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Kapitel drei

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Die Polizeireporterin gähnte. Es hatte einen Mord gegeben. Eine halbe Stunde nach Redaktionsschluss. Oder fünfzehn Minuten vor Chopsuey, wie sie quäkend lamentierte. »Ich stand schon vor der verdammten Theke, als dieses Scheißdiensthandy meinte, bimmeln zu müssen.«

Paul Gram unterdrückte ein Schmunzeln. Er lümmelte in seinem Stuhl, die langen Haxen unter dem Konferenztisch ausgestreckt, wirbelte seinen Lieblingsstift von Finger zu Finger und starrte die Sitznachbarin ununterbrochen an, um herauszufinden, ob er sie, die Motzende, irgendwie aus dem Konzept bringen könnte, vielleicht sogar zum Lachen.

Kampfzwerg lautete in der Redaktion der heimliche Spitzname der sehr kleinen, sehr zierlichen Gestalt Ende vierzig, die rumpeln konnte wie eine Dampflok. Ihre dunklen Locken schleuderten dann hin und her wie Pogotänzer im Drogenrausch. Die Vorstellung, ausgerechnet dieses Fräulein berichte über böse, schwere Buben, amüsierte die Menschen. Allerdings längstens so lange, bis sie ihnen entgegentrat. Die Wenigen, die wie Paul Gram ihr wahres Ich kannten, zogen sie für ihre Attitüde gelegentlich auf.

»Dafür ist ein freier Tag fällig, ich sag’s dir«, raunte sie in Richtung des Ressortleiters.

Paul Gram pikste sie unbemerkt von den anderen unterm Tisch in die Hüfte. Sie revanchierte sich mit einem zielsicheren Tritt gegen sein Schienbein, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Stattdessen funkelte sie weiter den Ressortleiter an.

Der aber ging nicht auf die Forderung ein. Er hielt sich an seinem Tablet fest und tat so, als würde er ein weiteres Mal ihren Bericht studieren, der seit halb sechs online stand, mit heißer Nadel gestrickt für die Frühaufsteher unter den Lesern und diejenigen, deren erste Tat des Tages der Griff zum Smartphone war.

Auf dem Tisch lagen frisch gedruckte Ausgaben der Zeitung, fast alle unberührt. Paul Gram konnte es nicht ertragen. Er schnappte sich eine, ließ es rascheln, schlug das Blatt auf und faltete es sich zurecht. Er hatte den Sportteil ohnehin noch nicht gelesen.

Wie jeden Morgen kamen die Lokalredakteure der auflagenstärksten Tageszeitung im Umkreis von hundert Kilometern zur Besprechung und Blattplanung in einem fensterlosen Raum zusammen, den jeder nur »das Loch« nannte – jeder bis auf den Ressortleiter. Zu viel Ablenkung schade der Produktivität, pflegte der zu posaunen, wenn er irritierten neuen Mitarbeitern ganz ernsthaft zu erklären versuchte, warum er die kurz nach der Jahrtausendwende ausrangierte Dunkelkammer als Konferenzzimmer so schätzte. Ein paar gerahmte Titelseiten glorreicher Tage und zwei einsame Urkunden errungener Journalistenpreise zierten die ansonsten kahlen Wände. Wer wie Paul Gram zumindest die letzten Ausläufer der alten Zeiten erlebt hatte und sich anstrengte, dem stieg die Erinnerung an Chemie und die gespannte Ungewissheit des Entwickelns in die Nase und zu Kopf. Alle anderen mussten mit dem überbordenden Karamellduft Vorlieb nehmen, den die miesepetrige Redaktionsassistentin versprühte.

»Gute Arbeit, vielen Dank für deinen Einsatz«, nuschelte der Ressortleiter schließlich und versuchte es mit einem Lächeln, gegen das sich die Polizeireporterin immun zeigte.

»Ich finde, wir sollten über den Tatverdächtigen sprechen«, mischte sich der Volontär ein. »Wir haben jetzt schon ein Dutzend Leserkommentare, weil wir angeblich Informationen unterschlagen. Der Typ, den sie festgenommen haben, ist ja wohl ein Flüchtling.«

Die Polizeireporterin seufzte. »Vernommen haben sie ihn, nicht festgenommen. Er ist offiziell kein Beschuldigter.«

»Aber die Konkurrenz hat …«, setzte der Volontär erneut an. Er war ein Kerl mit langen, schwarzen Haaren, die ständig sein halbes Gesicht verdeckten, ohne dass sie seine geisterhafte Blässe oder sein unkontrollierbares Akne-Problem verschleiern konnten. Paul Gram vermutete, der Volo zähle zu der Art Mensch, die es liebte, gehasst zu werden, weil er darin ein untrügliches Zeichen sah, in den Augen der anderen eine Bedrohung darzustellen. Dabei war er einfach nur furchtbar altklug und überheblich.

Die Polizeireporterin ließ ihn nicht aussprechen. »Ich bin vielleicht altmodisch, aber ich halte mich an Fakten. Punkt. Und jetzt muss ich los zur PK.«

»Gut, du schaffst doch die Online-Aktualisierung bis um zwei, oder? Und die Aufmacher-Reportage morgen, ja?«

Der Ressortleiter war ein Meister darin, Fragen wie Aufforderungen klingen zu lassen. Seine rasende Reporterin ließ die Tür zum Loch ins Schloss krachen, ohne vorher eine Antwort zu geben.

Kaum war sie draußen, schmückte ein Grinsen sein Gesicht. »So oder so. Die neuesten Klickzahlen sind fantastisch.« Das gesagt, schnappte er sich eine Zeitung und blätterte rasch. »Okay, hat noch jemand was zur heutigen Ausgabe? Nicht? Gut. Was machen wir morgen sonst noch?«

Einige schläfrige Kollegen zuckten hoch, als die schrille Stimme der Lifestyle-Beauftragten den Raum erfüllte.

»Im Zoo stellen sie heute die neuen Löwenbabys vor«, rief das Redaktionsnesthäkchen. Seit mittlerweile eineinhalb Jahren vernachlässigte die dauerbeschäftigte freie Mitarbeiterin ihre Magisterarbeit zugunsten ständiger Spät- und Wochenendschichten. Die Aussicht auf ein Volontariat hatte das bislang nicht verbessert. Eine flotte Schreibe und ihre quietschfidele Art zeichneten sie aus. An diesem Vormittag jedoch hatte Paul Gram den Eindruck, als sei sie unsicher und nervös. Immer wieder suchte sie den Augenkontakt mit dem Ressortleiter, der das genauso konsequent ignorierte wie Forderungen von Polizeireporterinnen nach einem freien Tag. Ob es da wohl einen Zusammenhang mit der Tatsache gab, dass sie dieselben Klamotten wie am Tag zuvor trug?

»Großartig. Das ist unsere zweite große Geschichte«, rief der Ressortleiter und schaute sie nur ganz kurz an.

»Was ist mit meiner Wohnungsnotstory? Die schieben wir jetzt schon seit Tagen«, erkundigte sich der Mann für die sozialen Themen und brachte beim Vorlehnen seinen tapferen Stuhl zum Ächzen. Mit Mitte fünfzig zählte er zu denen, die zu alt für den Wandel und zu jung für die Rente waren.

»Schieben wir noch mal. Das musst du doch verstehen. Wir haben schon den Mord und die Tierbabys. Wir sollten nicht alles auf einmal verbraten.«

»Das muss aber bald mal mit. Sonst ist das kalter Kaffee.«

Es war ein halbherziger Protest, und Paul Gram kam nicht umhin, Mitleid zu hegen für den Kollegen, dessen Aura er einst bewundert hatte. Damals, vor fast zwanzig Jahren, als die träumerische Jungversion von Paul Gram mit einem Abischnitt von 3,2 und einer Überdosis an Selbstvertrauen in die Redaktionsstube gestiefelt war, um fortan das zu tun, wofür er sich geschaffen wähnte: Geschichten zu erzählen.

Paul Gram nahm in jüngster Zeit nur noch selten an den Blattkonferenzen teil, und wann immer er es tat, wusste er wieder, warum er es sonst vermied. Doch das vorangegangene Wochenende hatte ihn in einer derart blendenden Laune hinterlassen, dass er beschlossen hatte, es sei mal wieder an der Zeit für eine Stippvisite. Entzückt vom dichten Nebel und vom Nieselregen hinterm Fenster war er am Sonntag früh aus dem Haus gegangen und in das Auto gestiegen, das er sonst nie benutzte, weil er den Kontakt zu Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln schätzte. Sie inspirierten ihn zu neuen Ideen.

An diesem Morgen jedoch hatte er sich nach totaler Einsamkeit gesehnt und deshalb das vermeintlich schlechte Wetter gepriesen, das laut Vorhersage noch ein paar Tage in dieser Form anhalten sollte. Er war an den Fuß einer Bergkuppe eine halbe Stunde außerhalb der Stadt gefahren und hatte sich bepackt mit einem Rucksack auf gen Gipfel gemacht, zu den eingestürzten Gemäuern einer mittelalterlichen Burg. Dort hatte er sich niedergelassen, eine Packung Paprikachips herausgeholt und genossen, dass das einzige Geräusch in seiner Nähe dem Mahlen seiner Zähne entsprang. Nach einer halben Stunde war er den Berg wieder hinuntergestiegen und nach Hause gefahren, zu zwei Cheeseburgern mit extra Bacon und Fritten vom Lieferservice.

Stille, fand Paul Gram, konnte wundervoll sein. Er musste sich ab und zu von dieser sonderlichen Welt absondern, um nicht Gefahr zu laufen, dem allgemeinen Wahnsinn zu verfallen.

Deshalb wollte er nach der Redaktionskonferenz auch schnellstens in seine drei mal zwei Meter große Bürozelle fliehen, die er als Luxus empfand, weil er sie mit niemandem teilen musste. Doch als die mürrische Runde auseinanderging, hielt ihn der Ressortleiter auf.

»Du Paul, ich hab’ da was mit dir zu besprechen. Muss zwar gleich weiter zur Sitzung des Digitalen Arbeitskreises, aber ein paar Minuten habe ich. Du auch?«

Er hätte so gern nein gesagt.

»Für dich habe ich immer Zeit.«

Paul Gram musterte den Ressortleiter aus seinen tiefblauen Augen heraus und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob der eigentlich die leiseste Ahnung hatte, für was für einen Schaumschläger er ihn hielt.

Es war ihm noch immer unbegreiflich, warum der Schaumschläger so vielen als Wunderknabe galt, vor allem jenen, die es aus zuweilen unersichtlichen Gründen zu Entscheidungsträgern gebracht hatten. Sie vergötterten den Jungen, der mit vierundzwanzig sein eigenes Onlineportal mit lokalen News gegründet hatte und seitdem wie ein Derwisch durch die Branche fegte. Dabei hatten die großen Verleger ihn anfangs noch belächelt und erst reagiert, als aus dem Zwergenmogul ein ernsthafter Konkurrent geworden war. Zu viele Leser hatten ihr Zeitungsabo mit dem Hinweis gekündigt, sie würden von nun an lieber auf unabhängige (und obendrein kostenlose) Nachrichten vertrauen. Der Verlag hatte das Portal daraufhin aufgekauft, zum Szeneguide erklärt, ein paar überforderte und unterbezahlte Studenten drangesetzt und den Gründer zum stellvertretenden Lokalchef seines Flaggschiffs ernannt. Da war der gerade achtundzwanzig geworden und fortan in grellen Klamotten und mit einem umgedrehten Basecap auf dem Schädel durch die Redaktion gestiefelt, um jedem zu erklären, dass er nicht der Feind sei. Dass er die gedruckte Zeitung liebe, es aber neuer Konzepte bedürfe, um gemeinsam dieses wunderbar traditionsreiche Medium wieder groß zu machen.

Wenige Monate später kippte Paul Grams Mentor, der damalige Ressortleiter und Herzinfarkthochrisikopatient, in einer Stadtratssitzung um – im Dienst gefallen während der Haushaltsberatungen. Und sein Vize, der schon damals nicht und auch seitdem nie im Leben auf die Idee gekommen wäre, für die Zeitung Termine dieser Art wahrzunehmen, stieg diskussionslos zum Nachfolger auf.

Seit drei Jahren trug er nun weiße Hemden anstelle bunter Shirts und auf dem Kopf statt eines Basecaps eine halbe Tube Haargel. Am lebendigsten wirkte er während gut besuchter Leserevents, bei denen er dem Oberbürgermeister vorher abgesprochene freche Fragen stellte.

»Wir haben uns schon eine Weile nicht gesprochen. Ich wollte mal hören, was es Neues gibt.«

Das Büro des Ressortleiters bestach durch seine breiten Fensterfronten zur Süd- und zur Westseite hin. Er wühlte in Unterlagen, während er zu Paul Gram sprach. Der saß ihm gegenüber – zurückgelehnt und mit vor dem Bauch gefalteten Händen. Dem Bauch, den sein Vater bei seinem jüngsten Besuch fies grinsend getätschelt und dabei gefragt hatte, wie es sich anfühle, wenn das Alter an einem nage. Es war eine Unverschämtheit sondergleichen gewesen, die Paul Gram ausgerechnet jetzt wieder einfiel und die ihn, väterlicher Scherz hin oder her, massiv verunsicherte, was er freilich nie im Leben zugegeben hätte. Seine Erscheinung war unverzichtbarer Bestandteil seines Kapitals in der Welt außerhalb seiner hochgeschätzten Intimität. Deswegen achtete er tunlichst auf Harmonie und Symmetrie, angefangen beim immer gleich kurzen Haarschnitt und dem ewigen Drei-Tage-Bart, der seinem Gesicht mit den feinen Zügen Charakter verleihen sollte.

Du musst wissen: Paul Gram ist niemand, der sich häufig hinterfragt. Aber wenn er es täte, müsste es ihm absurd vorkommen, wie sehr jemand, der davon überzeugt ist, dass jeder in seiner eigenen Welt lebt, darauf erpicht ist, einen bleibenden Eindruck bei anderen zu hinterlassen. Aber es funktioniert, du wirst das bald selbst erfahren. Was ihn auszeichnet, ist diese explosive Mischung aus Stolz und Selbstgefälligkeit, die vielen Journalisten eigen ist und die ihnen, wenn sie nicht aufpassen, gewaltig um die Ohren fliegt.

Ein Bauchansatz, so fand er jedenfalls, war das letzte, was er gebrauchen konnte.

»Geht’s dir gut, Paul?«

»Ich kann nicht klagen.«

»Gut, das ist gut«, erwiderte der Ressortleiter, hob den linken Zeigefinger, sagte »kleinen Moment, bitte« und überflog zwei Ausdrucke, die von der anderen Seite des Tisches wie Protokolle aussahen.

Zehn Sekunden lang herrschte Stille, dann legte er die Unterlagen beiseite. »Habe ich dir schon gesagt, dass diese Geschichte mit dem IS-Vater großartig war? Ein Meisterstück.«

Zu loben war für ihn die antrainierte Methode, hinterher zu verlangen. Paul Gram wusste also genau, was kommen würde.

Aber es stimmte. Das Porträt des von Kummer erfüllten Gastarbeiterkinds mittleren Alters, das seinen Sohn als IS-Kämpfer in Syrien vermutet und loszieht, um ihn zurückzuholen, war ein feuchter Reportertraum. Eine Story über die Perspektivlosigkeit und Wut der heimatlosen dritten Generation, die weder in dem Land, in das sie hineingeboren worden war, noch in jenem, aus dem ihre Großeltern stammten, als erwünscht gilt, geschweige denn als akzeptiert. Das Ganze gewürzt mit der hilflosen Stimme der Eltern, die nicht verstehen, was da geschieht mit der Welt, woher der plötzliche Fanatismus ihres früher kaum religiösen Sohns kommt, dem einzigen Sprössling, den Allah ihnen geschenkt hat. Es war eine Geschichte, die eigentlich zu gut war, um wahr zu sein.

Und uneigentlich auch.

»Danke, danke. Hast du schon. Aber deine Wertschätzung freut mich sehr.«

»Gibt’s was Neues? Ist ja jetzt schon wieder zwei Wochen her. Kannst du irgendwas weiterdrehen?«

»Leider nicht. Ich habe versucht, ihn zu kontaktieren, aber niemand weiß, wo er steckt, auch seine Frau nicht.«

Der Ressortleiter nickte und bemühte sich vergeblich darum, betrübt dreinzublicken. »Und sonst? Der Chef hat sich nämlich bei mir erkundigt, was unser emsiger Investigativmann so treibt. Das waren seine exakten Worte.«

Paul Gram kannte das Spielchen. Er besaß große Freiheiten in der Redaktion, war von allen ungeliebten Wochenend- oder Blattmacherdiensten befreit, bekam nur in äußersten Notfällen Termine aufs Auge gedrückt, musste nicht an den Konferenzen teilnehmen. Im Gegenzug verlangte man von ihm regelmäßig einen Scoop. Einen Kracher, bei dem sich jeder, ob Kollege, Konkurrent oder Leser, fragte, wie dieses Schlitzohr da schon wieder an Informationen gekommen war, die sonst keiner hatte.

Es war nicht so, dass diese Begünstigungen nicht von Zeit zu Zeit infrage gestellt wurden, dass ihn alle mochten und seine Verdienste schätzten. Aber die meisten taten es, und er war froh darüber, dass es vor allem die Entscheidungsträger taten, die er so leidenschaftlich verachtete.

»Also gut, dir kann ich’s ja sagen. Ich bin da an einer ganz heißen Sache dran, aber ich brauche noch ein paar Tage. Es geht um Tarifflucht, Scheinselbstständigkeit, ausgebeutete Mitarbeiter.«

»Geil, wo?«

»Bei uns«, sagte Paul Gram mit ausdrucksloser Miene.

»Haha, sehr witzig«, antwortete der Ressortleiter und konnte es trotzdem nicht vermeiden, bleich zu werden.

»Keine Sorge«, beruhigte ihn sein Gegenüber. »Es geht um etwas anderes. Ich kann noch nicht darüber sprechen, aber es ist groß. Sehr groß.«

Die unverhoffte Genesung der Schildkröte

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