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ОглавлениеDer Zug steht. Mir ist mulmig. Leonies SMS lautete: Hole dich ab. Die Frau vor mir hantiert an der Ausstiegstür. Und wenn sie es sich doch anders überlegt hat und in Kinding geblieben ist? Dann müsste ich hier in einen Bus steigen. Meine Handflächen sind feucht, ich wische sie an meiner Jeans ab.
Da ist wieder dieses Gefühl in mir, es überfällt mich wie ein dunkler Schatten: Ich hätte nie hierherkommen dürfen.
Nervös lasse ich meinen Blick über den Bahnsteig schweifen. Noch habe ich sie nicht entdeckt, aber das Türfenster ist zu klein und der Rücken der Frau, die immer wieder energisch den Türhebel nach unten drückt, verdeckt mir die Sicht.
Die Tür geht auf, ich hänge meine Reisetasche um und steige die Stufen hinunter. Ich sehe mich um. Viele Abholer. Doch weit und breit keine Spur von Leonie. Vielleicht hat sie sich ja verändert, seit ich sie vor einem Jahr das letzte Mal gesehen habe, hat ihr dunkles, langes Haar abgeschnitten oder blond gefärbt, trägt keine engen Sachen mehr, sondern lässig weite ...
Mein Herz stolpert. Einerseits freue ich mich so, sie wiederzusehen, andererseits habe ich wahnsinnige Angst davor. Wird Leonie mich noch genauso umarmen wir früher? Ihre Mails und Briefe haben mich immer wieder aufgebaut. Sieh nach vorn, Franziska, haben sie und Maya und Vivian geschrieben, das Leben geht weiter.
Plötzlich weiß ich, warum ich außerdem unbedingt hierherkommen musste, worum es hier auch geht: um Freundschaft. War es nicht das, was wirklich zählte? Die Briefe aus Kinding haben mir so viel gegeben, in der Zeit im Gefängnis und in der Klinik. Sie haben mir gezeigt, dass ich nicht alleine war.
Und wenn es nur aus Mitleid war?, meldet sich sofort wieder die zweifelnde Stimme in meinem Kopf. Wenn sie sich nur bei mir gemeldet hatten, weil ich ihnen leidtat? Wie viel hält eine Freundschaft wohl aus? Auch einen Mord? Verzeihen sie mir? Verzeihen sie mir, dass ich einen Freund von ihnen getötet habe?
Leonie hat Angst bekommen, denke ich auf einmal. Bestimmt. Plötzlich ist ihr klar geworden, dass sie unmöglich mit mir auf der Party auftauchen kann. Man wird sie mobben – und das würde noch das Harmloseste sein. Konnte unsere Freundschaft so viel Druck aushalten?
»He, Paula«, höre ich eine Stimme rufen.
Wie hieß er doch gleich? Richtig, Benjamin. Benjamin steht mit seiner Reisetasche und dem Laptop neben mir. Er ist ziemlich hartnäckig – und unerschrocken.
»Soll ich dich vielleicht mit dem Taxi irgendwohin ...«
»Nein«, falle ich ihm ins Wort. »Ich werde abgeholt. Sie kommt ein bisschen später.« Warum sage ich das? Um mir damit selbst Mut zu machen?
»Okay. Also ...«
Er geht noch immer nicht. Was will er denn noch? Er lächelt und zuckt ein bisschen verlegen die Schultern. »Wenn du mal einen Artikel von Benjamin Fischer liest, weißt du, dass ich der aus dem Zug bin. Chiemseer Echo.« Er muss lachen. »Du weißt schon, die ultimative Lokalzeitung hier, die, ohne deren Nachrichten man hier nicht überleben kann!«
Ein schwaches Lächeln kann ich mir abringen. Früher hätte ich laut mit ihm gelacht und gehofft, dass er mich nach meiner Handynummer fragt. So sage ich nur »Okay«.
Er geht, verschwindet im Gewusel in der Bahnhofsvorhalle und ich werfe wieder einen Blick auf mein Handy. Keine SMS. Bevor ich mir in meiner Fantasie noch länger ausmale, was Leonie dazu bewogen hat, ihre Entscheidung zu ändern, rufe ich sie lieber an.
»Franziska!« Leonie kommt auf mich zugerannt. Ihr Haar ist immer noch lang und schwer und sehr dunkel. Während der letzten sonnigen Wochen hat sie garantiert jeden Tag am See gelegen, so braun, wie ihre Haut ist. Und wie immer sieht ihre Schminke aus, als hätte sie stundenlang vor dem Spiegel gestanden. Sie strahlt übers ganze Gesicht.
Kurz vor mir bleibt sie stehen. Lässt die Schultern fallen, seufzt.
Einen Moment lang stehen wir uns so gegenüber.
Zum ersten Mal nach so langer Zeit spüre ich wieder ein Ziehen im Magen und in der Nasenwurzel. So wie früher, bevor ich weinen musste.
»Mensch, Franziska, du bist so dünn geworden!«, bringt Leonie noch hervor, dann fällt sie mir schluchzend um den Hals.
Und dann, erst ganz langsam und dann unaufhaltsam, drücken sich Tränen aus meinen Augen.
Wir stehen eine Weile so da, uns gegenseitig umarmend und weinend.
»Es tut mir so leid«, bringt Leonie schließlich hervor. »Wie schrecklich muss es für dich ...«, sie stockt, »... dort gewesen sein.«
Sie kann es nicht sagen, das Wort. Auch mir fiel es anfangs schwer: Gefängnis.
»Bitte, bitte, verzeih mir!« Sie schluchzt laut. Hinter ihr dreht sich ein Arbeiter in orangefarbenem Overall nach uns um.
»Wofür?«
Sie sieht mich an, noch immer schluchzend. Und ich muss an unsere Band denken. The Fling nannten wir uns. Es ist wie eine Erinnerung an eine andere Zeit. Lichtjahre her.
»Was soll ich dir verzeihen?«, frage ich noch mal.
Sie schluckt. »Dass ... dass ich dich nicht besucht habe.«
»Deine Eltern haben es verboten ...«, wende ich ein.
»Trotzdem«, sie schüttelt seufzend den Kopf, dann stiehlt sich ein Lächeln in ihre Augen, die noch feucht glitzern. »Wäre ja nicht das erste Mal, das ich was Verbotenes gemacht hätte«, murmelt sie und sieht mich dabei schief grinsend an.
»Mach dir keine Vorwürfe, Leonie. Es ist vorbei.«
Ihr Blick wird weich. »It’s over?«
Ich nicke. »It’s over.«
It’s over. Wir haben’s geschafft.Wir haben’s gemacht. Wir sind manchmal blind. Es ist die Zeit, die uns zeigt, wer wir sind.
Eine Strophe eines Songs unserer Band. Leonie hatte die Musik komponiert und ich den Text geschrieben. Maya spielte Bassgitarre und Vivian Schlagzeug. Wir traten bei Veranstaltungen unserer Schule und dann auch bei ein paar Sportveranstaltungen in der Gegend auf. Die Mädchenband vom Augustinus-Gymnasium in Kinding. The Fling.
Leonie tupft sich die Tränen ab, während sie die Melodie unseres Liedes summt und einen Autoschlüssel aus der Tasche zieht. »Fahren wir.«
Irritiert schaue ich sie an. Leonie wird erst in einem halben Jahr achtzehn. Sie ist ein Jahr älter als ich, weil sie einmal eine Klasse wiederholt hat. Trotzdem hat sie den Führerschein schon und darf in Begleitung ihrer Eltern fahren.
»Dein eigenes?«, frage ich, als sie den Schlüsselbund lässig um ihren Zeigefinger schwingt, und spüre wieder den altbekannten Stich in meinem Herz.
»Nein, mein Auto kommt erst nächsten Monat, irgendwas hat mit den Lieferzeiten nicht hingehauen.« Sie kichert.
»Hast du dir eine Speziallackierung bestellt, oder was?«, frage ich.
»Mhmm«, sagt sie und ihre Augen leuchten. »Cabrio. Tahiti Blau mit weißem Verdeck und weißen Ledersitzen!« Ihr Kopf zittert ein bisschen wie immer, wenn sie plötzlich von etwas begeistert ist. »Nicht schlecht, oder?«
»Cool«, sage ich und stelle mir vor, wie Leonie mit wehendem Haar in diesem Auto durch Kinding fährt.
»Zuerst fahr ich damit nach München!«, verkündet sie und bleibt auf dem Parkplatz vor einem silbernen Mercedes SL stehen und öffnet mit einer selbstverständlichen Geste die Türen mit der Fernbedienung. »Du weißt ja, meine Eltern sind nicht da. Dad hat einen Preis in Toronto gekriegt und danach haben sie sich für eine Woche ein Blockhaus an irgendeinem einsamen See dort gemietet.« Sie verdreht die Augen. »Immerhin haben sie dort ein Wasserflugzeug. Mein Dad war schon ganz aufgeregt, weil er mal wieder selbst fliegen darf.«
Als wir letzte Woche telefoniert hatten, hatte sie mir erzählt, dass ihre Eltern verreisen würden und ich deshalb bei ihr übernachten könnte. Zuerst war ich beleidigt, als Leonie mir sagte, dass ihre Eltern nichts von meinem Besuch erfahren sollten. Doch dann war ich sogar froh darüber. So ersparte ich mir wenigstens ihre verächtlichen, abweisenden Blicke und verletzenden Bemerkungen.
Selbst bevor es passiert ist, mochten sie mich nicht. In ihren Augen war ich die Tochter spießiger, langweiliger, ordinärer Tankstellenpächter. Kein Umgang für ihre Leonie und ihre Freundinnen, für die es das Normalste auf der Welt war, reiten und segeln zu gehen oder Golf zu spielen, die in den Ferien zum Sprachkurs nach London oder Paris geschickt wurden und zum Achtzehnten ein Cabrio geschenkt bekamen.
»Aber offiziell darfst du doch gar nicht allein fahren ...«, sage ich, als ich neben Leonie auf dem Beifahrersitz sitze.
»Nein, natürlich nicht«, sie zwinkert mir zu und dreht die Musik lauter, »aber das kleine Risiko kann ich schon eingehen.«
Ich schnalle mich an, lehne mich zurück und wünsche mir, die Fahrt würde ewig dauern. Aber Kinding liegt nur wenige Kilometer von Prien entfernt. Es ist klein und überschaubar. Jeder kennt jeden oder fast jeden – Geheimnisse lassen sich hier nicht bewahren. Bleib, wo du bist, oder du wirst es bitter bereuen. Meine Hand tastet nach dem Papierknäuel in meinem Pulli. Ich bin sicher, dass es schon viele wissen. Dass ich zurückgekommen bin.