Читать книгу Todbringende Entscheidung - Mara Dissen - Страница 5
ОглавлениеProlog
Schmutziggrauer Asphalt, schnurgerade, endlos, unterbrochen von notdürftig geflickten Schlaglöchern, gerahmt von unbefestigten, aufgeweichten Randstreifen, die sich scheinbar ins Niemandsland verlaufen, lädt nicht ein, schreckt ab. Vereinzelt freistehende Häuser, langgestreckte Flachbauten am Straßenrand, schäbig, abweisend, machen jedoch deutlich, dass Menschen den Kampf um ein
Dasein an diesem Ort noch nicht verloren, noch nicht endgültig aufgegeben haben. Hoffnung ist wieder aufgekeimt.
Über Jahre gemieden, in Vergessenheit geraten, ist die Straße von Ortskundigen zu einer der beliebtesten Ausweichstrecken auserkoren worden, seit Baustellenstaus die Umgehungsstraße nahezu lahmlegen. Die maroden Verhältnisse werden, wenn auch murrend, in Kauf genommen, lohnt es sich doch, die Häuser und Anlagen der schützenden Stadt, die sich am Horizont abzeichnet, nach einem langen Arbeitstag schneller zu erreichen. Nur selten hält ein Autofahrer an den primitiven, aus Holzlatten gebauten Ständen am Straßenrand, um sich mit angebotenem Obst, Gemüse, Süßwaren oder Erfrischungsgetränken zu versorgen. Die Autofahrer meiden Kontakte, fürchten unangenehme Erfahrungen mit den Vergessenen, sehen nicht das langsame Sterben der aufgekommenen Hoffnung zurückgebliebener Menschen.
Am Ende der Streusiedlung erfährt die Tankstelle jedoch seit Monaten einen Aufschwung. Preiswerteres Benzin als in der Stadt, eine große Auswahl an Alkohol für den Feierabend zu akzeptablen Preisen haben sie zu einer beliebten Anlaufstelle gemacht, an der man gerne auch einmal Warteschlangen in Kauf nimmt. Nach dem Ansturm des Feierabendverkehrs passt sich das Leben auf dem Gelände jedoch seiner Umgebung an, hebt sich nicht mehr von der allerorts ausströmenden Trostlosigkeit ab. Spärliche Notbeleuchtung, verschlossene Türen, fehlender Nachtschalter verleihen der Tankstelle Abend für Abend das irritierende Bild einer irrealen Wirklichkeit, unmissverständliche, unverschleierte Zeichen, dass nächtliche Kundschaft und Verkauf unerwünscht, ausgeschlossen sind. Man hat es schnell verstanden und verinnerlicht, hält sich fern nach Einbruch der Dunkelheit.
Gespenstisch werfen die verwilderten Sträucher neben dem Gebäude ihre Schatten auf den Zufahrtsweg, um sich mit den Schatten der Zapfsäulen zu vereinen. Nur schwer ist der schmale, unbefestigte Weg, der sich zwischen den wuchernden Zweigen hindurch schlängelt, in der Dunkelheit auszumachen.
Das Auto ist klein, bucklig, unbeleuchtet, von schwer bestimmbarer Farbe, der Motor ausgeschaltet. Es ist niemand mehr in der Nähe, der dem Fahrzeug Aufmerksamkeit schenken könnte, keine neugierigen Blicke, die den Menschen hinter dem Lenkrad zum Abtauchen veranlassen würden. Er fühlt sich sicher, lehnt entspannt, die Hände im Nacken verschränkt, mit der Schulter an der Fahrertür, ohne jedoch den schwach erleuchteten Verkaufsraum der Tankstelle auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Sein Interesse gehört der schemenhaften Gestalt hinter den riesigen Glasscheiben.
Mit energischen, schnellen Schritten bewegt sie sich zwischen den Verkaufsregalen, hält Notizen auf einem Klemmbrett fest, kehrt zur Registrierkasse zurück, wiederholt den Vorgang mehrfach, hat die Außenwelt für sich ausgeblendet. Dem Autofahrer zeigt sich die Silhouette eines zielgerichtet handelnden Menschen, unbeirrt die eingefahrenen Arbeitsschritte ausführend, den Feierabend herbeisehnend. Gesichtskonturen und Mimik werden jedoch nur unzureichend von der spärlichen Lichtquelle erreicht und bleiben dem Autofahrer unerschlossen. Er benötigt keine weiteren Einblicke, er weiß, wen er beobachtet.
Plötzlich vollführt die Gestalt hinter den Glasscheiben mitten im Laufschritt eine halbe Drehung, wobei sie die Arme, einem Flügelschlag ähnlich, ausbreitet, um sie sofort angewinkelt an den Körper zu pressen. Sekundenlang verharrt sie in dieser Stellung, scheint sich vor einer nicht greifbaren Gefahr instinktiv unsichtbar machen zu wollen. Nur zögernd befreit sich der Mensch aus seiner Starre, lässt die Arme sinken, schüttelt den Kopf, bewegt sich behutsam in Richtung Eingangstür, bleibt erneut stehen und legt das Klemmbrett, das wie ein störender Fremdkörper von seiner Hand gehalten wird, auf einem Regal ab. Entschlossen und zielgerichtet, wie noch vor wenigen Minuten, nähert sich die Gestalt mit weitausholenden Schritten der Glastür. Etwas zu hastig schießt der Kopf nach vorne und prallt mit der Stirn an die Scheibe. Der nachfolgende Fluch ist laut und ordinär. Das Gesicht wird von der diffusen Außenbeleuchtung erfasst und zeigt sich dem Autofahrer. Er richtet sich in seinem Sitz auf und verzieht die Mundwinkel zu einem leichten, ironischen Grinsen. Es ist für ihn bedeutungslos, dass er die Worte nicht hören, nicht von den Lippen ablesen kann. Er weiß um die verbale Schlagkraft der Tankwartin, der Frau, die ihr Gesicht an die Scheibe presst und in die Landschaft starrt.
Mit beiden Händen drückt sie sich von der Tür ab und scheint sich über ihr weiteres Handeln nicht im Klaren zu sein. Suchend schaut sie sich im Raum um, entdeckt ihr Klemmbrett, schenkt ihm jedoch keine weitere Beachtung. Im Zeitlupentempo wendet sie sich wieder der Tür zu. Gedankenverloren betrachtet sie den im Schloss steckenden Schlüssel. Blitzschnell schießt ihre Hand vor, versucht den Schlüssel zu drehen, erfährt die beruhigende Bestätigung, dass sie bereits bei Einbruch der Dunkelheit die Tür wie jeden Abend verschlossen hat.
Mit steinerner Miene entfernt sie das mit Tesafilm an der Glasscheibe befestigte weiße Papier, entrissen aus einem Notizblock. Bevor sie es zerknüllt und in die ausgebeulte Hosentasche ihres Monteuranzugs steckt, liest sie noch einmal den Satz, der mit schwarzem Filzstift auf dem Papier notiert ist, und der für den Bezahlvorgang der Kunden in den letzten Tagen so wichtig war. Die Hände in die Hüfte gestützt stapft sie hoch aufgerichtet durch den Verkaufsraum, steuert die Metalltür neben dem Tresen an, verschwindet, ohne sich noch einmal umzudrehen, in dem dahinter liegenden kleinen Lagerraum.
Die Körperhaltung des Autofahrers verändert sich. Seine Hände umklammern das Lenkrad, sein Oberkörper richtet sich senkrecht auf, sein Nacken versteift sich, der Blick wandert vom Tankstellengebäude auf den Beifahrersitz. Der Fahrer atmet mehrfach tief ein, lässt den Atem stoßweise entweichen, versucht seiner Anspannung entgegen zu wirken. Nachdenklich, als müsste er sich über die Richtigkeit seines Handelns vergewissern, betrachtet er den Rucksack, der sich in Farbe und Material vom Beifahrersitz kaum abhebt. Mit der rechten Hand zieht er ihn schließlich näher heran, bricht den Versuch, ihn hochzuheben, ab und schiebt ihn auf den Sitz zurück. Verunsichert fixiert er erneut die schwach erleuchtete Fensterfront, legt nach wenigen Sekunden den Kopf in den Nacken, starrt an die Deckenverkleidung, nähert sein Gesicht dem Innenspiegel und streicht sich in Zeitlupentempo eine Haarsträhne aus der Stirn.
Die grobgestrickte Wollmütze, die sich der Mensch auf den Kopf zieht, steht ihm nicht, macht alt, hässlich, verwandelt. Der Fahrer ist sich der verändernden Wirkung bewusst, will es so. Nach einem letzten prüfenden Blick in den Spiegel, stellt er seinen Mantelkragen auf, bindet sich einen Schal um den Hals und verbirgt sein Kinn darin. Vorsichtig öffnet er die Fahrertür, windet sich schnell und geschickt aus dem Sitz, drückt die Tür leise ins Schloss und umrundet das Auto. Die Beifahrertür lässt sich nicht geräuschlos öffnen. Der Fahrer erstarrt in seiner Bewegung, konzentriert sich auf die Umgebung, versucht Geräusche wahrzunehmen, die nicht in diese verlassene Gegend gehören, verräterische Geräusche, die auf unfreiwillige Zeugen, auf Mitwisser hinweisen.
Schnell ist sich der Autofahrer wieder in seiner Vorgehensweise sicher. Er zieht den Rucksack vom Sitz, will ihn sich aufsetzen, entscheidet sich anders, stellt ihn auf dem Boden ab, schiebt die Tür mit beiden Händen vorsichtig, zentimeterweise Richtung Schloss und lässt sie geräuschlos einrasten. Mit sich zufrieden, ergreift er den Rucksack.
Der Weg ist aufgeweicht, schlammig, mit Schlaglöchern und Wasserlachen übersät, erschwert dem Menschen das schnelle Erreichen seines Ziels. Schwer atmend bleibt er im Schatten eines Busches stehen. Er betrachtet den Matsch, der sich an seinen Schuhen festgesaugt hat, unternimmt jedoch keinen Versuch ihn abzustreifen und stapft zu den Pflastersteinen, die den Eingang der Tankstelle säumen, zeigt erneut Interesse für seine verdreckten Schuhe, reißt sich angewidert von ihrem Anblick los, sucht erst jetzt mit den Augen die Straße und die in Dunkelheit getauchte Brachlandschaft ab. Die Kontrolle ist flüchtig, gehört zum festgelegten, geordneten Ablauf und könnte auch entfallen. Er fühlt sich sicher, Unvorhergesehenes hat in seinem Plan keinen Platz. Konzentrierter wendet er sich dem Verkaufsraum zu, scheint das Vorgefundene mit Erwartungen zu vergleichen und stellt keine Abweichungen fest.
Der Mensch geht in die Hocke, öffnet seinen abgestellten Rucksack, versucht vergebens einen unförmigen Gegenstand zu entnehmen und holt verärgert zu einem Tritt gegen die Türeinfassung aus. Erdklumpen rieseln von seinem Schuh und breiten sich auf den Steinplatten aus. In seinem zweiten Versuch umfasst er den Gegenstand mit beiden Händen, spannt die Rückenmuskeln und legt unter Stöhnen einen Vorschlaghammer frei. Schwer atmend lehnt sich die Gestalt an die Glasscheibe und stellt das Schlagwerkzeug zwischen den Füßen ab. Entschlossen korrigiert der Mensch den Sitz seiner schwarzen Lederhandschuhe und umklammert erneut den Werkzeugstiel.
Die Gestalt unternimmt keinen Versuch, den Hammer über Kopf zu schwingen, weiß um seine fehlende Muskelkraft, schwingt ihn, dem Vorgehen einer Frau gleich, zwischen den breit gegrätschten Beinen, steigert die Geschwindigkeit und donnert ihn mit Wucht gegen die Eingangstür. Das Splittern des Glases zerreißt die allabendliche Stille, ohne eine Reaktion auszulösen. Der Mensch betrachtet sein Werk, lässt den Hammer erneut pendeln, verwirft sein Handeln, greift durch das fußballgroße Loch und führt seine Hand geschickt an den pfeilspitzen Glasscherben vorbei. Nach mehreren Versuchen gelingt es ihm, den Türschlüssel zu drehen. Vorsichtig zieht er seine Hand zurück und findet problemlos Einlass.
Den Rucksack eng an den Körper gepresst steuert der Einbrecher den Verkaufstresen an. Mit geschickten Händen zieht er die Lade der Registrierkasse auf, zeigt keine Verwunderung, dass er sie unverschlossen vorfindet. Es dauert nur wenige Sekunden bis er die Geldscheine in den Rucksack geworfen hat. Er bückt sich, greift zielgerichtet unter den Tresen, hebt den kleinen Koffer auf und wirft ihn ebenfalls in den Rucksack.
Sein immer wiederkehrender Blick zum angrenzenden Lagerraum ist weder von Angst noch Angriffshaltung geprägt. Ohne Hektik tritt er den Rückzug zur Eingangstür an, als die Tankwartin die Tür des Abstellraums öffnet und bewegungslos in der Türfüllung verharrt. Der Einbrecher entscheidet schnell, alternativlos. Mit wenigen Schritten hat er die Tankwartin erreicht, schubst sie in den kleinen Raum zurück. Der Schlag ist nicht kräftig, soll nicht sein, darf nicht sein. Der Körper der Tankwartin gerät ins Taumeln, die Beine verfangen sich in den weiten Beinen des Monteuranzugs. Der Einbrecher schlägt die Tür zu, rennt zur Ausgangstür, hört nicht mehr die spitzen, schrillen Schmerzensschreie, als die Tankwartin mit ihrem Körper auf die Werkbank knallt.
Das große, schwere Auto steht auf einer gepflasterten Einbuchtung, die sich auf der Durchfahrtstraße direkt gegenüber der Tankstelle befindet. Der Fahrer hat seinen Beobachtungsposten zu keinem Zeitpunkt verlassen. Mit aller Kraft unterdrückt er einen aufkommenden Brechreiz.
„Das wollte ich nicht sehen“, verhallt ungehört in der Dunkelheit.