Читать книгу Sommernachtsschrei - Manuela Martini - Страница 7
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ОглавлениеIst da frei?«, schreckt mich eine Stimme auf.
»Ja«, sage ich, ohne aufzusehen, hoffe, dass er sich weder neben mich noch direkt gegenüber ans Fenster setzt. Er nimmt den Gangplatz schräg gegenüber von mir.
»Schriftstellerin, was?« Er deutet auf mein Schreibheft.
Ich sehe ihn an, ohne ihn wirklich zu sehen.
»Sorry, tut mir leid!« Er ist sofort ernst geworden und macht eine beschwichtigende Handbewegung. »Ich wollte nicht ...«
Ich wende mich von ihm ab und er spricht nicht weiter.
In meinem früheren Leben, ich meine, bevor das alles passiert ist, wollte ich immer nett und freundlich zu allen sein, wollte dazugehören. Was hätte ich darum gegeben, so zu sein wie meine Freundinnen! Jetzt ist es mir egal, was andere über mich denken.
Wenn du versuchst, so zu sein, wie die anderen dich haben wollen, gibst du ihnen bloß Macht über dich. Das war einer der wenigen Sätze, die Katie immer gesagt hatte.
Katie lachte nie. Ihr Haar war büschelweise ausrasiert und sie hinkte. Dabei fehlte ihr nichts, behauptete die Ärztin.
Mit dem Hinken und der räudigen Frisur hat sie ihre Grenze verteidigt, die sie um sich gezogen hat, glaube ich. Das hielt alle fern.
Der Regen hat aufgehört. Draußen hinter den Scheiben zeigen sich jetzt ausgedehnte gelbe Getreidefelder und Autos rollen wie Spielzeug auf der Straße, die den Schienen folgt. Ich nehme alles in mir auf, sauge es ein in diese weite, hungrige Leere.
»Entschuldigung, ich wollte wirklich nichts Falsches sagen«, kommt es wieder von dem Jungen, der mir schräg gegenübersitzt.
Ich habe ihn ganz vergessen und betrachte ihn nun genauer, während er mich genauso unverhohlen mustert wie ich ihn. Sein blondes Haar reicht ihm fast bis auf die Schultern und fällt ein Stück über seine Augen. Seine Haut ist sonnengebräunt, sein Poloshirt verwaschen, am Handgelenk trägt er ein Lederband und mehrere bunte Bänder und am Mittelfinger einen breiten silbernen Ring. Die Finger ruhen auf den Tasten seines Notebooks. Plötzlich treffen sich unsere Augen und mein Herz beginnt einen Moment lang schneller zu klopfen. Schnell wende ich den Blick ab.
Blau. Nicht braun. Zum Glück.
Maurice hatte dunkelbraune Augen. Maurice ... wenn ich an ihn denke, krampft sich in mir alles zusammen.
»Sprichst du Deutsch?«, fragt er, ohne zu lachen, und sieht von seinem Notebook auf.
Er meint es ernst, kann es wohl nicht ertragen, wenn man sich nicht mit ihm unterhält, dabei gibt er sich doch solche Mühe.
»Immer noch, ja«, antworte ich.
Er lacht, verstummt wieder. Sieht mir in die Augen.
»Ich heiße Benjamin.« Er räuspert sich. »Wenn du willst ... ich meine, du musst ja nicht ... dann kannst du mir auch ... äh ... deinen Namen sagen.«
»Paula«, lüge ich. Habe ich mir angewöhnt. Mit einem falschen Namen kann ich mich unschuldig fühlen.
»Paula? Schöner Name.« Dann weiß er nicht weiter.
Erstaunlich, wie schnell man manche Menschen verunsichert, wenn man nicht so reagiert, wie sie es erwarten.
Hi, ich heiße Franziska. Meine Freunde nennen mich Ziska. Was machst du, Benjamin? Du fährst nicht zufällig auch nach Prien, in die Provinz, was? Welche Musik hörst du? Echt cool ... blablabla ...
Fahrerwechsel. Fahrkarten vorzeigen. Meine Hand zittert, als ich der Zugbegleiterin meine Karte gebe. Sofort denke ich an die morgendlichen und abendlichen Appelle, als man sich vor seiner Zellentür aufstellen musste und durchgezählt wurde.
Man ... ich schreibe schon wieder man. Dr. Pohlmann hat mir erklärt, dass ich das tue, weil ich mich damit distanzieren will, von der Person, die das alles durchgemacht hat. »Versuche, diese Person anzunehmen und zu lieben, egal, was sie getan hat. Erst dann kannst du wieder leben«, hat sie zu mir gesagt.
Ich kann mich nicht annehmen. Ich fürchte mich sogar vor mir.
»Wir haben etwa zehn Minuten Verspätung in Prien«, sagt die Zugbegleiterin und lächelt mich an.
»Du fährst auch nach Prien?«, fragt Benjamin mich, als die Schaffnerin weitergegangen ist.
»Ja.«
»Kennst du Prien?«, fragt er weiter.
»Ja.«
»Wirklich? Super! Ich hab dort einen Job bekommen. Aber ich war erst einmal zum Vorstellungsgespräch da. Viel scheint in Prien ja nicht gerade los zu sein. Ich hab keine Ahnung, was man da so machen kann. Am Wochenende, meine ich.«
»Baden gehen«, sage ich, ohne nachzudenken. Und schon überfallen mich die Bilder vom Lagerfeuer am See, vom Bootshaus, vom Mond über dem Wasser. Er war voll. Eine glänzende, goldene Münze ... Auch dieses Jahr ist zur Abschlussparty Vollmond, ich habe schon im Kalender nachgesehen.
»Cool. Ja, der See ist perfekt«, sagt er.
»Perfekt. Perfekt für was?«, bricht es aus mir heraus. Ich erschrecke vor meiner eigenen Lautstärke. Perfekt für einen Mord?
»Äh ... für ...«
Ich habe ihn total verunsichert. Ihn, der wahrscheinlich sonst nur mit seinem beringten Finger schnippen oder sein blondes Haar schütteln muss, und schon werfen sich die Mädchen an seinen Hals. Ich merke, wie Wut in mir aufsteigt.
Er wartet darauf, dass ich nett bin. Dass ich lächle, damit er dann auch lächeln kann, was ihn erleichtern und sich wieder gut fühlen lassen würde.
Ohne eine Erklärung drehe ich mich zum Fenster. In meinem früheren Leben hätte ich längst Herzklopfen gehabt und wäre nervös gewesen, weil mich so ein cooler Typ anspricht. Jetzt bedeutet es mir nichts mehr. Das letzte Jahr hat mich härter gemacht.
Er schweigt.
Also ... wo war ich stehen geblieben? Ich blättere in meinem Notizbuch und überfliege die geschriebenen Seiten. Doch ich kann mich nicht mehr darauf konzentrieren. Ich klappe das Heft zu, lege den Stift beiseite und sehe aus dem Fenster. Lasse die Landschaft vorbeiwischen. Die zwei Wochen im Gefängnis haben mich ausgehungert. Nach Farben und Tönen und anderen Gerüchen als denen nach Schweiß und billigen Parfüms. In meiner Zelle war ein Mädchen, deren Namen ich vergessen habe. Aber ich kann mich noch genau daran erinnern, dass sie jeden Morgen dieses ätzende, billige Parfüm benutzt hat. Wie früher vielleicht, als sie sich jeden Morgen für ihren Job als Supermarktkassiererin fertig machte. Das Parfüm war ein Teil ihrer Identität, an die sie sich verzweifelt klammerte, um sich in den grauen Gefängnismauern nicht ganz zu verlieren. Ich habe ihr Parfüm noch immer in der Nase, obwohl es schon fast ein Jahr her ist.
Ob das Mädchen wohl immer noch im Knast war? So wie Katie, die eine Haftstrafe von vier Jahren absitzen musste. Für Totschlag konnte man bis zu zehn Jahre bekommen. Mich musste man aus Mangel an Beweisen nach zwei Wochen aus der Untersuchungshaft entlassen. Wenn es nach Kommissar Winter geht, würde ich bald wieder eingesperrt werden. Für ihn ist es ein ungelöster Fall, der an seinem Ego nagt und den er zu Ende bringen will.
Doch bevor ich wieder ins Gefängnis muss, will ich mich erinnern, was zwischen mir und Maurice passiert ist.
Die Bremsen quietschen: Prien.