Читать книгу Todbringende Entscheidung - Mara Dissen - Страница 7
2. Kapitel
ОглавлениеKurz vor einundzwanzig Uhr parkte Tanja ihr Auto auf dem Gästeparkplatz des Hotels. Die Nutzung war den Angestellten nur gestattet, wenn das Haus nicht voll ausgebucht war, und somit freie Plätze auch für das Personal zur Verfügung standen. Tanja hatte keinen Überblick über die Belegung des Hotels. Für die letzten beiden Tage hatte sie Urlaub genommen, was in letzter Zeit öfter vorgekommen war. Ihr Urlaubsanspruch war zusammengeschrumpft. Sie hatte sich nie Gedanken gemacht, ihrem Mann für die wenigen verbliebenen Resturlaubstage Rechenschaft abgeben zu müssen. Zu sehr war er in seine Bankgeschäfte eingebunden. Sie ging stets davon aus, dass er sich auch zukünftig nicht mehr als eine zusammenhängende Woche Urlaub mit ihr genehmigen lassen würde und hielt diese Anzahl von Urlaubstagen sorgsam zurück. Sollten ihm die Unregelmäßigkeiten auffallen, würde ihr eine Erklärung ohne große Verbiegungen spontan einfallen. Sie war stets davon ausgegangen, dass es dazu nie kommen würde. Nach seinem heutigen Auftritt war sie sich darin nicht mehr sicher. Notfalls müsste sie ihren Chef um ein paar Gefälligkeitslügen bitten. Es kamen bei ihr keine Skrupel auf, ihren Chef einzubinden. Deutlich hatte er immer wieder seine Zuneigung zu ihr zum Ausdruck gebracht, was ihre Kolleginnen und Kollegen mit Spott kommentierten, aus dem nicht selten Neid herauszuhören war. Tanja hatte eine Sonderstellung, die sie geschickt verstand, auszunutzen.
„Hi, Tanja. Du bist heute aber früh dran. Da kannst du nicht stehenbleiben. Wir sind voll ausgebucht. Ach ja, kannst du nicht wissen, warst ja nicht da. Wie waren die Urlaubstage?“, wurde sie aus ihren Gedanken von Lars aufgeschreckt, der eine Abkürzung zur Bushaltestelle über den Parkplatz nahm. Sie hatte ihn nicht kommen sehen. Seine oberlehrerhafte Besserwisserei konnte sie noch nie ertragen, bemühte sich aber trotzdem um die freundliche Antwort, die man von ihr erwartete.
„Es waren nur zwei Tage, und die waren ganz in Ordnung. Weißt du was? Ich bleibe hier einfach stehen. Einfach so. Nun reg dich nicht auf und steig in deinen Bus. Alles wird gut“, bedachte sie ihn mit einem aufgesetzten Lächeln und schob ihn am Oberarm Richtung Haltestelle. Es beunruhigte sie, dass ihre Urlaubstage Gesprächsthema waren, tat es aber schnell als Banalität ab.
Als sie das Foyer des Hotels betrat, wurde sie jedoch erneut mit dem Thema konfrontiert.
„Gut erholt? Hast dich wohl gelangweilt, sonst wärst du doch nicht so früh schon hier? Na ja, was kann man an zwei Tagen schon anstellen? Du hast dich übrigens noch gar nicht bedankt, dass ich vor einer Woche deine Nachtschicht übernommen habe. Was machst du nur in deiner ganzen Freizeit? Nein, sag es nicht. Ich will von deinen schmutzigen Abenteuern gar nichts wissen“, wurde sie kichernd von ihrer immer gut gelaunten, geschwätzigen Kollegin Moni begrüßt. „Weißt du was? Wenn du schon hier bist, könntest du mich als Dank ja auch schon jetzt ablösen“, fuhr sie erwartungsfroh fort.
„Tut mir leid, aber ich habe noch eine Verabredung. Sie müsste eigentlich schon da sein. Ich mache es bei dir die nächsten Tage auf andere Weise gut“, bemühte sich Tanja, das Gespräch schnell zu beenden und schaute sich suchend in der Halle um.
„Wenn du die Frau da hinten in der Ecke meinst, hast du aber seltsame Freunde. Die sieht komisch aus oder, ich sag mal, die hat irgendwas“, zeigte Moni enttäuscht auf eine dunkel gekleidete Person, die zusammengesunken auf dem großen Ledersofa kauerte.
„Schon gut, Moni. Du kannst beruhigt sein. Das ist meine Verabredung, aber sie ist nicht meine Freundin“, murmelte Tanja abwesend, während sie sich ganz auf die gezeigte Person konzentrierte. „Ach weißt du, vielleicht geht alles ganz schnell, und ich kann dich doch schon ein bisschen früher ablösen“, wandte sie sich, um einen lockeren Tonfall bemüht, erneut der Rezeptionistin zu.
Tanja mochte Moni und wollte sie nicht vor den Kopf stoßen. Sie kannte jedoch auch Monis Neugier, gepaart mit Naivität. Eine gefährliche Mischung, die ihre Kollegin schon mehr als einmal zu der Erfindung ausufernder Fantasiegeschichten verleitet hatte.
Tanja stellte sich die Frage, ob es eine gute Idee gewesen war, sich hier mit Petra, dieser auffälligen Erscheinung, vor den nach Sensation heischenden Augen ihrer Kollegin, zu treffen. Sie hätte Petra die direkte Annäherung auf diese Art und Weise verbieten müssen, wusste jedoch auch, dass sie dazu kein Recht hatte, ihre Führungsansprüche, zumindest vorrübergehend, verspielt waren. Für einen Rückzug war es zu spät.
Entschlossen, das Gespräch so kurz wie möglich zu halten, eilte Tanja mit ausladenden Schritten, von Moni beobachtet, zu der Sitzecke und ließ sich neben Petra auf das Sofa gleiten. Grazil schlug sie die Beine übereinander, warf Petra einen kurzen, prüfenden Blick zu und erfasste sofort, dass sie sich mit anklagenden Worten zurückhalten musste. Petra befand sich eindeutig in einer Stimmung, die beide schnell in eine nur schwer zu kontrollierende Situation versetzen konnte. Tanja mochte Petras direkte, offene Art, mit der sie Menschen in Verlegenheit bringen konnte. Sie verabscheute jedoch das mitunter hemmungslos angewandte vulgäre Vokabular, zu dem Petra fähig war, wenn Wut ihre Emotionen beherrschte.
„Was hat sich denn in den letzten zwei Tagen verändert, dass du mich unbedingt treffen musst?“, formulierte Tanja ihre Frage vorsichtig und war sich im selben Moment bewusst, dass Petra den Vorwurf heraushören würde. Gebannt betrachtete sie ihre Hände, die verkrampft auf ihrem rechten Oberschenkel lagen, wagte nicht weiterzusprechen und wartete auf eine Reaktion.
Sekunden zogen sich wie Minuten hin. Die Halle schien sich in einen von Geräuschen abgeschotteten Raum verwandelt zu haben, in dem auch Moni bewegungslos erstarrte. Ungeniert beobachtete die Rezeptionistin ihre Arbeitskollegin und den Gast, konnte nur deren Rücken erfassen und spürte die Anspannung, die von den Personen ausging. Als der Gast sein Gesicht Tanja zuwandte und scheinbar ohne emotionale Entladung zu ihr sprach, setzte Moni enttäuscht ihre Arbeit fort. Zu gerne wäre sie Zeugin einer größeren Auseinandersetzung geworden. Es ärgerte sie, an der Unterhaltung nicht als stiller Zuhörer teilhaben zu können.
„Er war wieder da, gibt einfach keine Ruhe. Der klammert sich richtig an mir fest. Manchmal habe ich das Gefühl, mich nicht mehr an alles zu erinnern, was ich ihm an den Tagen vorher gesagt habe. Rede dann einfach so drauf los. Das ist nicht gut, nein, quatsch. Das ist gefährlich, verdammt gefährlich. Ich bin fix und fertig.“ Petras letzter Satz war nur noch geflüstert, sodass sich Tanja vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. Irritiert über Petras Verhalten, das ihr vollkommen wesensfremd erschien, hob und senkte Tanja ihre Schultern, breitete die Arme seitlich aus und überlegte fieberhaft, wie sie auf diese Aussage reagieren sollte.
>Die dreht mir ab. Hätte ich nie von der gedacht. Von wegen Tobsuchtsanfälle, nix da, die klappt zusammen. Stell die ruhig<, schoss es Tanja durch den Kopf.
„Hast du noch Schmerzen?“, täuschte sie Anteilnahme vor.
„Na klar, was denkst du denn. Bin mit Tabletten zugedröhnt. Bin richtig, richtig dätsch.“
Tanja warf ihr einen langen Blick zu, zog es vor, die Aussage nicht zu kommentieren.
„Ich weiß immer noch nicht, weshalb du hierher kommen wolltest. Wir haben doch alles durch. Ich war doch vor zwei Nächten die ganze Zeit...“, unterbrach Tanja ihren Satz, als sie sah, dass Moni sich der Sitzgruppe näherte und fuhr flüsternd fort „bei dir und habe dir geholfen. Was willst du jetzt hier von mir?“, war sie kaum noch zu vernehmen.
„Moni, muss das jetzt sein? Auch du hast doch bestimmt mitbekommen, dass ich hier ungestört ein Gespräch führen möchte. Also geh an deine Arbeit und verschwinde hier.“
„Ich mache gerade meine Arbeit. Siehst doch, dass die Zeitschriften hier auf dem Tisch mal wieder neu geordnet werden müssen. Wenn du ungestört quatschen möchtest, mach das doch zu Hause oder geh in ’ne Kneipe“, quetschte Moni beleidigt eine Antwort heraus, drehte sich um und stolzierte mit durchgedrücktem Rücken zurück zum Empfangstresen.
„Also los, mach schnell. Wir können hier nicht ungestört reden. Meine Kollegin wird keine Ruhe geben, bis sie weiß, was hier gerade passiert. Zur Not erfindet sie was, und darin ist sie sehr einfallsreich. War wirklich kein guter Gedanke, hierher zu kommen“, fuhr Tanja ihren Gast an, ohne sich über die Wirkung ihrer Worte Gedanken zu machen.
„Du musst mir einfach nur zuhören und mich beruhigen. Das kannst du gut, ging doch vor zwei Tagen auch. Warum kommt der wieder, immer, immer wieder? Was will der ständig noch von mir? Der macht mir Angst. Ich habe es zuhause einfach nicht mehr ausgehalten. Ich muss mich wahnsinnig konzentrieren, immer wieder bei dem Gleichen zu bleiben. Der macht mich so verrückt, dass ich Angst habe, was anderes zu erzählen.“
„Und deshalb kommst du hierher? Das hättest du mir auch am Telefon vorjammern können“, schnauzte Tanja sie an.
„Ich wollte dich sehen, muss doch wissen, ob ich mich noch auf dich verlassen kann. Dafür muss ich dir in die Augen sehen können. Ich kann doch nicht zu dir nach Hause kommen. Du willst doch nicht, dass dein Mann mich kennenlernt“, beugte sich Petra flüsternd, mit schmerzverzerrtem Gesicht über Tanjas Schulter.
„Ja, und hier hast du genauso wenig aufzutauchen. Das war von Anfang an klar. Das gehört zu unseren Absprachen. Schon vergessen? Warum solltest du dich nicht mehr auf mich verlassen können? Wir haben das doch alles schon durch. Wie oft denn noch?“ Angstvoll blickte sich Tanja nach ihrer Kollegin um, die schnell den Kopf in die entgegengesetzte Richtung drehte.
„Wir können hier nicht weiter reden. Moni findet bestimmt einen Grund, hier wieder aufzutauchen. Ich bringe dich jetzt zur Tür und rufe dich heute Nacht zu Hause an. Bleib ruhig. Du bist vollkommen durch den Wind. Mach jetzt keinen Fehler.“
Petra zog geräuschvoll die Nase hoch und verschmierte mit ihrem Handrücken den Rotz im Gesicht. Angeekelt reichte ihr Tanja ein Papiertaschentuch.
„Hier, nimm und mach dich verdammt noch mal sauber. Wie bist du eigentlich hierher gekommen? Doch wohl nicht mit deinem eigenen Auto?“
„Tanja, ich habe jetzt Feierabend. Kommst du?“, war Monis ungeduldige Stimme zu vernehmen.
„Hörst du? Versprich mir, dich auszuruhen. Hast du noch genügend Schmerzmittel? Manchmal habe ich dich ja wegen deiner burschikosen Art und deiner Fäkalsprache, zu der du manchmal neigst, verabscheut. Ich muss aber sagen, so würdest du mir heute viel besser gefallen, als in dem Zustand, den du hier an den Tag legst. Also, werde wieder die Alte.“
Petra stützte sich auf ihren Oberschenkeln ab und quälte sich mühsam aus dem Sofa zum Stand. Tanja umfasste ihren Arm und zog sie langsam Richtung Ausgangstür.
„Lass das“, schüttelte Petra energisch Tanjas Hand ab. Es fiel ihr jedoch schwer, sich ohne Hilfe gerade aufzurichten, schlurfte mit kleinen Schritten, den Oberkörper weit gebeugt, zum Tresen, an dem sie sich mit beiden Händen festklammerte.
„Na, genug gesehen und gehört? Dann fangen Sie mal an, ihre Geschichte zusammenzubasteln. Vergessen Sie aber nichts. Schau’n Sie mal.“ Mit einem leisen Stöhnen schob sie mit einer Hand ihre langen, braunen Haare hinter das rechte Ohr, hob langsam ihren Kopf, rang sich ein Lächeln ab, das ihr schmerzverzerrtes, knochiges Gesicht in eine hässliche Fratze verwandelte. Moni starrte entsetzt auf das blutunterlaufene Auge, das das Gesicht zu beherrschen schien und schnappte geräuschvoll nach Luft.
„So, und nun machen Sie was draus und wehe, es entspricht nicht der Wahrheit. Dann komme ich wieder, und wir verfassen gemeinsam eine Geschichte.“ Ohne eine Reaktion abzuwarten, löste sie sich vom Tresen und schlurfte aus der Hotelhalle.
„So gefällst du mir wieder“, rief Tanja lachend hinterher, um auf diese Weise ihr Entsetzen zu kaschieren, die aufgekommene Angst zu unterdrücken.
„Sag mir, dass das nicht wahr ist. Ich träume wohl. Hat die mir eben gedroht? Die gefällt dir doch wohl nicht wirklich?“, stotterte Moni atemlos, konnte ihre Angst nicht verbergen.
„Mach Feierabend. Sie wird nicht wieder kommen. Nein, ich mag sie nicht. Komm, fahr nach Hause“, murmelte Tanja, ohne ihre Kollegin anzuschauen.
„Du, ich kenn die doch. Wenn ich mir das schreckliche Auge wegdenke, das andere hatte ja auch eine undefinierbare Farbe, mir mal vorstelle, wie groß und klapperdürr die wahrscheinlich ist, wenn sie sich so richtig hinstellt, die langen braunen Haare, dieses Schmutzigbraun und dann dieser entsetzliche Schlabberlook. Na klar, die war doch schon mal hier. Bei dir. Die hat hier gewohnt, hat doch bei mir eingecheckt. Warte mal. Hey, jetzt fällt mir sogar ihr Name ein. Stautmeister, na klar, Stautmeister heißt die. Die war deinetwegen hier oder habt ihr euch hier kennengelernt? Ihr habt euch doch prima verstanden, habt nach deiner Dienstzeit an der Bar gehockt, die Köpfe zusammengesteckt und stundenlang geredet. Sag mir ja nicht noch einmal, dass du sie nicht magst. Das ist aber alles irgendwie komisch.“ Mit jedem Satz nahm Monis Stimme an Lautstärke zu, steigerte sich in schmerzende Höhen.
„Ich übernehme. Der Fahrstuhl bewegt sich. Es kommen Gäste. Benimm dich gefälligst und hau ab“, herrschte Tanja ihre Kollegin an, ohne auf die Ausführungen einzugehen. Unwillig kopfschüttelnd schnappte Moni ihre Handtasche, verließ grußlos das Hotel, betrat Sekunden später erneut die Halle.
„Darüber reden wir noch mal, verlass dich drauf. So lasse ich mich von deiner Freundin nicht behandeln und von dir auch nicht“, fauchte sie Tanja an und rannte erregt aus dem Haus, als sich die Fahrstuhltür öffnete, und Gäste die Halle betraten.
„Scheiße“, murmelte Tanja, bevor sie mit einem berufsmäßig aufgesetzten Lächeln die Gäste empfing.