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Sternenflüchtig

Mein Abitur war das viertbeste, das jemals auf Salem abgelegt wurde. Zwei der Besserbenoteten wurden Politiker, einer davon Ministerpräsident, der dritte starb an einer Überdosis. Mir standen alle Türen offen. Ich hatte ein Stipendium der Studienstiftung in der Tasche, Lynn ebenfalls.

Lynns Mutter hatte uns einen Erholungsurlaub in Neuseeland spendiert, anschließend wollten wir vierzehn Tage mit dem Auto durch Kalifornien reisen. Anfang September sollte unser Studium an der UCLA beginnen, wir hatten Plätze an der Anderson School of Management bekommen, es hat meinen Vater zwei Anrufe gekostet, die zusammen keine zehn Minuten dauerten. Zehn Minuten waren für ihn allerdings eine Ewigkeit.

Lynn war in Paris und kleidete sich neu ein, drei Tage bevor unser Flug nach Christchurch via Dubai gehen sollte. Meine Mutter war mit ihrem neuen Liebhaber auf einer Koksinsel in der Karibik. Ich schickte ihr eine Abschiedsmail, die mit Zitaten aus »Siddharta« gespickt war, andere Teile hatte ich aus der Kriegsdienstverweigerung eines Mitschülers, dessen Powerbook wir zerlegt hatten, kopiert.

Ich schrieb meiner Mutter, dass ich zunächst den Strand auf Kreta, an dem sich Zeus in einen Adler verwandelte, aufsuchen und anschließend nach Poona ziehen wolle. Ich wusste, dass sie das stolz machen würde, sie glaubte auch fest daran, dass ich der Sohn eines Rolling Stone sei.

Meinen tatsächlichen Aufenthaltsort kannte niemand, nicht einmal mein bester Freund Adrian. Es bereitete mir einen Mordsspaß, mir vorzustellen, wie mein Vater seinen Vertrauten durch alle Hippie-Höhlen dieser Erde scheuchen würde, diesen gottverdammten Leichenwäscher Berger. Dabei hielt ich mich die ganze Zeit nur knapp hundert Kilometer von Berlin auf. Zunächst auf dem Brezelfest in Ringenwalde, dann auf der Boitzenburger Woche in Wichmannsdorf, anschließend auf dem Schützenmarkt in Pinnow und der Warnitzer City-Kirmes.

Es war ein spontaner Entschluss gewesen. Ursprünglich wollte ich in das Land meiner Urgroßeltern fahren, ganz in Ruhe, mit Nahverkehrszügen und Regionalbahnen. Doch dann verlor ich in Eberswalde durch Ungeschick oder Diebstahl meine Geldbörse mit meinem Personalausweis und meiner gesamten Barschaft. Ich war gezwungen, meinen iPod zu verkaufen, für siebzig Euro, an einen Jugendlichen an einem Imbissstand. Allein die Musikbibliothek war das Zehnfache wert!

Ich brauchte dringend Geld. Hinter dem Bahnhofsplatz hatte eine Kirmes ihre Zelte aufgeschlagen. Ich fragte einen der Schausteller, ob er Arbeit für mich hätte. In den nächsten drei Tagen konnte ich ein knapp zwanzig Meter breites und tiefes Fahrgeschäft mit sechzehn Gondeln abmontieren. Geld bekam ich keines, aber Essen und Trinken und einen Platz zum Schlafen. Es war eine Höllenarbeit, anschließend hatte ich das Gefühl, alle Billy-Regale dieser Republik auseinandergeschraubt zu haben.

Nach dem Abbau konnte ich das Gefährt knapp dreißig Kilometer weiter wieder aufbauen. Mein Chef war mit mir zufrieden. Während der Kirmes arbeitete ich als Einweiser bei Breakdance, für vier Euro die Stunde, später kam ich in den Kassenwagen von Melody Star, verkaufte Tickets und machte den Einheizer, für vierfünfzig die Stunde.

Mein Chef mochte mich. Ihm gehörte fast die halbe Kirmes. Vor der Arbeit saßen wir oft in seinem Wohnwagen zusammen und er erzählte mir Anekdoten aus seinem bewegten Leben oder wetterte gegen seine ersten beiden Ehefrauen.

In Pinnow durfte ich mir meine nächste Einsatzstelle selbst aussuchen. Fortan war ich für das Entenangeln verantwortlich. Ich hatte gehofft, dass ich nun früher als die anderen Feierabend machen könne, doch das war ein Irrtum. Es ist tatsächlich unvorstellbar, wie viele Eltern ihre kleinen Kinder noch um kurz vor Mitternacht Enten angeln lassen.

In Warnitz hatte ich meinen ersten freien Arbeitstag. Tagsüber lief ich durch das Biosphärenreservat, den Abend verbrachte ich auf der Kirmes und ließ es gewaltig krachen. Ich warf fast meinen halben Wochenlohn in die Münzschieberkästen, am Ende hatte ich drei Schlüsselanhänger, ein Binokular und eine Nofrete-Statue mit eingebautem Wecker gewonnen. Den Krempel verschenkte ich sogleich weiter.

Ich fraß mich quer durch das Gelände: Ein Nackensteak im Brötchen, drei Liebesäpfel, Zuckerwatte und zwei Crêpes mit Käse und Schinken. Dazu trank ich etliche Plastikbecher Bier und fing im Musikzelt fast eine Schlägerei mit den Sanitätern vom Arbeiter-Samariter-Bund an. Nach einer Vortex-Fahrt übergab ich mich hinter dem Knusperhaus, die Nacht verbrachte ich unter freiem Himmel mit Bauchkrämpfen im Ponygehege.

Als ich am anderen Morgen meine Augen öffnete, schaute ich in das Gesicht eines dicken Jungen mit Brille und Augenpflaster. Hilfe, es war Dienstag, Kindertag, alles kostete den halben Preis! Ich war viel zu spät dran. Ich rappelte mich hoch, mir war speiübel. Hinter dem Jungen stand eine bildhübsche, solariumgebräunte Frau in einem bauchfreien Dolce & Gabbana-T-Shirt mit kurzen, rotschwarzen Haaren, einem Tribal-Tattoo auf dem linken Oberarm und einem Medusa-Piercing über der Oberlippe. In der einen Hand hielt sie eine Zigarette, in der anderen ein Mobiltelefon. Noch ehe sie ein Wort sagen konnte, hatte ich mich in sie verliebt.


Ein Auszug aus dem im Herbst erscheinenden Kurzroman »Sternenflüchtig« von Alexander Fellhauer wird beim diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Wettlesen in Klagenfurt vorgetragen, allerdings nicht vom Autor, sondern vom Lektor des autobiographischen Buches. In »Sternenflüchtig« erzählt der inzwischen zwanzigjährige Fellhauer von seinem fluchtartigen Verschwinden nach dem Abitur, seiner Liebesaffäre mit einer alleinerziehenden, arbeitslosen Grafikdesignerin aus Prenzlau und seinen Erfahrungen in der rechtsradikalen Szene in der Uckermark. Da der Autor wünscht, dass sein Aufenthaltsort weiterhin geheim bleibt, erlaubte es die Jury dieses Jahr erstmals, dass ein Wettbewerbstext von einem Stellvertreter vorgelesen wird.

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