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Vergangenheit

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Ich bin ihm das erste Mal an meinem zweiten Tag in der neuen Schule begegnet. Eigentlich wollte ich nach dem ersten Tag schon gar nicht mehr dorthin. Das in Kinding war einfach eine andere Welt, in die ich definitiv nicht hineinpasste. Die Welt von D&G, Lacoste, Hilfiger und Co.

Keiner trug H&M-Jeans wie ich. Wirklich keiner. Ich kam mir vor, als hätte ich statt Klamotten Kartoffelsäcke an.

Keiner hatte ein so unschickes Handy wie ich – ein Nokia, das man zwar nicht gerade als altmodisch bezeichnen konnte, aber es war kein iPhone und auch kein BlackBerry.

Nie im Leben habe ich mich so sehr zweiter Klasse gefühlt wie an dieser Schule. Für die meisten war ich einfach Luft.

Aber meine Noten, besonders in Physik und Mathe, waren so gut, dass mich meine Eltern unbedingt auf die Schule mit den besten Lehrern schicken wollten. Tja, und das war nun mal leider das Augustinus-Gymnasium.

Er fiel mir also auf, als ich am Morgen über den Schulhof ging. Die Sonne schien, es war Frühsommer und die Luft roch nach Heckenrosenblüten und war noch ein bisschen feucht von der Nacht. Wir hatten in der ersten Stunde Geschichte und ich hoffte, dass sie hier im Unterricht nicht weiter waren als an meiner alten Schule. Meine Eltern erwarteten, dass ich meine Zwei halten konnte ...

Daran dachte ich, als er plötzlich da war – inmitten all der Gesichter sah ich auf einmal sein Gesicht. Dunkle Locken fielen ihm in die Stirn und seine Augen sahen direkt in meine, als hätte er nur auf mich gewartet. Um uns herum tobten und lachten und redeten alle, nur wir waren still und sahen uns an. Ich hatte das Gefühl, als würde die Zeit stehen bleiben, als würden seine Augen mich in sich hineinziehen, an einen Ort, nach dem ich so lange gesucht hatte.

Das war Quatsch, das wusste ich, aber trotzdem, in dem Moment empfand ich es genau so. Wir mussten uns schon früher begegnet sein. In einem anderen Leben.

Und dann wurde mir plötzlich bewusst, dass ich inmitten einer Menge Leute stand, die mich abschätzig grinsend musterte. Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss, und mein Gesicht fühlte sich knallrot an. Schnell wandte ich den Blick ab und hastete an ihm vorbei, die Augen fest auf meine Sneakers geheftet, die mir auf einmal viel zu alt und schmutzig vorkamen.

Du bist total bescheuert, Franziska!, schimpfte ich mich. Glaubst du wirklich, dass dieser Typ sich ernsthaft für dich interessieren würde? Er trägt wie alle anderen Designer-Jeans, die neuste Ray Ban und sein Hemd sieht auch verdammt teuer aus! Was soll so einer an dir schon finden?

Erleichtert atmete ich auf, als ich ihn in ein anderes Klassenzimmer gehen sah. Er war in der Parallelklasse. Gott sei Dank.

Trotzdem musste ich an diesem Tag dauernd an ihn denken. In der Pause lief ich quer über den Schulhof und hielt nach ihm Ausschau, konnte ihn aber nirgendwo mehr sehen. Am Nachmittag konnte ich mich kaum auf meine Hausaufgaben konzentrieren. Du spinnst, sagte ich mir, schlag ihn dir aus dem Kopf! Warum sollte er sich für dich interessieren, wo doch alle anderen Mädchen in deinem Alter viel besser aussehen! Sie hatten coolere Klamotten, waren schlanker, größer und blonder, sie hatten längeres Haar, längere Beine und waren perfekt geschminkt. Wenn ich in den Schulstunden saß und die Mädchen im Klassenzimmer verstohlen musterte, kam ich mir plump, hässlich und unreif vor. So miserabel hatte ich mich noch nie vorher gefühlt.

In meiner alten Schule war ich einfach der Durchschnitt gewesen. Kaum eine meiner Freundinnen kam geschminkt in den Unterricht oder trug irgendwelche teuren Klamotten. Wenn jemand mit dem Auto zur Schule gebracht wurde, dann mit normalen Kombis oder Kleinwagen. Aber hier in Kinding fuhren irgendwelche fetten Mercedes oder Geländewagen vor, immer blitzeblank poliert, nicht selten waren eine Tasche mit Golfschlägern und ein Labrador im Kofferraum.

Ich kam mit dem Fahrrad. Einem Mountainbike wenigstens, auch wenn es nicht mehr das neuste war. In meinem Alter hatten viele hier Motorroller oder ein Motorrad. Hätte ich auch gern gehabt. Aber meine Eltern fanden, dass Steuer und Versicherung viel zu teuer wären. Ich überlegte sogar, mir einen Job zu suchen, um mir einen Motorroller kaufen zu können. In den Sommerferien – wenn die anderen nach Sardinien oder Florida oder in die Schweiz fuhren ...

Er hieß Maurice, wie ich am darauffolgenden Morgen erfuhr, als ich mein Rad vor dem Schulhof abschloss. Er war aus einem schwarzen Mercedes-Allrad-Geschoss ausgestiegen und kam zu Fuß den Gehweg zum Schultor entlanggeschlendert, die Lacoste-Umhängetasche baumelte lässig über seiner rechten Schulter. »He, Maurice!«, riefen zwei Jungs, die gerade ihre Motorroller abstellten.

Ich nestelte an meinem Schloss herum, um dann »zufällig« aufzublicken, wenn er nah genug bei seinen Freunden angekommen wäre. Nicht rot werden!, befahl ich mir, zählte stumm bis fünf und hob schließlich den Kopf. Doch da hatte er sich schon umgedreht und ging mit seinen Freunden über den Hof zum Schulgebäude.

Ich ärgerte mich unheimlich über mich selbst. Warum hatte ich hier nur solche Hemmungen? An meiner alten Schule, in meinem alten Leben hatte ich mir nie Gedanken darüber gemacht, ob ich es wert war, einen Jungen anzuschauen. Aber hier war alles um mich herum glänzender, größer, schöner, wichtiger, erfolgreicher ... und ließ mich dafür umso kleiner, hässlicher und losermäßig erscheinen.

Niedergeschlagen stapfte ich ins Schulgebäude.

Warum haben meine Eltern ausgerechnet hierherziehen müssen?, dachte ich wütend.

Sommernachtsschrei

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