Читать книгу Sommernachtsschrei - Manuela Martini - Страница 11
7
ОглавлениеNoch immer ragt das grün-gelbe Tankstellenschild hoch über der Straße auf und unser ehemaliges Haus dahinter ist noch genauso grau und hässlich wie vor einem Jahr. Selbst jetzt bei Sonnenschein.
Seltsam, als Leonie an die Zapfsäule fährt, erwarte ich fast, dass mein Dad in seinem blauen, ölverschmierten Overall aus der Werkstatt kommt, die Hände an einem Lumpen abreibt und uns auf seine tapfere Art zulächelt. Was für ein Blödsinn.
Leonie tankt, geht zum Bezahlen nach drinnen, und als sie wieder einsteigt, wirft sie triumphierend ihr Haar über die Schulter und lächelt auf typische Weise. »Dieser Florian ist ein echtes Sahneschnittchen.«
»He, und wie hast du meinen Vater genannt?«, versuche ich es mal auf die lustige Art.
Sie lächelt, dann wird sie ganz plötzlich ernst. »Ziska, es ...« Sie holt tief Luft. »Ich wollte dir es schon so oft sagen ... dass es mir leidtut ... wie ich dich am Anfang behandelt habe. Ich war ziemlich gemein.«
»Stimmt!« Ich nicke und bin ein bisschen gerührt. Ich versuche, die unangenehmen Erinnerungen, die sofort wieder in mir aufsteigen, wegzuschieben.
»Eine richtig gemeine Kuh war ich! Kannst du mir das ...«, sie schluckt und ihre Augen glänzen, »kannst du mir das verzeihen?«
Ich umarme sie. »Ja«, bringe ich hervor.
Ihr Handy klingelt und wir lassen uns los.
»Maya, was gibt’s?« Sie zieht kurz die Nase hoch. »Ja – wir sind unterwegs – ja – nein, kein Problem – okay – bis dann.«
»Kann sie nicht?«, will ich wissen. Hoffe in dem Moment sogar, dass es so ist. Ich weiß nicht, wie ich all diese Emotionen aushalten soll! Ich will nicht die ganze Zeit heulen!
»Doch, aber wir treffen uns bei ihr, nicht bei Vivian. Mayas Mutter musste nach München und Maya soll das Haus hüten. Die Haushälterin hat ihren freien Nachmittag.«
Ich sehe es vor meinem geistigen Auge, das Anwesen der von Klingbergs: das große restaurierte Bauernhaus mit den grünen Holzläden, die ausgedehnten Wiesen, auf denen die beiden Pferde grasen, die großzügige Terrasse mit Blick auf die Berge und den See.
»Ist was?«, fragt Leonie mit einem Seitenblick, gerade als sie in den Kiesweg der Einfahrt einbiegt.
»Ich hab nie wirklich zu euch gehört«, sage ich. »Ich hab es nur nicht einsehen wollen.« Und dann füge ich noch hinzu: »Stimmt’s?«
Leonie zögert und für einen Moment scheint es, als wolle sie antworten, dann aber sagt sie doch nichts, sondern parkt den Wagen vor dem rot blühenden Oleanderbusch und dem Porzellanmops. Erst als sie den Schlüssel abzieht, sagt sie: »Weißt du Ziska, du solltest endlich mal damit aufhören, dir ständig leidzutun.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, steigt sie aus und wirft die Tür zu.
Sie hat recht. Ich tue mir leid. Nachdenklich steige ich auch aus.
»Ziska! Endlich!« Maya kommt mir mit offenen Armen entgegen. Ihr wallendes blondes Haar fällt ihr perfekt glänzend über die Schultern, und als sie mich an sich drückt, kann ich das teure Shampoo riechen.
»Mein Gott, Ziska, wir hatten solche Angst um dich!« Maya legt den Arm um mich und schiebt mich über die Außentreppe zur Terrasse.
Dort sitzt Vivian im Schatten der uralten Kastanie auf dem Holzgeländer der Terrassenumzäunung, hält einen Kaffeebecher in der Hand und gähnt. Ihr kupferrotes Haar ist noch genauso zerrupft wie früher. Und das Augenbrauenpiercing hat sie auch noch.
Als sie mich sieht, rutscht sie herunter und streckt mir die freie Hand entgegen. »Na, Knacki! Wo hast du deine Eisenkugel gelassen?«
Sie lacht und ich will erst aufbrausen, doch dann merke ich an der Art ihres Lachens, dass sie selbst gemerkt hat, dass der Spruch ziemlich uncool war.
»Vivian!«, sagt da auch schon Leonie, »über so was sollte man keine Witze machen. Es ist nicht gerade lustig im Gefängnis!«
»Tut mir echt leid!«, sagt Vivian sofort. »War ein blöder Witz.«
Dann drückt sie Leonie ihre Kaffeetasse in die Hand und umarmt mich.
Maya kommt, stellt ein Tablett auf den Holztisch, der unter den Blattfächern einer großen Topfpalme steht, und sagt: »Ach, Ziska, es ist so gut, dich wieder hierzuhaben! Du hast uns so gefehlt!«
In ihren Augen stehen Tränen und ich schlucke gegen einen Kloß in meinem Hals an. »Ich hab euch auch vermisst«, bringe ich hervor und setze mich an den Tisch neben Leonie. Statt eines Sonnenschirms schwebt ein Palmblatt aus Holz über uns, gehalten von einem »Sarotti-Mohr«. Ein typisches Werk von Mayas Mutter.
Eine Weile sitzen wir einfach so da, ohne etwas zu sagen. Ich finde die Stimmung irgendwie beklemmend.
Dann fängt Maya an: »Es tut uns so leid, was du durchmachen musstest.«
Vivian sieht vom Tischtuch hoch und nickt. »Da ist man doch völlig ausgeliefert, oder?«
»Ja«, sage ich und es tut mir gut, dass sie mich verstehen.
Vivian holt tief Luft. »Wir haben versucht, dich irgendwie zu entlasten, du weißt schon, wegen Alibi und so. Aber dieser bescheuerte Ritter hat ja gleich gesagt, dass du es zugegeben hast.«
Stimmt. Olaf Ritter, letztes Jahr noch Referendar am Augustinus-Gymnasium, hat mich gefunden. Wie ich mich über den toten Maurice gebeugt und entsetzt gesagt habe: »Ich hab ihn umgebracht.«
»Du weißt, dass wir Freundinnen sind und alles füreinander tun«, sagt Maya nun. »Aber ehrlich gesagt hatten wir Schiss, bei der Polizei zu lügen ...« Sie wirft ihr engelartiges Haar zurück, fasst es im Nacken zusammen und lässt es wieder los.
Diese Geste ist so typisch für sie, genauso hatte sie es auch schon letztes Jahr immer gemacht, denke ich und beginne, mich ein bisschen heimisch zu fühlen.
»... das wäre doch ziemlich krass gewesen«, sagt sie schließlich und schaut zu Vivian und Leonie, die nicken.
»Ist schon klar«, sage ich. Sie hatten ausgesagt, dass wir alle betrunken gewesen waren und auch ein paar Pillen genommen hatten. Für die Polizei passte das prima in das Bild, das sie sich von mir gemacht hatten. Na klar, die ist ja schon mal wegen Alkohol aufgefallen. Hat ihren Vater bestohlen und andere in Gefahr gebracht. Ich hatte ja nie erzählt, wie es wirklich gewesen war. Die Mutprobe ...
Jetzt kommt der Kloß wieder hoch, den ich so oft schon runtergeschluckt habe. »Und warum habt ihr der Polizei nicht wenigstens gesagt, wie das damals mit dem Auto und dem Whisky wirklich war? Dann hätten sie mich vielleicht nicht so schnell abgestempelt!«
Sie starren mich an.
Leonie schluckt. »Wir hatten so entsetzliche Angst«, bringt sie leise hervor.
»Ja, Leonie hat recht«, sagt Vivian mit festerer Stimme. »Wir waren ... wir waren einfach ... einfach feige.«
Maya und Leonie nicken. »Ja. Vivian hat definitiv recht. Wir waren feige.«
»Ziska«, fährt Vivian fort, »wir wollen uns bei dir entschuldigen.«
»Ja, wir entschuldigen uns!«, sagt Leonie leise und Maya murmelt kleinlaut: »Bitte, entschuldige.«
»Und wir wollen dir damit sagen, dass du noch immer unsere Freundin bist!«, sagt Vivian aufmunternd.
»Vorausgesetzt«, wirft Maya ein, »du willst uns noch als Freundinnen.« Leonie nickt und alle sehen mich erwartungsvoll an.
Die Frage überrascht mich. Plötzlich fragen sie mich, nicht umgekehrt. Plötzlich wollen sie was von mir. Dass ich ihre Entschuldigung annehme.
»Wenn ihr mir versprecht, dass ihr mich nie wieder so hängen lasst.« Ich sehe ihnen fest in die Augen.
»Versprochen!«, antworten sie im Chor. »Versprochen!«
Sie haben es tatsächlich getan.
»Gut«, sage ich und spüre, dass der Kloß weg ist. Rasch wische ich mir eine Träne von der Wange. »Freundinnen für immer.«
Leonie klatscht in die Hände. »Super! Und jetzt hol den Eistee, Maya!«
»Ich hätte nichts gegen ’ne Wasserpfeife ...«, meint Vivian.
Maya stöhnt. »Die ist kaputt! Ist der blöden Putze gestern runtergefallen! Mum bringt mir heute eine neue mit. Falls sie es nicht vergisst. Ich ruf sie am besten mal an. Bin gleich wieder da.«
Leonie strahlt mich an und schiebt ihren Arm unter meinen Ellbogen. »Ich bin so froh, Ziska, dass alles vorbei ist! Jetzt wird es wieder wie früher.«
Vivian grinst.
Für einen kurzen Augenblick glaube ich das tatsächlich, doch dann weiß ich, dass das eine Illusion ist.
»Nein«, sage ich, »wird es nicht. Es wird niemals wieder so wie früher. Maurice ist tot.«
Vivians Grinsen verschwindet und Leonie nickt traurig.
»Ja, du hast recht. Aber wir sind am Leben und das Leben geht weiter.«
»Ja«, sagt Vivian, »wir leben weiter.« Sie greift über den Tisch nach meiner und nach Leonies Hand und wir halten uns so ein paar Sekunden, bis Maya kommt.
»He, stör ich euch gerade bei ’ner spiritistischen Sitzung? Wackelt der Tisch schon?« Sie rollt die Augen. »Oder sprechen die Verstorbenen aus dem Jenseits mit euch?«
»Wir haben an uns Lebende gedacht, Maya«, sagt Vivian ernst und lässt unsere Hände los. »Dass es weitergeht. Stimmt’s Ziska?«
»Ja«, sage ich und Maya nickt verständnisvoll und stellt das Tablett auf den Tisch. Im Krug mit der goldgelben Flüssigkeit klirren Eiswürfel.
»Du hast genug gelitten«, sagt Vivian und sieht mich an.
»Dann denken wir jetzt an Maurice«, sage ich und alle nicken. Ich muss mich zusammennehmen, um nicht zu heulen.
»So, jetzt gibt’s erst mal Spezial-Eistee für alle«, sagt Maya schließlich grinsend und füllt für jeden von uns ein Glas.
Spezial-Eistee war Eistee mit Tequila oder Wodka. Den hatten wir auch letztes Jahr getrunken. Als wir uns bei Maya trafen, bevor uns ihr Bruder auf die Party fuhr.
Nach dem ersten Glas sagt Leonie: »Ziska hat einen Drohbrief gekriegt. Er war in unserer Post.«
»Echt?« Maya und Vivian sehen mich aus großen Augen an.
Leonie nickt. »Fahr heim, sonst passiert etwas Schreckliches. Oder so ähnlich, nicht wahr, Ziska?«
»Verdirb uns doch nicht die Stimmung«, sage ich zu Leonie und ärgere mich, dass sie mich wieder an die Tatsachen erinnert.
»Etwas Schreckliches!« Maya verzieht das Gesicht. »Und was soll das sein?«
Leonie zuckt die Schultern. »Das ist es ja gerade. Ich glaube, Ziska soll Angst gemacht werden.«
»Und wenn es derjenige ernst meint?«, wirft Maya ein.
»Moment«, sagt Leonie. »Wir halten doch zusammen.« Sie sieht in die Runde.
Maya nickt und Vivian hebt mit feierlicher Geste das Glas: »Alle für eine und eine für alle!«
Ein warmes Gefühl durchflutet mich. »Danke«, bringe ich heraus und nippe hastig an meinem Eistee. Schon wieder brennen Tränen in meinen Augen. Diese ganze Situation überfordert mich irgendwie, dieses Wechselbad der Gefühle, die ganzen Erinnerungen ...
»Aber«, meint Maya besorgt, »man sollte so eine Drohung nicht einfach ignorieren. Schließlich ist ja schon – äh – genug passiert.«
Maya hat recht. Es ist genug passiert. Maurice ist tot.
»Ich bin sicher, dass Claude hinter den Briefen steckt«, sagt Leonie. »Dummerweise habe ich letzte Woche unten im Laden bei Pichlers Denise getroffen. Sie hat mich gefragt, ob ich wüsste, wie es Franziska geht. Und da habe ich ihr erzählt, dass Ziska mich besuchen kommt. Und als ich mich umgedreht habe, stand Claude direkt hinter mir in der Kassenschlange«, erzählt sie und wirft mir einen entschuldigenden Blick zu.
»Scheiße!«, sagt Maya und räuspert sich. Dann nimmt sie einen großen Schluck Eistee. »Na ja, man kann ihn ja ein bisschen verstehen«, meint sie schließlich leise und vermeidet es, mich anzusehen.
»War ja immerhin sein Bruder«, sagt Vivian und zerquetscht eine Mücke auf Leonies Arm. »Die wollte gerade stechen!«, erklärt sie Leonie, die angeekelt nach einer Serviette greift. »Aber mal ehrlich: Claude ist doch der Einzige, der davon profitiert hat, dass Maurice tot ist.«
»Was redest du da?«, frage ich.
Die drei sehen sich an. Ich scheine die Einzige zu sein, die keine Ahnung hat.
Vivian fährt sich durchs kurze rote Haar. »Claude schmeißt jetzt den Laden von seinem Alten.«
»Die Baufirma?«
»Ja.«
»Na ja, Daddy führt schon noch Regie, aber Claude ist definitiv sein Nachfolger. Und das nach DEM Skandal von Kinding.«
»Was für ein Skandal?« Ich habe keine Ahnung, wovon sie reden.
»Hast du damals echt nichts mitgekriegt, Ziska? Mensch, auf den Partys unserer Eltern gab es kaum noch ein anderes Gesprächsthema«, meint Vivian.
Klar, auf den Partys ihrer Eltern. Genau deshalb weiß ich von nichts. »Mensch, Vivian, lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!«, dränge ich.
Vivian blickt in die Runde und räuspert sich. »Claude hat so ungefähr vor einem Jahr einem Typen aus dem Bauamt die Frau ausgespannt! Na ja, hat sich in die Tussi verliebt mit allem Drum und Dran. Das war echt der Megaskandal! Wo doch sein Vater ohne seine Connections zum Bauamt seinen Laden dichtmachen kann. Jedenfalls war es für seine Eltern der Super-GAU. Seine Mutter ist wohl ziemlich ausgerastet. Von wegen, er braucht sich nicht mehr blicken zu lassen und so einen Sohn hat sie nicht zur Welt gebracht! Eine echte Drama-Queen, die Alte! Und sein Vater erst! Klar war, dass Claude auf keinen Fall mehr irgendwas mit der Baufirma zu tun haben sollte. Dabei wollte er ja nach seinem BWL-Studium da einsteigen.«
Vivian grinst und redet weiter. »Maurice hat sich aus der ganzen Diskussion rausgehalten. Hat wohl gedacht, die beruhigen sich schon wieder. Seine Mutter hat meiner Mutter erzählt, dass er einfach nur die Schultern gezuckt und gesagt hat, dass er dafür jetzt keinen Nerv hat.«
»Wann war das?«, frage ich ungläubig.
»Das war einen Tag vor der Party«, antwortet Vivian. »Hat er dir an dem Abend nichts davon erzählt?«
Stumm schüttle ich den Kopf. Panik steigt in mir auf. Oder hat Maurice es mir erzählt und es gibt noch mehr dunkle Löcher in meiner Erinnerung ...?
»Na ja, auf alle Fälle haben sich die beiden dann noch so richtig gefetzt. Claude ist ein Hitzkopf. Er war auf der Party und hat Maurice zur Rede gestellt. Von wegen Brüder und Loyalität und so. Er soll jedenfalls total wütend gewesen sein. Maurice hat ihn wohl einfach so abserviert.«
»Aber er hat mir nichts erzählt!«, wende ich ein. »Wenn das so ein schlimmer Streit war, warum hat er mir dann gar nichts davon gesagt?«
Leonie betrachtet die Eiswürfel in ihrem leeren Glas, dann sieht sie mich an. »Ziska, Maurice hatte an dem Abend doch nur noch Augen für dich. Meinst du, er hätte Lust gehabt, auf der Party mit seinem Bruder über die Tussi von dem Sesselfurzer aus dem Bauamt zu quatschen?«
»Warum hat mir das denn keiner von euch erzählt?« Meine Hand stößt das Glas vor mir um. Die gelbliche Flüssigkeit ergießt sich über den Tisch und tropft auf meine Beine. »Mist!« Die Eiswürfel liegen wie verirrte Hagelkörner auf dem Tischtuch, das jetzt nicht mehr weiß, sondern hässlich gelblich ist.
»Entschuldigung«, murmle ich und versuche, die Eiswürfel aufzusammeln, was mir nicht gelingt, weil sie mir durch die Finger flutschen.
Die drei sehen mich an, als wäre ich eine Irre. Na ja, wahrscheinlich benehme ich mich auch so. Ich seufze und lass das mit den Eiswürfeln sein. Jetzt nur nicht heulen. Nein, es kommen zum Glück keine Tränen.
»Das mit dem Streit zwischen Claude und Maurice hab ich erst vor ein paar Wochen erfahren«, erklärt Vivian. »Meine Schwester hat es von ihrer Friseurin und die ist mit der Freundin von diesem Franz Niederreiter befreundet.«
»Nicole Stoll, die mit dem Nagelstudio?«, fragt Leonie.
Vivian nickt. »Genau die. Die Tussi vom Bauamt lässt ihre Krallen nämlich bei ’ner Kollegin von ihr in München schärfen. Die Sache mit Claude ist aber durch. Frauchen ist wieder bei ihrem Herrchen vom Bauamt.«
Maya seufzt. »Ich weiß schon, warum ich mit meinem Friseur nur über Haare rede.«
»Eben. Jeder weiß doch, dass Friseure und Kosmetikerinnen die größten Tratschen sind«, stellt Leonie fest.
Ich greife zu meinem Glas, das Maya wieder aufgefüllt hat, und stürze den Inhalt hinunter. In meinem Kopf dreht sich alles, Gedanken überschlagen sich, ergeben auf einmal neue Zusammenhänge. Dinge fügen sich ineinander – und immer wieder stoße ich dabei auf Claude.
Claude war auf der Sommerparty. Claude und Maurice haben sich »gefetzt« ... Claude ist sehr stark und kann sehr wütend werden, das hat mir Maurice sogar mal gesagt. Und was, wenn ... Ich wage kaum weiterzudenken. Was wäre, wenn Claude ... also, wenn Claude in diesen fünf oder zehn Minuten, die mir in meinem Gedächtnis fehlen, aufgetaucht wäre ...?
»Aber Claude hat ein Alibi.«
Der Satz von Vivian trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube.
Vivian hebt die Augenbrauen und sieht mich ernst an. »Er soll schon um halb elf zu seinen Eltern gegangen sein.«
Sie hat meine Gedanken gelesen. Dass es Claude getan haben könnte – und nicht ich. Es ist lange nach halb elf passiert ... Wieder eine kleine Hoffnung zerstört. »Ist noch was im Krug?«
»Gut, das Zeug, was?« Leonies Augen glänzen und sie hakt sich wieder bei mir unter und seufzt. »Ach Ziska, sieh nach vorn! Glaub mir, das ist das Einzige, was dich retten kann.«
Ich will etwas sagen, doch die Wörter verirren sich in den kurvigen Gehirnbahnen. Ich trinke einen großen Schluck.
Leonies Gesicht schwebt dicht vor mir. »Alles okay?«
»Klar«, lüge ich, »alles okay. Der Eistee ist super.« Ich halte mein leeres Glas hoch und irgendjemand gießt mir ein.
Ich will mich nicht mehr erinnern. Von wegen, erinnern ist meine einzige Chance! Falsch, Dr. Pohlmann, vollkommen falsch! Meine einzige Chance ist zu vergessen!
Und ganz allmählich erfüllt mich Trost. Das Gefühl steigt in meinem Bauch auf und verteilt sich über mein Blut in meinem ganzen Körper. Lange schon nicht mehr hab ich mich so wohlig warm und aufgehoben gefühlt. Sehr, sehr lange schon nicht mehr. Eigentlich noch nie ... oder doch, ja, ein Mal in meinem Leben. Ein einziges Mal. Und jemand war dabei.
Ich versuche, das Gesicht ins Dunkel des Vergessens zu verdrängen, aber es gelingt mir nicht. Ganz deutlich lächelt es mich an. Ich erkenne das Grübchen am Kinn und die braune Locke in der Stirn. Ja, ich bin glücklich und fühle mich unsterblich.
Maurice. Das Gesicht gehört Maurice.
Aber dann beginnt das Gesicht zu zerfließen, in der Mitte entsteht ein Wirbel, ein Sog, der alles mit sich in die Tiefe reißt, in einen bodenlosen Abgrund.