Читать книгу Sommernachtsschrei - Manuela Martini - Страница 10
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ОглавлениеDas Haus von Leonies Eltern besteht aus mehreren ineinander verschachtelten Würfeln aus Glas. Ihr Vater hat es entworfen, klar, er ist ja Architekt. Bambus und exotische Bäume – aus Asien, hat Leonie erklärt – wachsen in einem japanischen Garten mit Holzbrücke und Teich, auf dem rosa blühende Seerosen treiben. Letztes Jahr hat ihr Vater diese japanischen Koikarpfen reingesetzt. Sie sollen tatsächlich fünfunddreißig Jahre alt werden. »Stell dir das mal vor, Ziska«, hatte Leonie gesagt, »gibt es was Ekligeres als greisenhafte Goldfische?« Und dann leise hinzugefügt: »Die sollen total viel kacken!«
»Wie geht’s euren Koikarpfen?«, frage ich beim Aussteigen.
»Oh, die sind im Winter eingegangen.« Sie rollt die Augen. »Nadia hat ein paar Chlortabletten reingeschmissen, die wir sonst für unseren Swimmingpool nehmen.«
»Sie hat sie vergiftet?« Wie kann man Fische einfach vergiften? Sie sind doch absolut wehrlos!
»Komm, Ziska, diese Biester waren einfach nur widerlich. Schau, jetzt haben wir kleine, einheimische Goldfische – die nur ganz, ganz wenig Schmutz machen!« Sie lächelt fröhlich.
Ich gehe ein paar Schritte auf den Teich zu und werfe einen Blick hinein. Da schnappt ein kleines Maul gerade nach Luft. Wieso rege ich mich eigentlich so auf? Ich habe keine Fische vergiftet, sondern einen Menschen erschlagen.
»So.« Leonie wirft die Autotür zu. »Oh, Mist!« Sie starrt auf den Autoschlüssel. »Ich hab die Hausschlüssel schon wieder vergessen!«
»Und jetzt?«, frage ich.
»Entweder steigen wir durchs Kellerfenster ein«, sie zwinkert mir zu und ich erinnere mich, dass sie auch letztes Jahr schon immer ein Kellerfenster offen gelassen hat, wenn sie allein war und ausging. »Oder Nadia macht uns auf.«
Nadia ist Leonies jüngere, ziemlich durchgeknallte Schwester. Mit zwölf oder so hat sie ihren ersten Selbstmordversuch unternommen, mit den Schlaftabletten ihrer Mutter. Letztes Jahr hat sie es noch mal versucht, hat Leonie mir in einem ihrer Briefe geschrieben.
Leonie klingelt und die Tür wird automatisch geöffnet. Offenbar hat Nadia keine Lust, uns persönlich zu begrüßen.
Im weiten Vorraum mit den großformatigen abstrakten Bildern strömt mir ein Duft aus Vanille und Zitrone entgegen und ich bekomme schon wieder Lust auf Eis, obwohl ich gerade erst eins gegessen habe. Das Haus von Leonies Eltern hat mich schon immer beeindruckt, weil alles so hell und perfekt und außergewöhnlich ist. Dass man sich umbringen will, wenn man in einem solchen Haus lebt, konnte ich nie begreifen.
Ich folge Leonie über den Marmorboden die Treppe hinauf in den ersten Stock. Die Tür zum Gästezimmer steht auf, Leonie lässt mir den Vortritt. Ich bleibe erschrocken stehen. Auf dem Bett mit der roten Tagesdecke hockt mit gekreuzten Beinen: Nadia. Ganz in Schwarz.
Nicht ihre Anwesenheit erschreckt mich so, sondern ihr Anblick. So blass und dünn hatte ich sie nicht in Erinnerung gehabt.
»Hi!«, sage ich und lasse die Tasche vor den Einbauschrank fallen.
Sie legt den Kopf schief und sieht mich mit diesem sezierenden und doch zugleich teilnahmslosen Blick an. »Die Franziska!«, sagt sie und grinst säuerlich. »Dass du dich noch hierhertraust!«
»Raus hier!«, herrscht Leonie sie an. »Verschwinde in dein Zimmer!«
Ohne das Zucken eines Gesichtsmuskels rutscht Nadia vom Bett, schiebt sich an mir und Leonie vorbei und ist im nächsten Moment verschwunden. Wie ein Phantom, das sich einfach in Luft auflöst.
Leonie seufzt. »Sorry. Sie ist gerade mal wieder unausstehlich.«
Mich wundert es, dass ihre Eltern Nadia so einfach mit Leonie zu Hause lassen und in Urlaub fahren. Aber wahrscheinlich bin ich einfach zu spießig.
Leonie lässt ihren Blick durchs Zimmer schweifen, als suche sie etwas, das Nadia angerichtet oder verändert haben könnte. Offenbar findet sie nichts. Lächelnd sinkt sie aufs Bett und sieht mich an. »Also, jetzt bist du wieder da.«
Ich nicke.
»Und, wie ist es?«, will sie wissen.
Ich setze mich neben sie auf das weiche Bett und zucke die Schultern. »Na ja. Ich würde so gern die Zeit zurückdrehen und alles wäre wie damals. Und ... ich kann es nicht fassen, dass ich Maurice ...« Das schreckliche Wort kann ich nicht aussprechen. »Ich hab noch nie jemanden so, so ...«
»Geliebt?«, spricht Leonie aus, was ich nicht sagen kann.
Ich nicke nur.
Sie seufzt und sieht mich traurig an. »Sag mal ...«
»Ja?«
»Bist du ganz sicher, dass du übermorgen zur Party gehen willst?«
»Ja, deshalb bin ich doch hergekommen!«
Ob ich will oder nicht, ich MUSS. Ich muss mich erinnern, damit ich endlich wieder mein Leben leben kann. Ich muss einfach aus diesem Gedankenkarussell ausbrechen. Was hat mich so wütend gemacht, dass ich die Nerven verloren habe? Was hat er gesagt? Getan? Ich will aus diesem Nebel herausfinden.
»Aber du hast doch was von Schutzmechanismus der Seele gesagt. Hast du keine Angst, dass irgendwas passieren könnte?«
»Was?«
»Na ja, ein Zusammenbruch oder so.«
Ja, klar, denke ich, zucke aber die Schultern.
Skeptisch betrachtet Leonie mich. »Hast du denn gar keine Angst, wie die anderen reagieren, wenn sie dich wiedersehen?«
»Ein bisschen«, gebe ich zu, »aber das halt ich schon aus.« Etwas in Leonies Gesicht verrät mir, dass es komplizierter ist.
Ich verstehe. Ich trage ein Stigma, unübersehbar groß und deutlich, mitten auf der Stirn.
Leonie lehnt sich zurück, stützt sich mit einer Hand aufs Bett und spielt mit der anderen an ihren Haarsträhnen. Eine alte Gewohnheit.
»Sag mal«, sagt sie schließlich, »warum willst du ausgerechnet bei der Sommerparty dabei sein?«
»Aber das hab ich dir doch gesagt. Ich will mich erinnern, deshalb will ich alles, na ja, so weit es eben irgendwie geht, noch einmal so erleben. Die Party am See, das Bootshaus ...«
Über Leonies Gesicht fliegt ein Schatten, nur ganz schnell und kurz, dann lächelt sie wieder. »Erinnerungen tun immer weh, glaub mir.«
»Hast du das irgendwo gelesen?«, frage ich, worauf sie wissend lächelt.
»Nein, das ist meine eigene Lebensweisheit.« Ihr Blick wird wieder ernst. »Weißt du, man hat immer zwei Möglichkeiten.«
»Und die wären?«, frage ich.
»Entweder siehst du zurück oder du siehst nach vorn.« Schulterzuckend fügt sie hinzu: »So einfach ist es. Du kannst ewig in der Vergangenheit wühlen, dich vor Selbstmitleid zerfleischen, dich in Schuldgefühlen suhlen. Aber: dabei verpasst du dein Leben.« Sie lächelt. »Sieh nach vorn, vergiss endlich alles, Ziska! Es war eben ein ... ein Unfall!«
Sie will mich aufmuntern, aber ich will mich nicht aufmuntern lassen. Ich will noch einmal durch die Hölle gehen, bevor ich vielleicht anfangen kann zu vergessen. »Ich werde es versuchen. Später«, erwidere ich.
Sie schnipst mit dem Finger ihre Haarsträhne weg. »Glaub mir, es ist das Beste. Und du bist nicht die Einzige, die ... die in so was ... na ja, reingeraten ist. Du hast es ja nicht absichtlich gemacht. Es ist halt passiert. Himmel! Es passiert so vieles!«
»Leonie, ja. Aber ...«
»Aber was?«
»Aber ... es ist nicht so leicht, wenn du selbst betroffen bist.«
Sie seufzt. »Wer hat gesagt, dass es leicht ist, Ziska?« Ihr Augenaufschlag ist filmtauglich. Wie früher schon. »Und jetzt komm, Maya und Vivian können es gar nicht abwarten, dich endlich wiederzusehen.« Sie lächelt mich an und erhebt sich vom Bett.
»Leonie?«
Sie dreht sich um und zieht ihre Brauen hoch. »Was?«
»Und ihr steht immer noch zu mir, obwohl ...« Obwohl ich Maurice umgebracht habe – wieso nur kann ich diese Worte noch immer nicht aussprechen? »... ich so etwas getan habe?«, bringe ich den Satz schnell zu Ende.
Über ihr Gesicht zieht ein Lächeln. »Ach, Ziska! Weißt du, in so eine Situation kann jeder kommen! Unglückliche Umstände, wer weiß ...« Sie schüttelt den Kopf und hakt mich unter. »Ziska, es ist Zeit, dass du endlich kapierst, dass du unsere Freundin bist! Egal, was passiert ist. Und jetzt Schluss mit dem Quatsch! Du glaubst gar nicht, wie wir uns alle freuen, dass du die Sache hinter dir hast!«
Ich nicke, Leonie streichelt kurz über meinen Arm und geht dann nach unten. Ich bleibe noch einen Moment im Gästezimmer. Ein warmes Gefühl fließt durch meinen Körper. Ich bin froh, dass ich zurückgekommen bin. Und selbst wenn ich nicht herausfinde, was vor einem Jahr passiert ist, selbst wenn ich es nie schaffen werde, mich an diese dunklen Minuten in meinem Leben zu erinnern – ich habe Freundinnen, die zu mir stehen.
Mir ist warm, ich ziehe meine Jacke und meinen Kapuzenpulli aus. Das Papierknäuel raschelt in der Tasche.
Bleib, wo du bist, oder du wirst es bitter bereuen!
Das gute Gefühl, das ich noch vor einer Sekunde hatte, ist plötzlich wie weggeblasen. Was werde ich bereuen? Und wie bitter?
»He, Franziska Krause«, höre ich Leonie rufen, »du hast Post gekriegt!«
Ich laufe nach unten und sehe Leonie, die stirnrunzelnd ein Briefkuvert in ihren Händen hält und auf die Vorder- und Rückseite dreht. »Wer schreibt dir denn hierher?«
Ein Blick genügt und ich ahne, was das für ein Brief ist. Auf dem weißen Umschlag steht in gedruckten Buchstaben: Franziska Krause. Genau so sah er aus, der andere Brief.
»Da steht kein Absender drauf«, stellt Leonie fest. »Aber abgestempelt ist er hier in Prien.«
Ich schlucke und meine Hände werden feucht.
»Willst du ihn nicht aufmachen?«, fragt Leonie und sieht mich besorgt an.
»Ich weiß sowieso, was drinsteht«, sage ich und befehle meinen Händen, den Umschlag aufzureißen. Der Bogen ist blütenweiß wie der letzte. Auf der Mitte der Seite steht gedruckt:
Letzte Warnung: Fahr heim, sonst passiert etwas Schreckliches!
Leonie sieht mir über die Schulter. »Das ist ja gruselig«, flüstert sie. »Der meint es ernst, was?« Sie schluckt. »Du, Ziska, es tut mir leid. Ich hätte es vielleicht nicht so an die große Glocke hängen sollen, dass du zu Besuch kommst. Aber du weißt ja, hier in Kinding spricht sich ...«
Wut steigt in mir hoch wie eine züngelnde Flamme. »Und was will er dann tun, wenn ich nicht heimfahre?«
»Na ja«, Leonie seufzt, »Claude wäre es zuzutrauen, dass er dir auflauert und ... Ach, ich weiß nicht. Immerhin hast du seinen Bruder ...«
Sie kommt nicht weiter, ich fahre sie an: »Hör auf!«
Leonie ist zurückgewichen und nickt beschwichtigend. »Natürlich, Ziska, ich hab das nur so dahingesagt. Wirklich.«
Ich versuche, meine Wut unter Kontrolle zu bekommen, und atme tief durch. »Tut mir leid, Leonie«, murmle ich. Warum kann ich den Tatsachen nicht ins Gesicht sehen?
»Schon gut«, sie drückt meinen Arm. »Das alles muss so schlimm für dich gewesen sein.«
Ihr Mitgefühl tröstet mich. »Ja, war es!«, bringe ich noch heraus. Dann verbiete ich mir weiterzureden, sonst müsste ich wahrscheinlich anfangen zu heulen.
»Los jetzt, lass uns gehen. Die anderen warten schon auf dich.« Aufmunternd nickt sie mir zu.
Ich laufe nach oben, hole meine Umhängetasche, und als ich nach unten komme, sitzt Leonie bereits im Auto.
Nachdem ich eingestiegen bin, sieht sie mich besorgt an. »Also, ich will ja wirklich nicht darauf herumreiten, aber findest du nicht, wir sollten zur Polizei gehen?«
»Nein!« Ich schüttle den Kopf und spüre, wie meine Hände schon wieder anfangen zu zittern. »Ich will nichts mehr mit denen zu tun haben. Nie mehr!« Kommissar Winters Gesicht mit seinem fiesen Grinsen taucht plötzlich vor meinen Augen auf.
Leonie hat mein Zittern bemerkt, sagt aber nichts. Dafür bin ich ihr dankbar.
»Fahren wir!«, sage ich und Leonie lässt den Motor anspringen.
Der Wagen gleitet auf die Straße hinaus und ich beruhige mich langsam.
»Sonst passiert etwas Schreckliches ... Was? Was soll passieren?«, fragt Leonie. »Ein Unfall? Ein Mord?«
»Leonie, bitte!«
»Entschuldige«, sie zuckt die Schultern, »aber ich mache mir Sorgen.«
»Denkst du etwa, ich nicht?«, fahre ich sie an.
Ein paar Minuten herrscht Schweigen.
»Und wenn was passiert, das ...« Leonie bricht ab.
»Was?«, will ich wissen.
»Na ja, wenn etwas passiert, das man dir in die Schuhe schieben kann?«
»Du meinst, jemand will mich ...«
»Jemand will dich endlich hinter Gittern sehen, ja. Und wenn die Beweise bisher nicht ausgereicht haben, um dich in den Knast zu bringen, dann versucht er es halt auf die andere Tour.«
»Claude?«
»Denk doch mal nach, das wäre doch echte Rache!«
Wäre Claude zu so etwas wirklich in der Lage?
Nervös trommle ich auf den Türgriff, bis Leonie mich mahnend ansieht.
»Tut mir leid«, sage ich und halte meine Hand still.
An der Kreuzung vor dem Modehaus Radler schaltet die Ampel auf Rot und Leonie bremst ruckartig.
»Sieh dir diesen Niederreiter an! So ein Proll!« Leonie schüttelt angewidert den Kopf.
Neben uns an der Ampel hält ein offener roter Sportwagen. Der Fahrer zwinkert zu uns herüber. Ich kenne ihn – so wie jeder hier. Franz Niederreiter. Landwirt, Anfang dreißig, Bauer und Besitzer der Wiese unten am See am Bootshaus – und ortsbekannter Kampfhahn. Im Winter ist er Klischee-Skilehrer und im Sommer arbeitet er mit nacktem Oberkörper auf seinem Bauernhof. Das ganze Jahr über ist er braun wie ein knuspriges Grillhähnchen. Seine blonden Haare trägt er zum Pferdeschwanz zusammengebunden und an seinem Handgelenk prangen mindestens zehn Freundschaftsbändchen.
Die Polizei hat ihn nach dem Tod von Maurice auch befragt. Er hatte die Stromkabel für die Lautsprecher und die Beleuchtung von seinem Haus aus gelegt und jemand hatte behauptet, er habe ihn auch auf der Party gesehen. Allerdings hat seine Freundin ausgesagt, er sei ab zehn bei ihr in Prien gewesen.
»Blöder Angeber!«, schimpft Leonie, während Franz Niederreiter immer wieder aufs Gas drückt, um dann bei Grün sofort lospreschen zu können.
Früher habe ich ihn auch verachtet, genauso wie Leonie, Maya und Vivian, die gerne über sein Machogehabe herziehen. Aber jetzt, in diesem Moment, sehe ich ihn plötzlich mit ganz anderen Augen. Wir sind verwandt. Seelenverwandt. Wir sind beide Außenseiter.
Franz Niederreiter hat seinen besten Freund erschlagen. Im Suff. Da waren beide siebzehn. Jähzornig sei er, heißt es. Mehrere Jahre hat er im Gefängnis gesessen.
Als es endlich grün wird und er davonprescht, fühle ich mich schließlich doch erleichtert.
»Mist, ich muss unbedingt noch tanken. Blöd, eigentlich darf ich ja gar nicht fahren, aber wird schon gut gehen«, sagt Leonie auf einmal.
Tanken, auch das noch.