Читать книгу Die unverhoffte Genesung der Schildkröte - Marc Bensch - Страница 7
Kapitel zwei
ОглавлениеSie erwartete ihn im vierten Stock, dem obersten, Reich der Krawattenbinder und Kostümträgerinnen. Die Snobs schenkten ihm Lächeln oder Willkommensgrüße oder gar beides. Er staunte über die Wirkung seiner Verkleidung. Unter normalen Umständen hätten sie ihn selbst mit dem Arsch nicht angeguckt. Die Leiterin der Presseabteilung stellte ihm jeden Kollegen vor, der nicht gerade telefonierte, und er präsentierte je nach Bedarf einen starken Händedruck, einen einstudierten, selbstironischen Spruch oder einfach nur ein Augenzwinkern und den Hauch eines Mundwinkelzuckens. Dann widmeten sich die Krawattenbinder und Kostümträgerinnen wieder ihrer Arbeit. Die Zahnräder mussten weiterlaufen.
Die Männer studierte er genau, bestaunte Einstecktücher, Manschettenknöpfe und andere Accessoires, plante, sie zu kopieren. Auch ihre Körpersprache interessierte ihn. Wie sie sich aus ihren Stühlen erhoben, wie sie auf ihn zuschritten. Die Pressesprecherin und er gingen von Platz zu Platz. Nur der wuchtigen Doppelflügeltür hinter den schwarzen Designerstühlen und den Grünpflanzenkübeln näherten sie sich nicht. Sie war geschlossen.
Aber den Mann dahinter kannte er ja bereits.
Stattdessen führte sie ihn zu seinem Büro. Es war kaum so breit wie die Tür des Bosses. Sie blieb davor stehen und ließ ihm feierlich den Vortritt. »So, da wären wir. Es ist kein Königreich, ich weiß, aber es geht nach hinten raus. Und das gilt hier als Privileg der VIPs.«
Tatsächlich verhinderte einzig das Fenster, dass man von einem besseren Kabuff sprechen musste. Darum steuerte er es auch sofort an, vorbei an einem aufgeräumten Schreibtisch mit einigen Mappen und einem Laptop darauf, das Kabel der externen Tastatur und Maus akkurat zusammengewickelt. Öffnen ließ sich das Fenster nicht. Kaum realisiert, erschien ihm der Geruch nach frischer Farbe äußerst penetrant.
Der Ausblick entschädigte für das Ungemach. Schräg unter ihm erhob sich inmitten einer kleinen Rasenfläche ein mächtiger Ahornbaum mit rot-gelb verfärbten Blättern. Ein Mann mit grüner Latzhose und schief sitzender Mütze rechte Laub zusammen. Auf einer Parkbank lehnten sich zwei Männer zurück und rauchten.
Mit solch einem Bild hatte er in einem Gewerbegebiet nicht gerechnet. Aber bei näherer Betrachtung ergab es einen Sinn. Der quaderförmige Neubau des Verwaltungsgebäudes mit seiner architektonisch verspielten Fassade machte insgesamt einen sehr modernen Eindruck. Und was wäre moderner für ein Industrieunternehmen, als seine Zuneigung zur Natur zu bekunden?
Sein Blick fiel auf das Nachbargebäude, genauer: auf das Büro ihm direkt gegenüber. Dort sah er eine junge Frau in Hosenanzug und weißer Bluse am Fenster stehen, die Haare zu einem Dutt gebunden. Obwohl sie zu weit entfernt stand, um das zu erkennen, glaubte er sofort zu wissen, dass ihre tief in den Augenhöhlen liegenden Kulleraugen betörend waren – und dass sie ihn direkt anstarrte. Er fragte sich, ob sie dort schon lange stünde und ob sie ihn an- oder auslachte. Ihre spitz zulaufende Nase verstärkte seine Assoziation einer Gazelle. Er widerstand der Versuchung, die Hand zu heben.
»Und, werden Sie es hier aushalten?«, erkundigte sich die Pressesprecherin in seinem Rücken. Als er sich umdrehte und sie ansah, hatte er das Gefühl, als halte allein die Höflichkeit sie in seiner Nähe, als dränge es sie zu gehen, weil sie eigentlich ganz andere Dinge zu tun hatte, als dem Neuen beim Ankommen zuzusehen.
»Selbstverständlich«, antwortete er und vollführte eine Probefahrt in seinem Bürostuhl.
Dabei stellte sich die Frage für ihn gar nicht. Die Bedingungen dieser Mutterschutzvertretung spielten für ihn nicht die geringste Rolle. Wichtig war nur, was am Ende heraussprang – je früher, desto besser.
»Wundervoll.« Sie schnappte sich die Mappen vom Tisch. »Am besten, Sie lesen sich erst mal ein. Die Kollegin hat Ihnen ein Übergabeprotokoll geschrieben und ein paar Artikel ausgedruckt. Themen, die demnächst relevant werden könnten.«
Er unterdrückte ein Lächeln, weil sie plötzlich wieder so schnell redete, und nahm Mappe eins entgegen. Sofort hielt sie ihm Mappe zwei hin. »Hier drin finden Sie alle wichtigen Informationen zu Ihrem Unternehmenseintritt: Compliance-Bestimmungen, Social-Media-Richtlinien, Zugangsdaten. Da müssen Sie unserer HR-Abteilung noch ein paar Dokumente unterzeichnen. Lästig, ich weiß, aber es muss sein.« Es folgte Mappe Nummer drei. »Der aktuelle Geschäftsbericht dürfte Sie interessieren. Und wenn Sie mit allem fertig sind, klicken Sie sich ein wenig durchs Intranet, machen Sie sich mit allem vertraut. Ich habe gleich noch einen Termin. Wir möchten gern ein Thema lancieren, und der freundliche Herr, der uns das ermöglichen soll, will uns im Gegenzug eine Anzeige in seinem Magazin verkaufen. Sie wissen ja, wie das läuft.«
Er nickte wissend. Als wüsste er es tatsächlich.
»Gut, Herr Mayer, was meinen Sie: Wollen wir später zu Mittag gemeinsam in die Kantine gehen? Oder haben Sie sich etwas mitgebracht?«
»Nein, gern gemeinsam in die Kantine.«
»In Ordnung, ich hole Sie gegen zwölf ab.« Sie lächelte, blickte sich noch einmal um, rümpfte die Nase, griff nach einer Fernbedienung, regulierte die Lüftung, zeigte ihm, wie es funktionierte. »Vielleicht lassen Sie Ihre Tür heute besser offen. Den Geruch müssen Sie entschuldigen, aber Sie merken schon: Wir haben uns für Sie hübsch gemacht.«
Als sie davonging, blickte er ihr hinterher, mit seinen großen, runden, schwarzen Augen, den Augen eines hungrigen Wolfs. Dann stieß er sich mit den Füßen vom Boden ab, um zurückzurollen. Ein Rad des Stuhls blockierte, das Gefährt driftete nach links ab und transportierte ihn genau in die Mitte des Schreibtisches.
Er hatte es geschafft. Unleugbar. Er war drin.
Wenn ihm jemand vor drei oder fünf oder acht Jahren erzählt hätte, dass er es einmal zum Mitarbeiter der Presseabteilung von Liebenich Acoustics bringen würde, er hätte ihn nach seinem Dealer gefragt, weil der hervorragende Drogen im Sortiment haben musste.
Und doch saß er jetzt hier, in einem geborgten Anzug, der schon leicht abgewetzt war und eigentlich zu eng für seinen durchtrainierten Körper. Offenbar fiel das aber niemandem auf. Die neuen Kollegen hatten bei der Willkommensrunde nicht den Eindruck gemacht, als guckten sie ihn schief an oder als belächelten sie ihn für sein Outfit. Das, so versicherte er sich, hätte er ja sofort registriert, dafür, so meinte er, besaß er Antennen. Sie hatten also auch nicht bemerkt, wie ungewohnt dieser Zwirn für ihn war. Genauso gut hätte er ein Superheldenkostüm anziehen können, das Gefühl wäre dasselbe gewesen. Aber er würde sich daran gewöhnen, genau wie an die Frisur, die sich »Out of bed« nannte.
»Voll lässig, total hip« war die laut der Frau mit der wirbelnden Schere, die ihm, einmal bei der Arbeit, gleich die Haare dunkel gefärbt hatte. »Wenn schon Typveränderung, dann richtig.«
Immerhin vertrug sich die neue Haarfarbe gar nicht mal so übel mit seiner Solariumsbräune. Die Frisur nahm seinem eckigen Gesicht außerdem einiges von seiner Verschlagenheit.
Die Typveränderung wirkte. Er nahm sie sich fast selbst ab.
Sein Leben lang hatten ihm die Menschen eingetrichtert, er werde es niemals zu etwas bringen. Die Mutigen schleuderten ihm das direkt ins Gesicht, die Feigen gaben ihm nur das Gefühl.
So interpretierte er das zumindest.
Nun hatte er es zu etwas gebracht. Er hatte alle Lügen gestraft. Allen voran seinen inneren Zweifler, diesen gehässigen Halunken. »Sie werden dich durchschauen«, hatte der einige Wochen zuvor, unmittelbar vor dem Bewerbungsgespräch, geflüstert, halb ängstlich, halb höhnisch.
Er hätte ihm fast geglaubt, ungeachtet seiner sorgfältigen Vorbereitung auf das Treffen, seiner detaillierten Planung und seiner tiefgreifenden Recherche, die aus ihm fast so etwas wie einen richtigen Medienmenschen machten.
Dann aber hatte sich die zweite Stimme in seinem Kopf gemeldet, die des Zorns und der Entschlossenheit, hatte geschimpft und ihn zurechtgeschüttelt. »Du erbärmlicher Schisser. Wie soll das funktionieren, wenn du dir jetzt schon ins Höschen machst?«
Dennoch: Niemals hatte er erwartet, dass alles so glatt gehen würde.
Anstandslos an der Empfangsdame von Liebenich Acoustics vorbeizukommen, war ein erster Mutmacher gewesen. Er redete sich sogar ein, sie flirte beim Gang durch die Eingangshalle mit ihm.
Er missinterpretierte allerdings nur ihre geschäftsmäßige Freundlichkeit.
Sie führte ihn in einen Raum mit ovalem Tisch; einen übersehenen Kaffeetassenfleck wischte er reflexartig weg. Die Multimedia-Anlage beeindruckte ihn, aber sie passte natürlich zu einem Unternehmen, das seine Kohle mit Lautsprechern und Mikrofonen scheffelte.
Lange allein blieb er nicht. Die Pressesprecherin stürmte ins Zimmer und auf ihn zu, bombardierte ihn mit einem wahren Wortschwall. »Herr Mayer, schön Sie endlich persönlich kennenzulernen«, beteuerte sie. »Haben Sie gut zu uns gefunden? In der Stadt ist ja wieder die Hölle los«, bedauerte sie. »Nehmen Sie sich doch etwas zu trinken«, bat sie. »Oder soll ich Ihnen etwas anderes bringen lassen? Einen Cappuccino vielleicht? Wäre überhaupt kein Problem, wirklich nicht.«
Er verzichtete, fühlte sich überrumpelt durch ihre Art. Dem Bild, das er sich anhand ihres Fotos auf der Unternehmenswebseite gebildet hatte, widersprach sie radikal. Im Internet wirkte sie mit ihrem streng gebundenen roten Haar und dem ernsten Blick wie eine Domina. Nun war sie mehr die Unschuld vom Lande. Ihr Verzicht auf Haarbänder verlieh ihren Sommersprossen und Lachfalten den passenden Rahmen.
Was er nicht weiß, was für dich als Information aber vielleicht ganz interessant ist, um die Pressesprecherin besser einschätzen zu können: Diese Offenheit spiegelt ihr Naturell ziemlich akkurat wider.
Was er wahrscheinlich nie erfahren wird: An ihrem Schlüsselbein trägt sie ein verstecktes Delfintattoo, das sie, sofern ihre Kinder es zulassen und nicht brüllend nach ihr verlangen, morgens im Bad gelegentlich minutenlang streichelt, um ganz ohne Wehmut in vergangene stürmische Zeiten zurückzukehren.
Kurz nach ihr schleppte sich die Personalleiterin ins Zimmer, die das komplette Gegenteil der Pressesprecherin darstellte. Sie war dicklich und zugeknöpft, sah mit ihrem strähnigen Haar und dem vergrämten Gesicht aus wie das Musterbeispiel einer alternden Gouvernante.
»Guten Tag«, presste sie zwischen schmalen Lippen hervor, stellte sich in aller Kürze vor und überließ die Gesprächsführung ihrer plauderfreudigen Kollegin.
Seine Verwirrung war komplett. Das retuschierte Foto der Personalleiterin im Internet ließ sie weitaus sympathischer erscheinen. Er war davon ausgegangen, sie im Sturm zu erobern, dass vielmehr die Pressesprecherin härter zu knacken sei.
Was er nicht weiß: Die scheinbar so mürrische kinder- und partnerlose Dame hat nur einen miesen Tag. In Wirklichkeit ist sie die Lebenslust in Person, lässt keinen Schlagermove aus und singt unter der Dusche aus voller Kehle.
Was er wahrscheinlich nie erfahren wird: Wann immer sie ihn sieht, stellt sie sich vor, ihm diesen kümmerlichen alten Anzug und alles darunter vom Leib zu reißen.
Was ihm im Nachhinein egal sein kann: Die beiden Frauen, die sich als die einzigen weiblichen Abteilungsleiter der Firma bestens verstehen, haben die anfängliche Verunsicherung ihres Bewerbers durchaus registriert. Jede für sich verfügt über eine hervorragende Menschenkenntnis, was wiederum eine krachende Ironie in sich birgt, haben sie doch nicht den blassesten Schimmer, wer ihnen da wirklich gegenübersitzt.
»Na, bricht dein Kartenhaus schon zusammen?«, meldete sich sein innerer Zweifler wieder zu Wort.
Er ignorierte die Häme. Und beschloss, sich zu fangen. Wenn die zwei Good Cop, Bad Cop spielen wollten, sollten sie es tun. Er hatte nicht die ersten Hürden seiner Mission genommen, um so kurz vor dem Zwischenziel wie ein scheues Reh vor dem Gewehr zu erstarren.
Die Selbstgeißelung war erfolgreich. Er riss sich nicht nur zusammen. Er ging regelrecht in seiner Rolle auf. Beim Sprechen bewegte er sich in seinem Stuhl, um nicht steif zu wirken, seine Ausführungen unterfütterte er mit Gestik und Mimik, er philosophierte über Schall und Klang, er lobte den Verkaufsschlager des Unternehmens, obwohl er ihn für üblen Schrott hielt, und er griff, weil er glaubte, das mache einen lockeren, unbesorgten Eindruck, nach einer bereitgestellten Schale mit Schokoladentäfelchen.
Er verzog nicht einmal die Mundwinkel, als er beim Kauen feststellte, dass er sich eines mit Marzipan geangelt hatte.
Eigentlich vertraute Hermann Liebenich der Pressesprecherin und der Personalleiterin vollkommen. Seine Mädels, wie er sie liebevoll und ein wenig chauvinistisch nannte, würden den jungen Mann und die anderen Kandidaten für die vakante Vertretungsstelle einem Stresstest unterziehen, der zeigen würde, ob die Naseweise dem Druck hartnäckiger Journalisten gewachsen wären, einer sensations- und internetklickgeilen Meute, die ein immer distanzierteres Verhältnis zu Wahrheit und Sorgfalt pflegte. Seine Mädels würden sicherstellen, den Job nicht einem zögerlichen Schwächling oder Haderer zu geben, einem Menschenschlag, mit dem Hermann Liebenich nichts anzufangen wusste, der ihn regelrecht aggressiv machte. Es gab für ihn an und für sich also keinerlei Anlass, sich mit dem Bewerbungsprozedere auseinanderzusetzen. Zumal er sich als Vorsitzender der Geschäftsführung und Hauptanteilseigner um existenziellere Dinge zu kümmern hatte.
Hermann Liebenich, Dr.-Ing. Hermann Liebenich, um ganz genau zu sein, war ein Mann von sechsundsechzig Jahren, der längst nicht daran dachte, dass es nun auch mal genug war, er seine Schuldigkeit getan hatte und bedenkenlos in Rente gehen konnte. Er konnte nicht. Weil es niemandem gab, der in seine Fußstapfen treten konnte. Oder wollte. Sein Vater und sein Großvater hatten das Familienunternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet und gemeinsam am ersten Mikrofon geschraubt, er hatte aus Liebenich Acoustics in den vergangenen drei Jahrzehnten einen Global Player geformt. Und durch Zurücklehnen oder Zurückziehen formte man keinen Global Player, sondern durch Anpassungsfähigkeit und eisernen Willen.
Man könnte sich Hermann Liebenich hervorragend als Charakterdarsteller auf einer Bühne vorstellen, zum Beispiel in der Rolle des Julius Caesar. Oder in einem Hollywood-Film als Gangster des zwanzigsten Jahrhunderts, ein würdiger Nachfolger Marlon Brandos. Der Boss von Liebenich Acoustics besaß einen Wohlstandsbauch und ein von Furchen durchzogenes Gesicht. Das ließ ihn, anders als sein ergrauter Schopf, aber weniger alt, sondern vielmehr kampferprobt aussehen.
Das passte. Hermann Liebenich hatte weder Zeit noch Muße, Julius Caesar oder einen Mafioso zu spielen. Er hatte ein Mittelstandsunternehmen zu führen. Er verlangte von jedem, der am Erfolg seiner Firma partizipieren wollte, dieselbe Aufopferungsbereitschaft und Kompromisslosigkeit zum Wohle des Kollektivs. Menschen, die sich ihm in den Weg stellten, egal ob absichtlich oder aus Versehen, mussten damit rechnen, dass er sich vor ihnen aufbaute, dem Begriff Zornesröte eine neue Bedeutung verlieh, seine Augen zu Schlitzen verengte und mit seiner tiefen Stimme polternd Antworten verlangte.
Solltest du ihm jemals begegnen, was durchaus passieren kann, dann erinnere dich an meine Worte. Schreib sie dir hinter die Ohren. Lass dich nicht von ihm einschüchtern. Bleib standhaft. Antworte ihm mit völliger Ruhe und ohne zu stottern. Sonst verliert er jeglichen Respekt vor dir, sonst nimmt er dich nicht ernst.
Und das wäre fatal.
Für den Vormittag der Bewerbungsgespräche hatte Hermann Liebenich ursprünglich geplant, sich eine Strategie zurechtzulegen. Für ein anstehendes Treffen mit politischen Verbündeten und solchen, die es werden sollten, benötigte er einen Schlachtplan, der alle Eventualitäten berücksichtigte. Doch dann waren drei Umstände zusammengekommen, die dafür sorgten, dass er – und das geschah äußerst selten – sich ablenken ließ. Erst hatte er erfahren, dass ein Bürgermeister den Termin kurzfristig abgesagt hatte. Dann war ihm in der Eingangshalle dieser Bewerber über den Weg gelaufen, der ihn, ein Affront erster Güte, nicht gegrüßt, ja nicht einmal wahrgenommen hatte, weil er in eine Plauderei mit der Empfangsdame vertieft gewesen war. Und schließlich hatte an ihm das dumpfe Gefühl genagt, mit dem jungen Mann irgendwann irgendwo schon einmal konfrontiert gewesen zu sein, ohne zu wissen, zu welchem Anlass.
Stirnrunzelnd hatte er ihm hinterhergeschaut, war – auch das kam äußerst selten vor – inmitten der Halle stehen geblieben und dann in sein Büro zurückgeeilt. Nicht, um sich wieder an die Arbeit zu machen, von der es immer genug gab, sondern um alles stehen und liegen zu lassen.
Der Boss hatte das Bewerbungsgespräch zunächst mithilfe der versteckten Überwachungskameras und Mikrofone im Konferenzraum von seinem Computer aus verfolgt, war aber ums Verrecken nicht darauf gekommen, woher er diesen Ludwig Mayer kannte, auch nicht mithilfe der kopierten Bewerbungsmappe.
»Herrgottsakrament«, hatte er geschimpft, verärgert auf seine Schenkel geklopft – und sich aus seinem Chefsessel gehievt.
Die Personalleiterin und die Pressesprecherin zuckten auf das unerschütterlich selbstsichere Klopfen hin gleichzeitig zusammen. Der Bewerber, der das sah, zuckte nicht. Er ärgerte sich über die Störung seines Flows. Als die Tür aufging, ohne dass jemand »herein« gerufen hatte, wich der Ärger. Der Boss erschien, und im Körper des Mannes, dessentwegen sich Hermann Liebenich herunterbemüht hatte, machte sich eine siedende Hitze breit. Die Hand, die eben noch geschmeidig seine aktuellen Ausführungen dirigiert hatte, begann zu zittern. Er legte sie auf den Tisch und die andere darauf.
»Herr Dr. Liebenich, ist etwas passiert?«, erkundigte sich die Pressesprecherin und stand auf.
»Nein, nein, meine Liebe«, antwortete der Eindringling. »Ich hatte nur ein wenig Zeit und dachte mir, ich mache mir ein persönliches Bild von unserem Bewerber.« Der Boss ging um den Tisch herum und streckte seine Hand aus. »Liebenich, angenehm.«
»Ludwig Mayer«, sagte Sebastian Vogt und hätte um ein Haar Sebastian Vogt gesagt.
Er musste sich erst daran gewöhnen, Ludwig Mayer genannt zu werden, musste aufpassen, sich auch selbst immer schön als Ludwig Mayer vorzustellen – und bei niemandem so sehr wie bei Hermann Liebenich, dem zu begegnen er an diesem Tag niemals gehofft, niemals erwartet hätte.
Sebastian Vogt hatte Ludwig gewählt, weil er sich keinen grundsolideren deutschen Vornamen vorstellen konnte, und Mayer, weil es Zehntausende mit diesem Nachnamen gab. Es war nicht sonderlich schwer gewesen, einen Lebenslauf zu fälschen und passende Urkunden zu beschaffen, die seine angebliche Eignung für die Stelle untermauerten. Egal, in welcher Welt man lebte, nichts ging über Kontakte; die einen waren eben glänzend, die anderen schmierig.
Aber nichts und niemand hätte ihn auf den Moment vorbereiten können, in dem Hermann Liebenich vor ihm stand.
»Jetzt gilt’s«, riefen Sebastian Vogts innerer Zweifler und der Zornige im Chor.
Ludwig Mayer stand auf, schnappte nach der ausgestreckten Hand und packte seinen härtesten Händedruck aus. Er sah dem Boss tief in die Augen.
Alles oder nichts.
»Schön«, sagte Hermann Liebenich, schüttelte, lächelte, ging weiter. »Ich wollte Sie nicht unterbrechen. Sie waren gerade dabei, etwas auszuführen?«
Der Boss nahm neben der Personalleiterin Platz, und Sebastian Vogt glaubte zu erkennen, dass die sich fragte, was dieses Spiel solle. Er tat das auch, ließ es sich aber nicht anmerken.
»Ich war gerade dabei zu skizzieren, worauf wir bei einer möglichen neuen Pressekampagne meiner Ansicht nach den Fokus legen sollten. Völlig aus dem Bauch heraus, versteht sich, ich kenne Ihr Unternehmen schließlich bislang nur aus der Außenperspektive.«
»Ah ja, sehr interessant«, erwiderte Hermann Liebenich, lehnte sich zurück, nickte, schnellte vor, stützte sich mit den Ellenbogen auf die Tischplatte und beugte seinen Oberkörper nach vorn. »Darauf kommen wir gleich zurück. Aber erlauben Sie mir vorher ein, zwei kurze Fragen?«
»Selbstverständlich.«
Sebastian Vogt kopierte Liebenichs Haltung.
Hätte einer von ihnen zum Mittagessen Knoblauch gespeist, der andere hätte es garantiert gerochen.
»Wie viele Giraffen auf der Welt quälen sich aktuell mit einer Bindehautentzündung herum?«
Sebastian Vogt verzog keine Miene. »Da müsste ich mich erst schlau machen.«
»Was glauben Sie denn?«
»Dass Ihnen niemand diese Frage korrekt beantworten kann. Aber war Ihnen bewusst, dass fast alle Giraffen bisexuell sind?«
Hermann Liebenich verzog keine Miene. »Warum, glauben Sie, haben unsere Liebx3-Lautsprecher so häufig Störungen und generell eine so kurze Lebensdauer?«
»Haben sie das?«
»Lesen Sie denn keine Produktbewertungen im Internet? Wir produzieren praktisch Schrott. Unbrauchbaren Klump.«
»Wir wissen doch beide, was von Bewertungen im Internet zu halten ist. Und wenn einer der renommiertesten Autobauer weltweit seit Jahren auf Ihre Freisprecheinrichtungen und Lautsprecher vertraut, spricht das doch für sich.«
»Wir wissen doch beide, wie schnell auch das Renommee des renommiertesten Autobauers verblassen kann.«
»Und genau deswegen ruhen Sie sich ja auch nicht auf Ihren Lorbeeren aus, sondern investieren in Innovation. Glauben Sie mir, würde ich mir Sorgen um Ihr Renommee machen, ich hätte mich nicht bei Ihnen beworben.«
Hermann Liebenich lehnte sich zurück. Sein Lächeln war für Sebastian Vogt nicht zu deuten, aber er lächelte mit. »Ihnen ist bewusst, dass es sich bei Ihrer Stelle um eine befristete handelt, Herr Mayer?«
»Ein Jahr ist eine lange Zeit, Herr Dr. Liebenich. Da kann sehr vieles passieren.«
»Sie täuschen sich. Ein Jahr verfliegt. Aber diese Naivität schreibe ich Ihrer Jugend zu. Und nun erzählen Sie mir«, er blickte über seine rechte Schulter, »erzählen Sie uns, Herr Mayer, mit welcher Pressekampagnen-Idee Sie unser lahmendes Geschäft wieder in Galopp bringen möchten.«
Sebastian Vogt alias Ludwig Mayer erzählte.
Sebastian Vogt alias Ludwig Mayer bekam den Job, obwohl die Pressesprecherin und die Personalleiterin beide eine andere Kandidatin für geeigneter hielten, den Wunsch des Bosses aber akzeptierten – ohne zu ahnen, dass der einfach nur herausfinden wollte, woher er den jungen Mann kannte, ohne ihn fragen zu müssen.
Sebastian Vogt alias Ludwig Mayer kehrte einige Wochen später an den Ort seines Verbrechens zurück, bezog sein winziges Büro, blätterte in Compliance-Richtlinien, klickte sich durchs Intranet, saugte Informationen auf und malte sich währenddessen nur eines aus: Wie es sich anfühlen würde, die Existenz von Hermann Liebenich unwiederbringlich zu zerstören.