeckt, aber ich habe noch eine ganze Weile auf den Wohnblock gestarrt, in die dunklen Fenster. Warum ist nur alles so schiefgelaufen?
Aber zurück zur Villa.
Julian, stelle ich mir wieder vor, dreht sich auf den Bauch und sieht ins kristallklare Wasser. Auf der Luftmatratze treibt er über dem Bodenmosaik mit dem springenden blauen Delfin dahin und denkt an seine Mutter, die vor vier Jahren beim Anblick des Delfins einen Entzückensschrei ausstieß und sagte: »Dieses Haus will ich und kein anderes!«
Julian erinnert sich, wie er mit Tammy sofort durch den verwilderten Garten streifte auf der Suche nach verborgenen Höhlen oder einer Leiche. Denn der Vorbesitzer der Villa – eben jener Schriftsteller – war von heute auf morgen verschwunden und keiner wusste, ob er nicht vielleicht sogar hier gestorben war.
Nachdem sie damals keine Leiche im Garten fanden, erinnert er sich, suchten sie im Haus weiter. Julian schmunzelt, als er daran denkt, wie Tammy, damals noch dreizehn, hinter ihm herschlich, wie sie jede Truhe, jede Wand abklopften und in jeden Schrank sahen, ohne eine grausige Mumie, ein paar Knochen oder einen Schädel zu finden.
Julian lässt wieder die Hände ins Wasser klatschen. Ein paar Spritzer landen auf Tammys gebräuntem und durchtrainiertem Rücken.
Jetzt im August brennt die Sonne so erbarmungslos, dass sogar Sonnenanbeter wie Tammy und Julian gern unter den Schatten des Sonnensegels flüchten, später, am Nachmittag, sogar ins Haus. Selbst nachts kühlt es kaum ab, sodass sie am Morgen schweißgebadet und müde aufwachen. Der Gärtner Vincent, der während des Jahres und der Abwesenheit der Wagners nach dem Rechten sieht, meinte gleich bei ihrer Ankunft, so einen Sommer habe es schon lange nicht mehr gegeben. Er erzählte ihnen etwas von Hitzetoten in Marseille und dass das mit der Klimaerwärmung noch ein ganz, ganz schlimmes Ende nähme. Mit einem Blick auf Julian und Tammy fügte er hinzu, er wäre froh, dass er nicht mehr so jung sei wie sie. Er würde die schreckliche Katastrophe, wenn die Meere alle Inseln und Küstenorte unter sich ertränkten, nicht mehr miterleben.
Die Geschwister zuckten bei seiner Bemerkung die Schultern, aber gleichzeitig spürten sie das nervöse Flirren der Hitze. Etwas lag in der Luft, sie wussten nur nicht, was.
Hab ich schon erwähnt, dass man vom Pool aus auf die Gartenmauer sehen kann, hinter der das Grundstück jäh zu der gewundenen Straße abfällt, die nach Les Colonnes und hinunter zum Meer führt? Links der Gartenmauer, auf dem Grundstück nebenan, wuchert ein verwilderter Garten. Und im Laufe der Jahre hat eine übermächtige lilafarbene Bougainvillea das Dach des Hauses dort überwachsen.
Von der Villa der Wagners hat man eine geradezu unverstellte Aussicht aufs Meer. Das ist ein überwältigender Anblick. Frei. Ohne Grenzen. Erhaben. Genauso fühlten wir uns. Als könnten wir nach unseren eigenen Gesetzen leben, nur weil wir jung und die einen von uns intelligent und klug und die anderen schön und reich waren.
Doch wir haben uns getäuscht.
An diesem Nachmittag am Pool – so stelle ich es mir vor – fragt Tammy von ihrer Luftmatratze aus: »Was essen wir heute Abend?«
»Ich hätte Lust auf Nudeln«, sagt Julian. Nudeln machen glücklich, hat er irgendwo mal gelesen. Kann ja nicht schaden, ein bisschen Glück zu sich zu nehmen.
»Nudeln? Wenn du sie kochst«, gibt seine Schwester träge zurück.
Julian kocht gern. Für Freunde, manchmal sogar mit seiner Mutter.
Julian lässt seinen Blick über den Garten wandern. Sie waren erst ziemlich spät aus ihren Betten gekrochen, verkatert von dem Abend mit den Geschwistern von rechts nebenan, die heute mit ihren Eltern zurück nach Deutschland gefahren sind.
Den Rand des Pools sowie die Terrasse mit der großzügigen Sitzlandschaft aus Korbgeflecht schmücken noch die Reste der gestrigen Party: Leere Gläser, Wodka- und Champagnerflaschen, Red-Bull-Dosen, ein paar Teller mit Essensresten, Wachsstummel abgebrannter Kerzen, in den Oleander- und Hibiskusbüschen hängen Chipstüten. Auf den Stacheln der Kakteen neben der steilen Natursteintreppe, die zur Terrasse führt, sind scharlachrote Papierserviettenfetzen aufgespießt.
Julian lässt das Wasser aus seiner Hand fließen, als wäre es Sand. »Morgen muss wieder Chlor rein. Die Sonne schleckt das Zeug weg wie Eiscreme. He, wir sollten auch Eis kaufen. Chunky Monkey oder Chocolate Brownie, na?« Er schließt die Augen, schmeckte die Schokolade, die Banane und die Kuchenstückchen auf der Zunge.
»Chunky Monkey oder Chocolate Brownie?«, wiederholt er lauter.
»Hm?«
Tammy gibt wieder keine Antwort. Er seufzt. »Okay, also Chunky Monkey und Chocolate Brownie.« Er grinst zufrieden. Es ist wunderbar, sich um nichts Ernsthafteres Gedanken machen zu müssen. Französischlemen zum Beispiel. Abi – was ist das? Gina – wer ist das?
Tammy gibt ein leises Brummen von sich, als ihre blaue Luftmatratze den Beckenrand berührt. Sie streckt die Fußzehen und stößt sich von den Fliesen ab. Ihre Matratze treibt auf die Mitte des Pools zu, stößt sanft an Julians Matte, worauf Julian sie zurückschubst.
»Hast du schon mal überlegt, wie es wird, wenn Claas und Mel kommen?«, fragt er. »Ich meine, ich hab mich gerade an den Zustand gewöhnt.«
Tammys blaue Luftmatratze eckt an seine rote.
»Ans Chillen.« Er schiebt die Sonnenbrille aufs Haar, das während des Sommers noch heller geworden ist, und blinzelt ins grelle Sonnenlicht. »Man hat überhaupt kein Zeitgefühl mehr. Vielleicht sind wir schon zehn Jahre hier. Oder zwanzig.«
Tammy gähnt. »Das wär mir aufgefallen.«
»Vielleicht wär’s gar nicht so schlecht.« Julian lässt die Brille wieder herabgleiten, faltet die Hände auf seinem flachen Bauch, den er selbst in den faulen Ferien trainiert.
»Was?«, fragt Tammy träge.
»Einfach hier so zu leben. Nichts tun.«
»Hm.« Tammy lässt die schlanken, muskulösen Arme rechts und links neben der Matratze ins Wasser hängen.
»Man bräuchte ja nur ein bisschen Geld fürs Überleben. Essen und so. Sprit für ein Auto«, träumt Julian weiter.
Der winzige Vogel auf der Zypresse stimmt wieder seinen Klopfgesang an.
»Wir könnten die Gegend erkunden«, fährt Julian fort, »wenn wir mal rauswollten. Weißt du noch, letztes Jahr wollten wir die lange Radtour machen, aber dann kam dieser ätzende Regen.«
Tammy dreht sich auf den Rücken. Ihr langes Haar wogt auf dem Wasser, er denkt: Wie ein Teppich aus goldenen Algen – und sagt: »Wir würden unser Zelt mitnehmen und Kochgeschirr. In der Speisekammer muss noch die alte Box mit dem Campingzeug sein. Mit diesen roten Emaille-Tassen.«
»Die man gar nicht anfassen kann, wenn was Heißes drin ist«, sagt Tammy und ihre Lippen kräuseln sich zu einem Lächeln.
Julian lacht leise. »Ja. Und dieser wacklige Campingkocher ...«
»... bei dem Mama immer panische Angst hat, dass er explodiert.« Mit niemandem kann er so lachen wie mit Tammy. Gleichzeitig. Mit denselben Bildern und Sätzen im Kopf.
»Wir müssen sie mal anrufen«, meint Julian jetzt. »Fragen, wie es ihr geht. Kannst du dir vorstellen, mit so einem Metallknie rumzulaufen?«
»Will ich mir nicht vorstellen« Tammy bleibt mit geschlossenen Augen liegen.
»In Japan haben sie Anzüge mit solchen Gelenken. Du ziehst einfach diesen Roboteranzug an und kannst wieder laufen. Oder kannst schweres Zeug schleppen. Einfach so. Cool.« Er hebt den Kopf. »Diesmal rufst du aber an.«
»Ich würde vor Langeweile sterben, wenn wir immer hierblieben«, sagt Tammy und gähnt.
Das Haar seiner Schwester umspielt seine im Wasser ruhende Hand wie zarter Tang. Trotz des etwas kühleren Wassers – er hat am Morgen frisches hinzulaufen lassen – schwitzt er. Die Mittagshitze ist inzwischen so heftig, dass sie das Harz in den Pinienstämmen und -zapfen aus den feinsten Rissen und Astlöchern presst und der würzige Duft die Luft erfüllt.
Auf einmal erfasst Julian eine Unruhe, die er sich nicht erklären kann. Sein Herz klopft unregelmäßig und viel zu heftig. Er zieht seine Hand aus Tammys Haar zurück und gleitet von der Matratze ins Wasser. Dann holt er tief Luft und lässt sich auf den blauen Mosaikboden sinken. Wie ein Fisch, der am Meeresboden Beute oder ein Versteck sucht, durchpflügt er mit kräftigen Arm- und Beinzügen zweimal den Pool. langsam fühlt er sich besser. Er sieht hinauf. Die beiden Luftmatratzen sind hier unten zu dunklen viereckigen Schatten geworden, während die Sonne wie durch ein Brennglas auf den Pool-Boden scheint. Und still ist es. Nur die Wasserpumpe brummt leise und vertraut. Ruhe erfüllt ihn wieder. Ihm ist danach, da unten zu bleiben. Alles ist so weit weg und kann ihm nichts anhaben.
Dass mir das alles nichts anhaben kann, das habe ich auch geglaubt, als ich mit Claas bei Julian und Tammy ankam: dass ich mit alldem nichts zu tun habe, dass ich mich zurücklehnen und zuschauen – und einfach meinen Spaß haben kann. Aber alles hat seinen Preis – auch dieser Sommer.
Als Julian wieder die Wasseroberfläche durchstößt, so male ich es mir aus, ist ihm, als wäre er stundenlang fort gewesen. Vom Meer ist eine leichte Brise aufgekommen, die frische, kühlere Luft heranweht.
Er schüttelt das nasse Haar, schnickt das Wasser aus seinen Ohren und zieht seinen trainierten Körper mühelos auf den Beckenrand hinauf. Tammy liegt noch immer auf ihrer Luftmatratze.
»Fühlst du dich manchmal auch irgendwie seltsam. Irgendwie verloren im Universum?«, fängt er an.
»Was?«, fragt sie teilnahmslos, ohne den Kopf zu heben. Er verzichtet darauf, die Frage zu wiederholen.· Er schüttelt noch mal den Kopf und springt auf die Füße. »He, was hältst du von einem Red Bull ohne Wodka zum Wachwerden?«
Tammy hebt eine Hand und streckt zustimmend den Daumen. Er geht tropfnass zur Veranda, in deren hinterem Teil sich eine Bar befindet, die ihr Vater stets mit einer ordentlichen Auswahl an Whiskey, Tequila, Wodka, Gin, Martini, Campari und Rum bestückte. Nur diesmal hat er – aus ersichtlichen Gründen – keinen Nachschub mitgebracht. Aber es sind immerhin noch Reste da. Julian nimmt zwei große Gläser aus dem Schrank unter der Theke und holt die Red-Bull-Dosen und Eiswürfel aus dem Kühlschrank. Von hier aus sehen der Pool mit den Liegen, den blühenden Büschen, der Steinmauer und dem blauen Strich Meer im Hintergrund aus wie die Werbung in einem Luxushotelprospekt. Genießen Sie die beste Zeit des Jahres, Sie haben es sich verdient. Er öffnet die Dosen und klopft die Eiswürfel aus der Plastikschale. Tammy steigt aus dem Wasser. Wie braun sie ist. Brauner als er. Und wie lang und muskulös ihre Beine sind. Das ist ihm erst dieses Jahr aufgefallen. Er sieht ihr zu, wie sie den Kopf neigt und mit beiden Händen ihr langes blondes Haar auswringt, wie sie es zu einem Zopf dreht und ihn über die Schulter legt. Er beobachtet, wie sie sich auf einer der weißen Liegen ausstreckt, langsam und geschmeidig wie eine Katze. Ihre Figur ist perfekt. Absolut perfekt. Der Gedanke an Gina drängt sich wieder durch seine Gehirnwindungen und versetzt ihm einen dumpfen Schmerz in der Solarplexus-Gegend. Gina ähnelt Tammy ein bisschen, ein ähnliches Lachen, ähnlich sportlich, ihr dunkles Haar erinnerte ihn immer an den schweren Magahonischreibtisch in der Kanzlei seines Großvaters. Und sie hatte immer so gut gerochen. Ach – was soll’s, soll sie doch mit diesem Angeber von der Sporthochschule rumhängen. Nach ein paar Wochenenden, an denen sie ihn von der Tribüne aus beim Schwimmen hat zusehen müssen, würde er ihr sicher bald langweilig.
Da sieht Tammy zu ihm herüber. Er fängt ihren Blick auf, lächelt flüchtig und widmet sich wieder den Drinks.
Ob er ihr sagen soll, dass sie ihr Oberteil anziehen soll?
Nein, was würde sie dann von ihm denken? Sie und Mama schwammen und sonnten sich hier und selbst unten am Strand immer oben ohne. Sie würde es ziemlich seltsam von ihm finden, wenn er plötzlich so ... so uncool wäre.
Entschlossen schnappt er die beiden eiskalten Gläser und schlendert grinsend zu ihr hinüber. »Ich habe die Drinks auf Ihre Zimmerrechnung gesetzt.«
Sie zieht die fein geschwungenen Augenbrauen hoch und erwidert gespielt verführerisch: »Ach und ich dachte, ich hab all-inclusive gebucht.«
»Wirklich? Dann erfülle ich Ihnen natürlich gern jeden Wunsch ...«
Er nimmt einen ordentlichen Schluck und legt sich auf die heißen Steinplatten ein wenig abseits der Liegestühle. Dann konzentriert er sich auf die kleinen weißen Wolken, die vom Meer heranziehen wie eine friedliche Herde Schafe.
Den Nachmittag verbringen sie wegen der Hitze drinnen im Haus. Tammy ist mit dem iPod im Ohr auf der Couch eingeschlafen, während er, Julian, mit der Originalfassung von Candide auf seinem Bett liegt und sich abmüht, dem Inhalt zu folgen. Nach knapp einer Stunde gibt er es auf. Es ist ja immer noch Zeit, sagt er sich und weiß, dass er sich etwas vormacht. Wenn er sich nicht anstrengt, kann er sein Abi nächstes Jahr vergessen. Er wirft einen Blick auf sein iPhone, das nutzlos auf dem polierten Nachttisch liegt. Man müsste ein Stück die Straße hochgehen oder sich an die entfernteste Ecke des Pools auf einen Stuhl stellen, um Empfang zu bekammen. Aber dazu hat er jetzt keine Lust. Es ist ein seltsames Gefühl, völlig abgeschnitten von der Welt zu sein. Er legt das Buch auf den Nachttisch mit den gedrechselten Beinen und fällt gleich darauf in einen Schlaf voller beunruhigender Träume, an die er sich aber schon nicht mehr erinnern kann, als er zwei Stunden später schlecht gelaunt aufwacht.
Es wird Zeit, dass Claas und Mel kommen, denkt er. Obwohl Claas ein intellektueller Ehrgeizling ist, kann er sich auch wie ein Kumpel benehmen. Außerdem ist Julian auf seine Freundin Mel – also auf mich – gespannt. Claas hat ihm auf seinem Handy ein Foto gezeigt. Aber da erkannte man nicht viel drauf. Das Bild ist zu weitwinklig aufgenommen und außerdem geblitzt. Dabei macht Claas sonst ziemlich gute Fotos, denkt Julian. Und: Hoffentlich ist sie nicht so eine Zicke.
Sein Mund ist trocken vor Durst. Aber er hat keine Lust aufzustehen. Träge und unentschlossen betrachtet er die hellblau-goldene Streifentapete, den gewaltigen alten Schrank mit den geschwungenen Spiegeltüren und den Schnitzereien, den dazu passenden Stuhl in der Ecke neben der Tür, über den er seine Klamotten geworfen hat, den Sekretär mit den Schubfächern und den anderen Schulbüchern, die er seit der Ankunft noch nicht angerührt hat.
Es gibt eine Regel hier im Haus, die nie gebrochen werden darf. Dieses Versprechen hatte ihre Mutter allen abgenommen, einschließlich ihrem Mann: Haus und Pool sollten unverändert bleiben. Keine Poster, keine Bilder dürften angebracht werden, keine anderen Tapeten (ein paarmal hatten sie neu tapezieren müssen, aber stets hatte seine Mutter alles darangesetzt, die gleiche oder zumindest eine möglichst ähnliche Tapete zu bekommen).
Auf dem Boden im Parterre, also im Eingangsbereich, im großen Wohnraum mit offenem Kamin und in der Küche ist ein Schachbrettmuster aus schwarzen und weißen Fliesen verlegt, in den oberen Räumen dunkel gebeiztes Parkett. In der Küche hängen zwar wie früher polierte Töpfe und Pfannen an der Wand, aber auf einen modernen Kühlschrank und einen Elektroherd hat dann selbst Frau Wagner nicht verzichten wollen. Auch einen Fernseher, wenn auch ein altes Teil gleich neben dem Kamin hat sie zugelassen. Doch wenn Julian am langen schweren Esstisch sitzt, über sich den Leuchter aus Hirschgeweih, kommt er sich vor wie in einem Film. Mit Matt Damon. Dieser Typ, der in die Rolle seines Freundes schlüpft.
»He!« Tammy reißt die Tür auf. Er fährt hoch. Er hat ihre Schritte auf dem knarrenden Parkett gar nicht gehört. Sie trägt ein Paar knappe Sportshorts und das enge Trägershirt, das er ihr mal aus Australien mitgebracht hat, und wirft seine Sportschuhe auf sein Bett.
Sie grinst ihr Piratengrinsen, so nennt er es immer, weil es was Verwegenes und manchmal etwas Hinterhältiges hat.
»Meinst du, dieser Schriftsteller«, sagt er noch immer in Gedanken, »dem dieses Haus gehört hat, lebt noch irgendwo, unter einem anderen Namen?«
»In drei Minuten geht’s los.«
»Oder vielleicht hat ihn jemand umgebracht? Ich meine, wieso verschwindetjemand so einfach?«
Tammy zuckt die Schultern. »Ist mir egal, ich geh jetzt biken und du kommst gefälligst mit, sonst werden wir fette Alkis wie in den Doku-Soaps. Ich fühl mich schon, als wär ich eine Stufe in der Evolution tiefer gerutscht.«
»Was wär daran so schlimm, ein Affenleben zu führen?«
»kh mag keine behaarten Hintern!«
»He, es gibt auch Paviane und die haben ...«
Sie hat sich schon umgedreht. »Du hast noch zwei Minuten, sonst fahr ich allein, Affenarsch!«