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1. Kapitel

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„Hallo, ich bin wieder da. Muss aber nachher noch einmal los. In der Apotheke hatten sie die Hautcreme nicht vorrätig. Ich kann sie heute Nachmittag abholen. Ach, eigentlich könntest du das ja machen.“

Tanja Weimann stellte die prallgefüllten Einkaufstaschen auf dem Flur ab, lehnte sich in gebeugter Haltung gegen die Garderobe, bevor sie sich mit einem leisen Stöhnen wieder aufrichtete. Es war ihr deutlich anzusehen, dass sie unter Schmerzen litt.

„Na, wieder zu viel Sport getrieben? Was ist es denn dieses Mal? Beine, Rücken, Arsch oder alles zusammen?“, war Tanja der Beobachtung ihres Mannes ausgeliefert. Beide Hände in den Taschen seiner ausgebeulten Jeans vergraben, machte er keine Anstalten, seiner Frau zu Hilfe zu eilen.

„Du solltest auch mal wieder regelmäßig Sport treiben, dann hättest du die Kraft, mir die Taschen in die Küche zu tragen, statt dumme Sprüche zu reißen. Ja, es ist der Arsch, Ischias oder irgend sowas.“

Claas bewegte sich nicht von der Stelle. Schlank, die dunklen Haare glatt nach hinten gekämmt, was die tiefbraunen Augen noch besser zur Geltung brachte, mit einem stets sonnengebräunten, glatten Teint, sah man ihm seine sechsundvierzig Jahre nicht an. Er wusste um seine jugendliche Erscheinung und seine Wirkung auf Mitmenschen. Deshalb hatte er keine Minderwertigkeitskomplexe, dass er mit nicht allzu großem Körperwuchs bedacht worden war, und seine Frau ihn um einige Zentimeter überragte. Claas war ein freundlicher, auf Harmonie bedachter Mensch, der eigene Bedürfnisse zurückstellen konnte und für seine Hilfsbereitschaft geschätzt wurde.

In diesem Moment schien er seine Tugenden vergessen oder bewusst in den Hintergrund gedrängt zu haben. Nachdenklich betrachtete er seine Frau, ließ seine Augen über ihre schlanke Taille, den etwas ausladenden, aber strammen Hintern, die wohlgeformten Beine in den modischen Stiefeletten gleiten, um wieder bei ihrem Kopf zu beginnen. Die wasserblauen Augen, gerahmt von blonden, glatten, schulterlangen Haaren untermauerten ihre Attraktivität und ließen auch sie jünger erscheinen. Es waren jedoch gerade diese Augen, gepaart mit einem meisterhaften Minenspiel, die Kampfes- und Siegeswillen, Herrschsucht oder je nach Erfordernis, Feinfühligkeit und Liebenswürdigkeit ausstrahlen konnten und ihre Mitmenschen verunsicherten. Tanja war Verwandlungskünstlerin. Dessen war sich Claas bewusst und schien es sich soeben erneut vor Augen zu führen.

„Was ist los?“, fuhr sie ihn, lauter als beabsichtigt, irritiert an. Sie verabscheute seine prüfenden Blicke, kannte seine abschätzigen Gedanken in diesen Momenten, obwohl er sie nie ausgesprochen hatte, wusste, dass er ihr Verhalten in alltäglichen und außergewöhnlichen Situationen vorausahnen oder zumindest deuten konnte, was ihr stets Unbehagen bereitete.

„Du sollst mich nicht so anstarren. Wenn du wenigstens nur dusselig starren würdest, aber nein, du taxierst mich. Hast doch gar nicht nötig, mich neu zu erkunden, kennst mich doch. Neu erfinden musst du mich auch nicht, würde dir nicht gelingen.“ Die linke Hand in die Hüfte gestemmt, den rechten Arm weit ausgestreckt, den Zeigefinger drohend auf den Körper ihres Mannes gerichtet, die Augen weit aufgerissen, machte sie ihre Machtansprüche unmissverständlich deutlich.

Tanja ließ sich nicht von den Gefühlen anderer Menschen leiten und schon gar nicht von denen ihres Mannes. Nicht immer war ihr das gelungen. Claas hatte für sie nur als einfühlsamer, verständnisvoller Ehemann Bestand. Dem war er in der Vergangenheit nicht nachgekommen. Sie hasste sich dafür, dass sie sich jeden Tag aufs Neue bemühte, seinen einmal begangenen schwerwiegenden Fehler zu verzeihen, vergessen kam für sie nicht in Frage. Claas war sich seiner Schuld bewusst und unternahm jede Anstrengung, seine Frau auf der Spur des Verzeihens zu halten, wusste um ihre Ablehnung seiner prüfenden Blicke und zwang sich in die Gegenwart zurück.

„Schuldigung, dass ich dir die Taschen nicht gleich an der Tür abgenommen habe. Hab dein Auto aber nicht gehört. Komm, ich trage sie in die Küche. Na klar, hole ich nachher die Sachen von der Apotheke“, beeilte er sich wie so oft, die Situation zu entspannen. „Wie war das noch? Hast du heute oder morgen Nachtdienst?“, schob er wie beiläufig hinterher. Tanja würdigte ihn keines weiteren Blickes, schob sich an ihm vorbei, betrat die Küche, blieb die Antwort schuldig. Claas folgte ihr und stellte die Taschen auf dem Küchentisch ab.

„Nun sag doch schon. Ich weiß es wirklich nicht mehr“, unternahm Claas einen weiteren Vorstoß, wobei er sie lauernd aus den Augenwinkeln beobachtete, sorgsam darauf bedacht, ihr keinen Anlass eines unkontrollierten Wutausbruches zu liefern.

„Gibt es denn heute nichts Vernünftiges zum Mittagessen? Hast du deine Lust am Kochen neben deinem Computer abgelegt?“, ignorierte sie erneut seine Frage und warf ihm einen verächtlichen Blick zu.

„Ach komm schon. Du weißt doch genau, dass ich uns was Leckeres gekocht habe. Mache ich doch jeden Samstag. Dafür kaufst du doch schließlich ein“, blendete er ihre abwertende Anspielung auf sein Freizeitverhalten aus, hoffte durch sein Verhalten, die Schärfe aus der Situation nehmen zu können.

„Na, dann sag, was es gibt“, machte sie ihm deutlich, dass er für ein Gespräch keine Bereitschaft bei ihr vorfinden würde. Claas näherte sich seiner Frau, unsicher, wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen. Vorsichtig legte er seine Arme um ihre Schultern, vergrub sein Gesicht in ihren Haaren, konnte sich nur so einem Blickkontakt entziehen. Tanja ließ es geschehen.

„Klär du mich über deinen Dienstplan auf, und ich sage dir, was es zu essen gibt. Gestehe, du hast es schon längst gerochen. Dann hast du mir eine Information voraus, und du bist dran. Also, sag schon“, flüsterte er ihr ins Ohr und unterstrich seine Bitte, indem er zärtlich ihren Rücken streichelte.

Claas hatte in den langen Ehejahren gelernt, seine Frau immer wieder für sich einzunehmen, wollte sie nicht verlieren, jonglierte jeden Tag aufs Neue, wollte sie seine Tat vergessen lassen, verzeihen reichte ihm nicht. Seit einer Woche war er sich jedoch nicht mehr sicher, ob er seine Anstrengungen auch weiterhin fortsetzen wollte, ob sie es wert waren. Er traute seinen Gefühlen nicht, spürte Ablehnung, die schnell in Verlangen nach Liebe und Geborgenheit umschlug, Verlangen aber auch nach Aufklärung.

„Ja, ich habe heute Nachtdienst. Fahre etwas früher. Will schon vor zweiundzwanzig Uhr da sein. Hab vor Dienstantritt noch was zu erledigen“, kam sie seinem liebevollen Drängen nach, wartete jedoch vergebens auf die kleinen Zeichen des Triumphs, die er stets so unverhohlen beim Erreichen seines Ziels zeigte. Sein Rücken spannte sich, die Hände verharrten an ihren Schulterblättern. Geräuschvoll sog er die Luft ein, um sie kontrolliert aus den leicht geöffneten Lippen wieder entweichen zu lassen. Unerwartet heftig schob er sie von sich weg und starrte in das Gesicht einer Frau, die ihm fremd erschien.

„Was ist denn? Ich hab dir das doch vor ein paar Tagen gesagt. Es ist doch nicht schlimm, dass du es vergessen hast.“ Instinktiv verwandelte sich Tanja in die liebevolle, großzügig verzeihende Ehefrau. Sie verstand ihr Metier, besaß unangefochten Führungsmentalität. Mit Verwunderung stellte sie fest, dass ihre Verwandlung nicht, wie gewohnt, zum gewünschten Ziel geführt hatte. Claas war angespannt, meilenweit von ihr entfernt, zumindest für den Augenblick, für sie nicht erreichbar.

„Nein, das hast du nicht“, widersprach er tonlos. „Auch wenn es so gewesen wäre, hätte ich dir die Frage noch einmal gestellt. Ich wundere mich nämlich, weshalb du schon wieder Nachtdienst hast. Du warst Vorgestern erst dran.“

„Willst du jetzt meinen Dienstplan aufstellen? Brauchst du noch weitere Aufgaben? Reicht dir deine Verantwortung als Bankangestellter nicht?“, herrschte sie ihn an, wollte keine weiteren Fragen, spürte, dass die Situation ihr zu entgleiten drohte, fühlte Wut, aber auch Wachsamkeit in sich aufsteigen.

„Das sind keine Antworten. Merkst du das denn nicht selber?“ Claas hatte seine Frau nicht aus den Augen gelassen. Tanja bemerkte bei ihrem Mann eine Körperhaltung, die ihr Unbehagen einflößte und von ihrem weiteren Handeln volle Konzentration erforderte.

„Wir haben krankheitsbedingte Ausfälle an der Rezeption. Ich muss Vertretungsdienste übernehmen. Wird irgendwie wieder gut geschrieben, wahrscheinlich freie Tage, kommt ja auch dir dann zugute“, versuchte sie sich, mit einem verheißungsvollen Satz, lächelnd wieder einzuschmeicheln, in der Hoffnung, das Thema somit beenden zu können.

„Wer ist krank?“, setzte Claas seine Befragung unbeirrt und mit versteinerter Miene fort.

„Kennst du nicht.“ Ohne eine weitere Reaktion abzuwarten, drehte sich Tanja um und wollte die Küche Richtung Wohnzimmer verlassen.

„Halt! Hiergeblieben!“, schrie Claas ihr in unkontrollierter Lautstärke hinterher. Tanja schoss herum, die Augen zu Sehschlitzen verengt, die Lippen zusammengepresst, setzte sie bedächtig, aber zielbewusst, einen Fuß vor den anderen, blieb mit geballten Fäusten dicht vor ihrem Mann stehen.

„Spinnst du?“ Ihre herausgequetschten Worte klangen wie das Zischen einer Schlange, verfehlten aber bei ihm ihre gewünschte Wirkung.

„Ich kenne alle deine Kollegen. Es sei denn, du hättest deinen Arbeitsplatz an die Rezeption eines anderen Hotels verlegt. Wäre ja nicht dein einziges Geheimnis vor mir. Ach, was heißt hier schon vor mir? Es gibt bestimmt noch mehr Menschen, die ein Interesse an deinen aushäusigen Aktivitäten haben. Wo warst du vor einer Woche? Was hast du gemacht? Du hattest keinen Nachtdienst. Ich weiß es. Also komm, sag es schon.“

Tanja suchte nach einer bewährten Verhaltensstrategie, fand keinen geeigneten Zugang und entschied sich verunsichert für einen Gegenangriff.

„Wo warst du? Auf jeden Fall nicht hier, als ich nach Hause kam. Also spiel hier nicht den Oberschiedsrichter“, entzog sie sich seinen Fragen. Entschlossen verließ sie die Küche, knallte die Eingangstür hinter sich zu, wusste, dass sie soeben die Anfänge einer Schlacht verloren hatte. Verkrampft saß sie hinter dem Steuer ihres Autos und versuchte, ihrer Angst Herr zu werden.

„Was weißt du? Und wo warst du, ja du?“, flüsterte sie leise vor sich hin, indem sie nachdenklich das Haus beobachtete. Nach wenigen Minuten startete sie den Wagen und raste mit quietschenden Reifen aus der Garageneinfahrt. Für heute hatte sie genug von Claas, ihrem Mann, den sie liebte, der ihr jedoch noch vor wenigen Minuten als scheinbar Fremder gegenüber stand.

Den Kopf in die Hände gestützt, saß Claas über seinen Computer gebeugt, ohne die aufgerufene Datei zu beachten. Wie schon so oft wollte er alles wieder gut machen, wusste nicht, ob er die Kraft dazu besaß, zweifelte an seinem festen, unwiderruflichen Willen, konnte sich seine Unsicherheit nicht eingestehen.

Todbringende Entscheidung

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