Читать книгу Sommernachtsschrei - Manuela Martini - Страница 9
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ОглавлениеEs ist seltsam, durch den Ort zu fahren. Da ist die Bäckerei Huber mit dem wagenradgroßen Holzofenbrot und den Zwetschgenfiguren im Schaufenster, daneben die Änderungsschneiderei Maria Paspalis mit dem weißen Spitzenvorhang, am Platz vor der restaurierten katholischen Kirche das Wirtshaus Zur neuen Post im Fachwerkhaus mit den üblichen üppigen Geranien an den Fenstern, schräg gegenüber das Modehaus Radler, in dem es seit Jahrzehnten dieselben langweiligen Oma-Sachen gibt, in der Seitenstraße ist der Elektrobetrieb, der mir mal mein Handy repariert hat ...
Obwohl ich alles wiedererkenne, bleibt es mir dennoch seltsam fremd. Als hätte ich irgendwann einmal einen Film gesehen und würde jetzt den Drehort besichtigen.
Leonie erzählt. Dass sie vor zwei Wochen David abserviert hat, dass Ron und Ike immer noch ziemlich scharf auf sie wären, sie die beiden aber nach wie vor ziemlich blöd und langweilig findet, vor allem sind sie schlechte Segler. Sie haben es doch tatsächlich geschafft zu kentern! Überhaupt sind alle Jungs am Augustinus unterentwickelt. Ach ja, Vivian geht wieder mit Hendrik aus der Parallelklasse, dem Mathe-Ass und Coolsten der Klasse, Maya kann sich wieder mal nicht entscheiden. Diesmal nicht zwischen Til und Zacharias. Til spielt Violine und Zacharias Klavier, der eine ist blond, der andere rothaarig. Unser Coffee Shop bietet nun auch Chai an und endlich gibt es eine neue Bar, in der sie Wasserpfeifen haben. Dorthin kommen sogar Jungs aus München. XS-Bar heißt sie, die ist ja so viel cooler als das Kuba, da geht jetzt sowieso keiner mehr hin.
Unglaublich, wofür man sich so interessiert, wenn man einen normalen Alltag hat. Ob ich vor einem Jahr auch so war? Es fühlt sich so an, als wäre es Ewigkeiten her, dass es mir wichtig war, wo es zwei Cocktails zum Preis von einem gibt. Ich lasse Leonie weiterreden. Ihre Stimme beruhigt mich, die Belanglosigkeit ihrer Neuigkeiten auch.
»Was?« Ein Name hat mich aufhorchen lassen. »Hast du eben von Claude gesprochen?«
Sie räuspert sich. »Ich wollte nicht ... ich hab in dem Moment gar nicht daran ge ...«
»Sag schon, was ist mit Claude?« Claude – auch für Fremde unverkennbar der ältere Bruder von Maurice, Anfang zwanzig, in seiner Freizeit Freeclimber – könnte mich bestimmt mit zwei Fingern mühelos erwürgen. Er hat mich nie gemocht. Und ich fürchtete mich immer ein bisschen vor seiner Launenhaftigkeit. Seltsam, wie unterschiedlich Brüder sein können, selbst wenn sie sich äußerlich noch so sehr ähneln.
Leonie holt Luft und sieht kurz zu mir herüber. »Ich wollte dich nicht gleich wieder mit der alten Geschichte ...«
»Jetzt sag schon!«, schreie ich sie an. Diese Ausbrüche sind neu. Sie kamen im Gefängnis. Nach Tagen des Schweigens brüllte ich plötzlich los. Dann merkte ich, dass diese Wut auch schon vorher in mir gewesen war, dass ich es nur irgendwie geschafft hatte, sie unter Verschluss zu halten. Mein Großvater soll jähzornig gewesen sein, hat meine Mutter mir anvertraut, nachdem die Gefängnispsychologin mit ihr über meine Wutanfälle gesprochen hatte. Als ob eine genetische Veranlagung mich zur Täterin gemacht hätte. Als ob meine Tat dadurch weniger schlimm wäre.
Die Ampel vor uns schaltet auf Rot. Der vordere Wagen bremst, aber Leonie fährt weiter.
»Leonie!«
Sie würgt den Motor ab. Immerhin stehen wir jetzt.
»Puh!« Leonie streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn und sieht zu mir herüber. Auf ihrer Stirn bilden sich Falten. »Okay«, sagt sie widerstrebend, »ich hab vor zwei Wochen Claude getroffen, zufällig. Er wollte wohl zu seinen Eltern oder so. Und da hat er gefragt, ob ich noch Kontakt zu dir habe. ›Ja‹, hab ich gesagt, ›hin und wieder.‹ – ›Dann sag ihr schöne Grüße und dass ich sie fertigmache, wenn ich ihr begegne.‹«
Und das erzählst du mir erst jetzt?, wollte ich sagen, doch ich bringe kein Wort heraus. Mir ist übel. Bleib, wo du bist, oder du wirst es bitter bereuen!
Der Brief. Abgestempelt in München – Claude studiert in München BWL ...
Claude.
Dessen jüngeren Bruder ich umgebracht habe.
Leonie sieht zu mir herüber. »Tut mir echt leid, aber ich wollte dich nicht beunruhigen. Ehrlich, deine Idee, hier ausgerechnet zur Sommerparty wieder aufzukreuzen, Ziska ... also ... Aber, sollen wir zur Polizei, es melden? Ich kann schließlich bezeugen, dass Claude dir gedroht hat. Vielleicht kriegst du Personenschutz oder ...«
»Was redest du da? Nur weil einer so was gesagt hat? Das ist lächerlich!«, kann ich mir den letzten Kommentar nicht verkneifen.
»Mann, du bist ja ganz schön cool geworden, Ziska!«
Ob sie es anerkennend meint oder ob sie mich einfach nur unvernünftig findet, weiß ich nicht.
»Ich habe mich die ganze Zeit versteckt, Leonie! Aber da hab ich keine Lust mehr drauf. Ich habe keine Angst!« Das stimmt so zwar nicht ganz, aber wenn ich wütend bin, habe ich tatsächlich keine Angst mehr. Eine wichtige Erkenntnis. Wenn ich wütend bin, schrecke ich offensichtlich vor nichts zurück.
»Schon gut, Ziska.« Leonie legt mir beruhigend eine Hand auf den Arm, zieht sie dann aber wieder weg, weil sie blinken muss. »Verstanden. Es ist einfach eine ... fatale Situation.«
Fatal heißt tödlich. Ich kann ihr nicht widersprechen.
»He, was hältst du von einem Eis?« Leonie fährt in die Bushaltebucht kurz hinter dem Venezia, dessen blaue Markise zu Kindings Hauptstraße gehört wie der Chiemsee.
Das Eiskaffee Venezia betreibt die Familie von Vivians Exfreund Jonas. Die Familie besitzt eine ganze Kette, das größte Café ist in München auf der Leopoldstraße. Früher – na ja, im letzten Jahr noch – brachte Vivian uns zu den Proben immer Eis mit.
Draußen sind alle Tische besetzt, obwohl auf dem Bürgersteig noch die Pfützen vom letzten Regen stehen.
»Pistazie und Malaga?«, fragt Leonie grinsend.
Ich nicke.
»Immer noch genauso altmodisch«, lacht sie und stellt das Warnblinklicht an.
Als ich aussteige, legt er sich wieder über mich, der dunkle Schatten, und ich höre, wie eine Stimme zu mir sagt: Pass auf, am besten verschwindest du sofort. Jeder weiß, was du getan hast.
»Was ist, Ziska?« Leonie dreht sich am Eingang nach mir um.
Ich schlucke, hebe das Kinn, schüttle den imaginären dunklen Schatten von mir ab, nehme mir vor, die Blicke der Leute zu ignorieren, und gehe geradewegs zwischen den Tischen hindurch zum Eingang.
»Alles in Ordnung?«, fragt Leonie.
Ich nicke und merke, wie ich schwitze, dabei ist es gar nicht so warm. »Fühlt sich schon ein bisschen komisch an. Als würden mich alle anglotzen.«
»Ach, das bildest du dir ein. Dich hat keiner angeguckt. Keiner kennt dich. Das sind sowieso alles Touristen.«
Ich will ihr glauben, aber so ganz funktioniert es noch nicht.
»Jetzt komm schon!«, sagt sie und ich folge ihr.
Den gläsernen Tresen mit den siebenundzwanzig verschiedenen Behältern, alle gefüllt mit cremig buntem Eis, habe ich mir oft vorgestellt, wenn ich nicht einschlafen konnte, weil meine ganze Welt nur aus grauem Beton bestand. Die buntesten Eisbecher hab ich mir in Gedanken zusammengestellt, mit noch bunteren Soßen und riesengroßen schneeweißen, duftigen Sahnehauben obendrauf.
Als ich den Blick von den Eisbehältern hebe, sehe ich, wie sie mich anstarrt. Ihr blondes Haar zu zwei Zöpfen geflochten, den Kragen des hellblauen Polos mit Venezia-Schriftzug steif hochgestellt, als wäre er Teil einer Rüstung. Ihre Blicke Speere und der metallene Eisportionierer in ihrer Hand ein fieses mittelalterliches Folterwerkzeug. Sophie Obermann war die Beste in Französisch in meiner Klasse gewesen.
»Sie geht mit Vivians Exfreund«, raunt mir Leonie noch zu und sagt dann fröhlich: »Hi, Sophie! Ich dachte, du jobbst hier nur am Wochenende.«
Sophie zeigt keinerlei Regung, als hätte man ihr den Strom abgestellt.
Das nimmt jetzt auch Leonie wahr, sieht mich an und begreift, dass ich das Objekt des Anstoßes bin, denn außer uns beiden ist niemand hier drinnen.
»Für mich Malaga und Pistazie«, bringe ich tatsächlich ziemlich cool heraus.
Sophies blasses Gesicht verfärbt sich fleckig rosa. Für einen Moment ist es völlig still, obwohl gerade noch auf der Straße ein Hund gebellt hat und ein Motorrad vorbeigefahren ist. Dann rammt sie den Eisportionierer in den Wasserbehälter und stemmt die Arme in die Hüften. »Verpiss dich, Franziska!«, presst sie hervor und ihre Lippen beben dabei. »Verschwinde und wag dich bloß nicht mehr hierher!« Ihr schneidender Blick trifft auch Leonie.
»Reg dich mal ab, Sophie!«, sagt Leonie und rückt so nah zu mir, dass sich unsere Schultern berühren. »Was soll dieser Aufstand hier eigentlich? Kriegst du überhaupt irgendwas mit? Sie haben Franziska aus Mangel an Beweisen freigelassen, schon vergessen?«
Leonies Worte sind sicher nett gemeint, aber ich zucke dennoch zusammen. Das klingt, als wäre ich doch schuldig, nur könnte es mir noch niemand nachweisen. Ist ja auch so – aber hätte Leonie es nicht anders formulieren können?
Sophies Augen werden schmal, als wären sie mit dem Messer in die Haut geschlitzt. »Noch schlimmer. Eine Mörderin, die davongekommen ist!«
»Halt die Klappe!« Mit einem blitzschnellen Griff habe ich sie am Kragen ihres dämlichen Polos gekrallt und hochgezogen, sodass wir uns über der Theke direkt in die Augen sehen.
»Ziska!«, schreit Leonie und hält meinen Arm fest, aber nichts und niemand kann mich gerade bremsen. Meine Kraft ist eine explodierende Bündelung all der Demütigungen in der Untersuchungshaft. Doch ich beherrsche mich und bringe mein Gesicht so nah an Sophies, dass sich unsere Nasen fast berühren. Ihre Augen weiten sich, es macht ihr Angst, mir so nah zu sein, als sei ich ein Vampir, der sie gleich aussaugen wird. Dann sage ich leise und so ruhig ich kann: »Malaga und Pistazie. In der Waffel, kapiert?«
Sie starrt mich hasserfüllt an.
Ich lasse sie los, und ohne mich noch einmal anzusehen, greift sie zu einer großen Waffel, setzt erst eine Malagakugel, dann eine Pistazienkugel hinein und steckt die Waffel in die Leiste mit den Löchern.
Wortlos lege ich die Münzen daneben, nehme mein Eis und sage zu Leonie: »Ich warte draußen.«
Vor dem Eiscafé auf der Straße fängt mein Körper an zu zittern. Als würde ich unter Strom stehen. Ich muss an Katie denken. Einmal hat eine Zimmergenossin sie dumm angemacht, hat sie Hinkebein und Krüppel genannt. Ohne mit der Wimper zu zucken, hat Katie sich auf sie gestürzt, hat sie mit einer Hand an der Gurgel gegen die Zellenwand gedrückt und gesagt: »Du nennst mich nie wieder so, kapiert?«
Ich muss schlucken. Das Eis schmeckt auf einmal so süß, dass ich das Gefühl habe, es würde meine Speiseröhre verkleben. Panisch schnappe ich nach Luft. Ist das aus mir geworden? Bin ich wie Katie ...
Ich schrecke zusammen, als ich plötzlich Leonies Stimme neben mir höre.
»Puh! War das wirklich notwendig?« Sie beißt ein Stück ihrer Eiskugel ab und verzieht das Gesicht, als würde sie erst in diesem Moment daran denken, dass das Eis ziemlich kalt war.
»Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte nur genickt und wäre ohne Eis abgezogen?«
»Nein, aber ...«
»Aber was?« Wieder ist da dieser Tonfall in meiner Stimme.
Sie zuckt zurück. »Mann, du warst ja früher auch kein Lämmchen, aber du bist ganz schön aggressiv geworden! War das der Knast?«
»Was wärst du wohl geworden, dadrin?«, fahre ich sie an. »Es waren nur zwei Wochen, aber du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie das ist, eingesperrt zu sein! Sich nicht duschen und die Haare waschen zu können, wann du willst! Keine Musik hören, kein Fernsehen, nicht telefonieren zu dürfen! Stattdessen sitzt du mit irgendwelchen Verbrecherinnen ...«
»Jetzt mal easy, Ziska, okay?«
Sie hält mein Handgelenk fest und ich merke, dass ich noch immer zittere. Aus Wut, Scham ... und Verzweiflung.
Langsam lässt sie mich los. »Geht’s wieder?«, fragt sie mitfühlend.
Ich nicke.
Sie lächelt und deutet auf mein Eis. »Es schmilzt, wenn man es nicht isst.«
Dafür habe ich Leonie schon immer gemocht. Sie kann total wütend sein und im nächsten Moment wieder lachen.
»Der kleinste Fleck im Auto macht meine Mutter hysterisch«, erklärt sie und so lehnen wir uns an die Motorhaube und genießen unser Eis unter einem freien blauen Himmel, über den der Wind weiße, bauschige Wolken wie Sahnehauben weht. Noch nie hat mir ein Eis so gut geschmeckt.
Ich lasse es nicht mehr zu, dass man mich demütigt. Auch wenn ich etwas Schreckliches getan habe.
Mein Handy klingelt. Meine Mutter, sehe ich. Ich habe ganz vergessen, sie anzurufen, obwohl ich es ihr versprochen hatte.
»Bist du gut angekommen, mein Schatz?«
»Ja. Alles okay. Ich esse gerade mit Leonie Eis.«
»Das ist schön. Franziska, versprich mir, dass du sofort anrufst, wenn irgendetwas ist, ja? Wir kommen und holen dich.«
»Ich kann schon allein mit dem Zug fahren«, sage ich, dabei weiß ich, dass sie es gut meinen.
»Pass auf dich auf. Und melde dich noch mal heute, ja?«
»Ja, klar.« Ich lasse das Handy in meine Jackentasche gleiten. »Meine Mutter«, erkläre ich. »Meine Eltern machen sich schreckliche Sorgen. Sie wollten nicht, dass ich fahre.«
Leonie zuckt die Schultern. »Manche Eltern sind so.«
»Ja!« Ich lächle sogar ein bisschen, obwohl ich ein schlechtes Gewissen habe. Ich wusste, dass sie sich Sorgen machen würden, und bin trotzdem gefahren.
»Sag mal«, sagt Leonie auf einmal und leckt den Rest Eis aus der Waffel, »du kannst dich wirklich nicht daran erinnern, wie es passiert ist?«
»Nein. Mir fehlen fünf oder zehn Minuten in meinem Leben. Die sind einfach weg.«
»Muss gruselig sein.«
»Ja. Ist es«, stimme ich ihr zu und stecke die Waffel in den Mund.
Leonie wirft ihre neben den Bordstein. »Komm, fahren wir.«
Ein paar Minuten später steuert Leonie den Mercedes über den sanft geschwungenen Weg aus gleißend weißem Kies direkt in den Carport.