Читать книгу Die unverhoffte Genesung der Schildkröte - Marc Bensch - Страница 10

Kapitel fünf

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Die Straße seiner Kindheit hatte sich nur unmerklich verändert. Matthias Caspar kam sie dennoch fremd vor. Seit seinem Auszug war er nicht mehr hier gewesen, nicht mal zur Trauerfeier nach der Beerdigung. Ob es seine Mutter nun verstanden hätte oder nicht – er vermutete, sie hätte es nicht –, aber er konnte nicht einfach so tun, als wäre nichts gewesen. Auch der Tod änderte daran nichts.

Als er die penibel gesäuberte Allee mit den leicht im Wind wiegenden Kastanienbäumen entlangfuhr – in einem Fahrzeug, das bei sämtlichen hinter ihren Vorhängen hervorlinsenden Nachbarn die Alarmglocken schrillen lassen musste, seinem verbeulten und verrosteten Fahrzeug, das er trotz aller Makel liebte, weil es ihn nie im Stich ließ, wenn es darauf ankam –, war es ihm, als säße sie auf dem Beifahrersitz und rede wieder auf ihn ein. Vergnügt diesmal, weil er endlich, endlich heimkehrte und diese lächerliche Fehde beendete. Jahrelang hatte er sich mit seiner Mutter nur an neutralen Orten getroffen und selbst dann keinen Schritt in das Geisterhaus gesetzt, wenn der Vater auf Geschäftsreise war und ein Ozean zwischen ihnen lag. Nun flog die Vergangenheit vorbei wie die Daumenkinos mit den fliegenden Pferden und rasenden Rennautos, die ihn als kleiner Junge so fasziniert hatten.

Eine entscheidende Sache war diesmal anders. Sein Vater hatte »bitte« gesagt.

Matthias Caspar legte die letzten fünfhundert Meter im Schritttempo zurück. Im Vorbeirollen spähte er in die Einfahrten. Je weiter er der Straße folgte und sich dem höchsten Punkt der Anhöhe näherte, desto herrschaftlicher waren die Häuser und desto größer war der Abstand zwischen ihnen. Obwohl sich die Sonne pünktlich zum Sonntag zu scheinen erbarmte, wenngleich nur mit schwachen Strahlen, sah er nirgendwo Menschen, schon gar keine Kinder.

Auch das hatte sich also nicht verändert.

Vor der Villa seines Vaters parkte er den Wagen – genau davor, die besorgten Nachbarn sollten das Schauspiel mit dem verlorenen Sohn ruhig mitbekommen. Er stellte seine Füße auf den Asphalt, schaute einmal an sich herunter, zupfte eine Fluse von der Hose, atmete tief durch und hievte den Rest seines Körpers ins Freie.

Eine der Nachbarinnen, früher stets akut besorgt, hörte er durch ein offenes Fenster. Mit krächzender Stimme sang sie eine Arie, völlig talentlos, unterbrochen von einer leiseren Männerstimme, ihrem Gesangslehrer, wie Matthias Caspar ganz richtig vermutete. Er gönnte dem Mann ein großzügiges Schmerzensgeld.

An Briefkasten und Klingelschild der Liebenich-Residenz standen keine Namen mehr, sondern Initialen, die seines Vaters und noch immer die seiner Mutter. Das Gartentor fand er angelehnt vor – ein Lieferjunge oder der Gärtner mussten vergessen haben, es ordnungsgemäß zu schließen. Er war schon durchmarschiert, mit einem strammen Salut zur alten Überwachungskamera und mit knirschenden Schritten auf dem Kiesweg, da stockte er, blieb stehen, überlegte, machte noch einmal kehrt und griff in seine Hosentasche.

Es war eigentlich nicht wichtig, aber es interessierte ihn trotzdem: Der alte Schlüssel passte nicht mehr.

Als er sich umdrehte, sah er seinen Vater zwischen der mittleren und der rechten Steinsäule vor dem Hauseingang stehen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er trug seinen Sonntagsanzug.

»Guten Tag, Sohn«, sagte er. Mehr nicht.

Matthias Caspar ging auf ihn zu, den Schlüsselbund noch in der Hand. Er hielt ihn seinem Vater unter die Nase. »Du hast also die Schlösser austauschen lassen, was?«

»Herrje, du beziehst das doch nicht etwa auf dich? Ich hatte Schwierigkeiten mit zwei unverschämten Bediensteten, die ich entfernen musste. Der Austausch war eine reine Vorsichtsmaßnahme.«

»Na, wenn das so ist …«

Es sollte provozierend klingen. Doch Hermann Liebenich ließ es ihm durchgehen. Matthias Caspar wertete das als untrügliches Zeichen dafür, dass der Alte tatsächlich ein massives Problem hatte, für dessen Lösung er seine Hilfe benötigte. Sein Vater ließ ansonsten nicht unwidersprochen in einem solchen Ton mit sich reden.

Der Privatdetektiv besaß durchaus Kombinationsgabe. Hermann Liebenich hatte ein massives Problem. Und verfügte – das war das Schlimmste – über keinerlei Erklärung. Weder dafür, wie dieses Problem überhaupt hatte entstehen können, noch, warum er es nicht vorhergesehen hatte.

Es hatte eigentlich ein gemächliches Wochenende werden sollen – einmal im Monat gönnte sich Hermann Liebenich einen freien Samstag und Sonntag. Zwar pflegte er selbst an freien Samstagen und Sonntagen vor dem Morgengrauen aufzustehen, um es sich noch im Schlafrock bei einer Tasse Filterkaffee von stählerner Stärke auf einer rückgratschonenden Wellnessliege im Wintergarten gemütlich zu machen und die Zeitung zu studieren, erst den Wirtschafts-, dann den Lokalteil. Doch tat er das, anders als an den üblichen Tagen, weniger, um sich zu informieren, sondern zuvorderst, um sich zu entspannen.

Normalerweise gelang ihm das. An diesem Samstag jedoch hatte er sich bei der Lektüre beinahe an seinem Morgentrunk verschluckt. Um ein Haar wäre ihm seine Tasse aus der Hand gerutscht – Aufschrift: Wenn der Keks spricht, haben die Krümel Pause, ein spätes Geschenk seiner vor zwei Jahren verstorbenen Frau. Der Aufmacher im Lokalteil lautete: Korruptionsgerüchte erschüttern Rathausspitze, Untertitel: Bei der Vergabe von Aufträgen soll es zu Mauscheleien zwischen politischen Entscheidungsträgern und Vertretern der lokalen Wirtschaft gekommen sein.

Hermann Liebenich wusste sofort, dass er den Namen seiner Firma nicht in dem Artikel finden würde, die Zeitung hätte angerufen und um eine Stellungnahme gebeten. Und dennoch fürchtete er zu wissen, worauf der Text anspielte. Er las die Zeilen wie elektrisiert.

Es dauerte ein paar Minuten, bis sich sein Herzschlag wieder etwas beruhigt hatte, aber er entsprach längst nicht den Werten eines freien Samstages. Die Zeilen bargen wenig Handfestes, stützten sich ganz auf eine namentlich nicht genannte Quelle, die Belege für einen besonders schweren Fall von Unregelmäßigkeiten bei einem öffentlichen Auftrag zu besitzen vorgab. Ein gleichermaßen nicht genanntes ranghohes Mitglied der Rathausspitze sei unmittelbar verwickelt. Offenbar war sich der Autor selbst nicht sicher, wie vertrauenswürdig sein Informant war. Er hielt sich merklich zurück, war darauf bedacht, sich nicht an den Karren fahren zu lassen, sollte sich alles als gemeine Verleumdung herausstellen. Sein Fokus lag vielmehr da­rauf, über die Wellen zu berichten, die die Nachricht innerhalb der Stadtverwaltung ausgelöst hatte. Einen Sprecher zitierte er mit den Worten, es handele sich um eine »unvorstellbare Anschuldigung«. Aber solange keine eindeutigen Belege für ein schuldhaftes Verhalten vorlägen, stünde der Oberbürgermeister selbstverständlich felsenfest hinter seinen Referatsleitern und Verwaltungsmitarbeitern.

Hermann Liebenich schaute auf die Uhr. Es war kurz vor sieben. Alles in ihm drängte danach, den Bürgermeister für Allgemeine Verwaltung anzurufen, aber er wusste, dass der an Freitagabenden gern mal einen über den Durst trank. Erst recht, wenn er gestresst war. Und wenn die vierte Gewalt das Rathaus mit Vorwürfen konfrontierte, die einzig auf ihn zurückfallen konnten, steckte er das sicher nicht leichtfertig weg. Zumal: Besonders nervenstark war ihm dieser Politbubi bislang nicht erschienen. Ein Anruf versprach demnach wenig Ertragreiches und wahrscheinlich war es sowieso sinnvoller, dem Bürgermeister von Angesicht zu Angesicht entgegenzutreten.

Also sprang Hermann Liebenich auf und eilte ins Bad. Zu langes Grübeln galt ihm als Zeichen von Schwäche.

Es war ein Jahr her, dass dem Boss von Liebenich Acoustics die Ausschreibung für die lukrative Neuausstattung aller Sitzungsräume des Rathauses und einiger Bezirksämter mit zeitgemäßer digitaler Technik auf den Tisch geflattert war und er beschlossen hatte, dass er sich einen solchen Auftrag nicht entgehen lassen konnte. Und wenn ein Hermann Liebenich beschloss, sich einen Auftrag nicht entgehen zu lassen, dann entging er ihm nicht.

Es war in der Vergangenheit immer mal wieder notwendig gewesen, sich gewisser Mittel zu bedienen, die manche nicht gutheißen würden, aber diese Moralapostel waren entweder Versager oder Ahnungslose, im schlimmsten Fall beides. Jeder Macher von Rang wusste, dass man fraß oder gefressen wurde, immer wieder aufs Neue.

Warum also sollte er, ein Leistungsträger, der Hunderte von Jobs geschaffen und erhalten hatte, der dafür sorgte, dass diese Menschen sich keine Sorgen um Nahrung, Kleidung und die Heizung im Winter für sich und ihre Familien machen mussten, sich dafür rechtfertigen, wenn er hin und wieder in gewisse Graubereiche abtauchte?

Wirtschaftsspionage betrieben alle, die einen im Kleinen, die anderen im Großen. Und dass sich mit unschuldigen Geschenken oder kleinen Gefälligkeiten manchmal vieles erreichen ließ, war unter Geschäftsleuten seines Kalibers kein Geheimnis. Moralische Bedenken waren ein Luxus derer, die keine Verantwortung trugen.

Schon in ihrem ersten Gespräch über die Sache hatte er dem Bürgermeister klargemacht, dass dieser Auftrag unbedingt an ein renommiertes Unternehmen in der Region zu gehen habe, auf keinen Fall an eines aus einer anderen Stadt oder gar dem Ausland. Es ginge schließlich auch um eine Koalition zugunsten des Wirtschaftsstandorts, für dessen Stärke er, Hermann Liebenich, jederzeit bereit sei zu kämpfen, zum Wohle aller Bürger ihrer schönen Region.

Er kannte den Bürgermeister, einen für sein Amt sehr jungen und sehr blassen Schlacks mit völlig indiskutabler Minipli-Frisur, aus dem Tennisverein und von Veranstaltungen des Lions Clubs und hatte ihn – trotz dieser unsäglichen Blässe, die Hermann Liebenich als Manifestation mangelnder Durchsetzungskraft galt – als einen vernunftbegabten Menschen erlebt, der Win-win-Situationen erkannte. Einen Menschen, der keine Zweifel daran aufkommen ließ, in der Lage zu sein, Strippen gewinnbringend zu ziehen. Der aufsehenerregende Prozess seiner Berufung ins Amt, bei dem einige Vertreter des politischen Gegners das Zünglein an der Waage gespielt hatten, belegte das.

Nur: Wie vorsichtig war der Bürgermeister bei ihrem gemeinsamen Projekt vorgegangen?

Falls der Artikel auf ihren Deal anspielte, woran Hermann Liebenich wenig Zweifel hegte, konnte er mit felsenfester Sicherheit ausschließen, dass die undichte Stelle aus seinem Umfeld kam. In diesem Fall hatte es, anders als bei früheren Interventionen, bei denen Aktionen größeren Aufwands nötig gewesen waren, keine Eingeweihten bei Liebenich Acoustics gegeben. Das war seine Herzensangelegenheit, und er hatte sehr gründlich darauf geachtet, keine Spuren zu hinterlassen.

Wie das auf Seiten des Bürgermeisters aussah, wusste er nicht – lag etwas außerhalb seines Einflussbereichs, pflegte er von den Verantwortlichen Resultate zu erwarten, nicht deren Lösungsweg zu hinterfragen. Womöglich hatten im Auswahlverfahren eindringliche Worte allein nicht ausgereicht, die anderen Jurymitglieder davon zu überzeugen, dass Liebenich Acoustics das wirtschaftlichste Angebot abgegeben hatte. Womöglich hatte der Bürgermeister Nebendeals laufen, für die er nun büßte – und Hermann Liebenich gleich dazu.

Es führte kein Weg daran vorbei, dem Mann einen Besuch abzustatten und ihn zur Rede zu stellen. Also setzte sich Hermann Liebenich entgegen seiner eigentlichen Pläne in seinen Zweitwagen, fuhr ans andere Ende der Stadt und besorgte auf dem Weg beim Bäcker Brötchen, die noch so heiß waren, dass ihm die Verkäuferin empfahl, die Tüte offen zu lassen. Um ziemlich genau acht Uhr klingelte er an der Haustür seines Mitverschwörers.

Es dauerte eine halbe Minute, bis der Hausherr auftauchte, in fleckiger Schlafanzughose und schlabberndem T-Shirt. Sein Kopf war leicht nach links gekippt, seine Augen klein. Doch die riss er in Sekundenschnelle auf, als er sah, wer vor ihm stand.

Der Bürgermeister trat zur Seite, ließ Hermann Liebenich eintreten und unterschätzte beim Zuschlagen der Tür seine Kraft. Das Geräusch, als sie ins Schloss krachte, ließ den Hausherrn zusammenzucken.

»Haben Sie den Verstand verloren, hier einfach so aufzutauchen?«, flüsterte er, als fürchte er, irgendjemand könnte sie belauschen.

Seine Frau jedenfalls war nicht da, das war bekannt, die weilte seit zwei Wochen an der Küste, offiziell aus Kurgründen. Bei einem Zusammentreffen im Lions Club, der liebsten Gelegenheit erfolgreicher Männer, ihren Neid auf die noch erfolgreicheren und ihre Schadenfreude über Missgeschicke derselben zur Schau zu tragen, hatte man sich hinter vorgehaltener Hand über den wahren Grund der Abwesenheit ausgetauscht. Es hatte da einen Ausrutscher des Bürgermeisters mit einer aufstrebenden Parteigenossin gegeben, der die werte Gattin dazu bewogen hatte, fürs Erste bei ihrer Schwester abzutauchen.

»Jetzt werden Sie mal nicht paranoid. Das hier ist kein Agentenfilm«, antwortete Hermann Liebenich und präsentierte die Brötchentüte. »Ich besuche einen Vereinskameraden und Strohwitwer und bringe ihm Frühstück vorbei. Eine völlig harmlose Sache.«

»Ich nehme an, Sie haben heute schon Zeitung gelesen. Sonst wären Sie nicht hier. Also wissen Sie genau, dass Ihr Besuch alles andere als eine harmlose Sache ist.«

Hermann Liebenich hielt sein Lächeln aufrecht. Einer musste ja einen kühlen Kopf bewahren. Er war etwa zehn Zentimeter kleiner als sein Gegenüber, doch der fahrige Politiker ließ seine Schultern derart hängen, dass sie sich praktisch auf Augenhöhe begegneten, rein körperlich gesehen. In jeder anderen Beziehung bestand für Hermann Liebenich keinerlei Zweifel, wer über wem thronte.

»Lassen Sie uns doch erst einmal diesen unwirtlichen Flur verlassen und ins Esszimmer gehen«, schlug er vor und wartete die Antwort gar nicht erst ab, sondern verließ den unwirtlichen Flur. »Haben Sie Marmelade im Haus?«

Der Zustand des Bürgermeisters besserte sich auch in der darauffolgenden Stunde kaum, was Hermann Liebenich im Sinne der Stadt darauf hoffen ließ, dass er nicht regelmäßig einer Krise wie dieser ausgesetzt war.

Ja, er könne mit an hundert Prozent grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen, dass es in der jüngeren Vergangenheit einen zweiten vergleichbaren Fall gegeben habe, der Artikel müsse also auf ihre Vereinbarung abzielen.

Und nein, er könne sich nicht erklären, wie der Journalist an seine Informationen gekommen sei, er zermartere sich schon die ganze Zeit den Kopf. Von der Minute an, in der er zunächst über den Flurfunk im Rathaus von den Vorwürfen erfahren habe, noch bevor der persönliche Referent des Oberbürgermeisters in sein Büro marschiert sei, um ihn offiziell zu unterrichten und sich strengen Blickes zu erkundigen, wie er sich eine solche Presseanfrage erkläre.

Er konnte sie nicht erklären. Gegenüber dem Referenten nicht und sich selbst gegenüber noch weniger. Er habe eigentlich alle nötigen Vorsichtsmaßnahmen walten lassen.

»Eigentlich! Und uneigentlich?«

»Uneigentlich eigentlich auch«, stotterte der Bürgermeister und massierte sich die Stirn. »Ich kann mir wirklich nicht erklären, wie das passieren konnte. Das müssen Sie mir glauben.«

Es war offensichtlich, dass sich Hermann Liebenich selbst der Sache würde annehmen müssen, dass es an ihm hängenbliebe herauszufinden, wie viel der Schreiberling wusste. Ob er ein kleiner Wichtigtuer war, der ohne fundierten Hintergrund eine Story raushaute, die ihm mehr zufällig in den Schoß gefallen war, ohne dass er ihre Dimension einzuschätzen wusste, oder ob er die große Enthüllung nur Schritt für Schritt vorbereitete, weil sich Skandale besser verkauften, wenn man immer noch einen draufsetzte.

Fakt war, dass es zu der großen Enthüllung nicht kommen durfte. Dass eher die Hölle zufrieren würde, bevor der Name Hermann Liebenich durch den Schmutz gezogen wurde.

Fakt war aber auch, dass er Hilfe brauchte, erst recht, nachdem seine Recherchen ergeben hatten, dass der Journalist tatsächlich über ein gewisses Renommee verfügte.

Fakt wurde, nach intensivem Abwägen, intensiver, als er es sich sonst erlaubte, dass diese Hilfe nur von einer einzigen Person kommen konnte. Selbst wenn das bedeutete, dass er, Hermann Liebenich, so tun müsste, als bereue er etwas.

Hermann Liebenich hatte noch nie ein Problem damit gehabt, über seinen Schatten zu springen, wenn es die Lage verlangte. Nur Holzköpfe glaubten, der einzige Weg durch die Wand führe mit dem Schädel voraus.

Also schritt er zum Telefon, rief die Auskunft an, ließ sich verbinden und hinterließ eine Nachricht.

Matthias Caspar hatte an diesem Samstagabend lange gezögert, bis er sich zu dem verlangten Rückruf durchrang. Er hatte sogar kurz erwogen, den Befehl zu ignorieren, aber dann doch nicht riskieren wollen, die ganze Nacht kein Auge zuzutun, weil er sich fragte, was der Alte plötzlich wollte. Nach Verfassen seines erwartungsgemäß kurzen Observationsberichts fehlten ihm weitere Ausreden. Noch in der Detektei griff er zum Hörer – die Kollegen hinter sich zu wissen, gab ihm ein irrationales Gefühl von Sicherheit, obwohl sie ihm bei einem Telefonat mit seinem Vater in keiner Weise helfen konnten. Seine Furcht wich einem lauten Lachen, so laut, dass einige der Kollegen ihm halb verwunderte und halb böse Blicke zuwarfen, als ihm sein Vater, der sich wie gewohnt nicht lange mit Nebensächlichkeiten aufhielt, offenbarte, dass er seine Hilfe brauche.

Restlos sprachlos war Matthias Caspar, als der Alte dieses Wort nachschob, von dem er sich nicht erinnern konnte, es jemals aus seinem Mund gehört zu haben: »Bitte.«

Doch das ganze Gefühl von Überlegenheit war passé, als er im Wohnzimmer seines Elternhauses stand, in dem sich ein neuer Fernseher, eine neue Sofagarnitur und verdammt viele Erinnerungen fanden. Matthias Caspar ging ans Fenster und starrte hinaus, starrte hinunter auf die Stadt, in der Hoffnung, sein Vater durchschaue nicht, dass er sich plötzlich wieder klein fühlte, dass ihn das Gefühl beschlich, in eine Falle getappt zu sein.

Dann drang Essensgeruch in seine Nase. Er schnupperte, drehte sich um, erblickte den Vater, der seine Neugierde registrierte.

»Du hast hoffentlich Hunger mitgebracht? Ich habe Bœuf Stroganoff kommen lassen. Spezialität meines Lieblingsküchenmeisters.«

Matthias Caspars Magen begann erwartungsfroh zu knurren. »Was soll das? Willst du auf Sonntagstisch machen? Sind wir plötzlich wieder eine Familie?«

»Nein, ich pflege bei meinen Geschäftsessen einen gewissen Stil. Ganz abgesehen davon glaube ich nicht, dass jemand, der seine Frau und seine kleine Tochter sitzen gelassen hat, in der Position ist, mir Vorträge über Familientraditionen zu machen. Oder, Herr Caspar?«, antwortete Hermann Liebenich.

Matthias Caspar schnaubte, schließlich hatte der Vater seine Enkelin nur ein einziges Mal besucht, zur Taufe, und danach nie wieder Anläufe unternommen, sie wiederzusehen – Anläufe, die Matthias Caspar selbstverständlich mit aller Macht torpediert hätte. Er schnaubte, aber er erwiderte nichts. Er war solcher Diskussionen mit seinem Vater vor langer Zeit müde geworden.

Die Zeitung lag schon auf dem Tisch bereit. Hermann Liebenich nahm zwei Bissen des Essens. Dann tupfte er sich mit der Serviette den Mund ab, trank einen Schluck Wein und warf seinem Sohn die Ausgabe hin. »Hast du gestern Zeitung gelesen?«

Matthias Caspar ließ seine Gabel erst noch ein drittes und viertes Mal in seinem Mund verschwinden, bevor er das Besteck weglegte. Eines musste er seinem Vater lassen: Geschmack besaß er.

»Seite vierundzwanzig oben«, befahl der.

Matthias Caspar las, ohne erkennen zu lassen, was in seinem Kopf vorging. Als er fertig war, legte er die Zeitung beiseite und aß weiter, trank seinerseits einen großen Schluck Wein, betrachtete Glas und Inhalt, schwenkte, trank einen weiteren Schluck und nickte anerkennend.

»Du steckst also in Schwierigkeiten? Hast die Kon­trolle verloren? Passiert dir doch sonst nicht«, spottete er schließlich.

Hermann Liebenich ging nicht darauf ein. »Ich möchte, dass du herausfindest, was dieser Journalist weiß und von wem er es weiß. Und wie du dir vorstellen kannst, ist es eilig. Deswegen nutze ruhig alle Möglichkeiten, die dir zur Verfügung stehen, wenn du verstehst, was ich meine.«

Matthias Caspar lächelte. Schwieg wieder für ein paar Sekunden. »Also ich habe das richtig verstanden: Du bittest mich um Hilfe. Mich. Es ist dir also auf einmal nicht mehr unsäglich peinlich, dass ich Privatdetektiv bin?«

»Siehst du, mein Sohn, du gehst da von falschen Annahmen aus. Es war mir nie peinlich, was du gemacht hast. Alles, was ich getan habe, diente nur einem Ziel: dich anzuspornen, etwas aus deinem Leben zu machen.«

Findest du das nicht auch amüsant: Wie Menschen, die sich nahestehen oder nahestehen sollten, einander die dreistesten Lügen an den Kopf werfen? Lügen, die ihnen im Umgang mit Fremden niemals in den Sinn kämen? Sei es, weil sie den anderen nicht verletzen wollen. Oder weil sie just das bezwecken. Oder sei es, weil sie nicht in die Verlegenheit kommen wollen, etwas erklären zu müssen.

Es dürfte dir bewusst sein, dass Hermann Liebenich ein geübter Lügner ist, wobei er sich eher als Wahrheitsbeuger oder Wahrheitserneuerer sieht. In der Regel jedenfalls. Denn ihm ist schmerzhaft bewusst, dass seine Beteuerungen meilenweit von jeder Wahrheit entfernt liegen. Die Tatsache, dass sich sein Sohn mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hat, in seine Fußstapfen zu treten, ist die bitterste Enttäuschung seines Lebens gewesen. Zugeben würde er das niemals.

Und dann lacht ihn Matthias Caspar aus. Weil er seinem Vater natürlich kein Wort glaubt. Kannst du dir vorstellen, wie sehr er deswegen kocht?

»Warum ich? Hast du nicht irgendwelche Schergen, die sich um Probleme wie diese normalerweise kümmern?«

»Ich brauche jemanden, dem ich absolut vertrauen kann.«

Matthias Caspar lachte erneut. »Und das bin ich?«

»Ja, weil es um die Familienehre geht. Und letztlich um dein Erbe. Außerdem könnte ich mir vorstellen, dass du bei deinem Gehalt und bei der Höhe deiner Unterhaltszahlungen ein kleines Zusatzhonorar ganz gut gebrauchen könntest.«

Diesmal lachte Matthias Caspar nicht. »Dir ist aber schon klar, dass ich nicht einfach einen Nebenjob annehmen kann. Ich müsste mir das von meinem Chef genehmigen lassen.«

»Lass das mal meine Sorge sein«, erwiderte Hermann Liebenich und schenkte Wein nach.

Seinen Sohn wunderte die Antwort kein bisschen. »Ich muss mal auf die Toilette«, log er und ging davon, den Torkelnden mimend.

Den Weg kannte er, das renovierte Bad noch nicht. Er setzte sich auf die Schüssel, schloss für eine halbe Minute die Augen, schlug sich zweimal kräftig auf die Wangen, atmete wie schon vorhin in seinem Auto tief durch und kehrte an den Esstisch zurück, an dem sein Vater die ganze Zeit über regungslos dagesessen hatte und dies noch immer tat, als sein Sohn in sein Blickfeld zurückgekehrt war.

»Na gut. Dann weih mich mal ein. Und lass kein Detail aus.«

Sie saßen danach noch eine Stunde zusammen, Matthias Caspar hatte irgendwann darauf bestehen müssen, keinen Wein mehr nachgeschenkt zu bekommen. Er erbat sich Bedenkzeit und bekam sie bis zum nächsten Morgen.

Dabei wusste er längst, dass er zusagen würde. Er wusste es, weil dieser Auftrag genau dem entsprach, was der Job des Privatdetektivs ihm verheißen hatte, als er sich entschied, das Angebot auszuschlagen, stellvertretender Leiter seines Hauptstadtreviers zu werden, als er beschloss, den Polizeidienst mit all seiner Ödnis und Routine zu verlassen. Nichtsahnend, dass eine neue Ödnis und Routine, eine sehr ähnliche, nur auf ihn wartete. Und nun offenbarte ihm ausgerechnet sein Vater einen Ausweg, selbst wenn es nur ein temporärer war.

Er war schon fast zur Haustür hinaus, da drehte er sich noch einmal um. »Ich möchte mein altes Kinderzimmer sehen.«

Hermann Liebenich zögerte, machte dann aber den Weg frei. Er ließ seinen Sohn die Treppen hinauf ins Dachgeschoss vorgehen.

Dort, wo früher Sportlerposter gehangen hatten, stand jetzt eine kleine Bar vor einer holzvertäfelten Wand. Gegenüber hing eine elektronische Dartscheibe, in der Mitte des Raumes stand ein Pool-Billard-Tisch. Matthias Caspar guckte sich um, ohne ein Wort zu sagen.

Stattdessen durchbrach sein Vater die Stille. »Was hast du erwartet? Ein Museum? Dein altes Zeug steht unten im Keller, wenn du es haben möchtest. Aber du hast dich ja bislang nicht dafür interessiert.«

Matthias Caspar nahm die weiße Kugel in die Hand und ließ sie in Richtung Loch rollen. Sie blieb an der Kante hängen.

Er verließ sein altes Reich eilig und drehte sich nicht mehr um, auch nicht, als er auf der Treppe im Gehen doch noch einmal den Mund öffnete. »Sag Vater, wie viele ungenutzte Räume hast du in diesem Haus?«

Die unverhoffte Genesung der Schildkröte

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