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Ich nichts denken

Ich habe mit vielen Männern geschlafen … sehr vielen … wahrscheinlich zu vielen. Ich habe nur mit einem einzigen Mann mehrmals geschlafen … hundertmal … tausendmal. Dieser Mann war mein Vater. Ich habe meinen Vater geliebt … Ich habe meinen Vater gehasst.

Bei seinem Begräbnis habe ich geweint … meine Mutter stand direkt neben mir … ihre Augen versteckte sie hinter dicken, schwarzen Brillengläsern.

Meine Mutter hat meinen Vater nicht geliebt … die Tränen, die ihre Wangen hinunterkullerten, waren falsch … Wasser. Mein Vater und meine Mutter haben sich belogen … sie haben sich betrogen … sie haben sich ständig etwas vorgemacht. Ununterbrochen … immer … von Anfang an … ein Leben lang.

Geschlossen marschierte der Trauerzug nach der Beerdigung in eine Taverne … in die Stammkneipe meines Vaters. Alle waren im Handumdrehen besoffen … Leichenschmaus … Wettfressen … Preissaufen. Die Männer grölten schweinische Verse … die Frauen lästerten über andere Frauen. Ich habe nichts getrunken … keinen Schluck.

Auf der Herrentoilette habe ich den Geliebten meiner Mutter verführt … es war ganz leicht … ein Kinderspiel. Ich habe ihn vom Pissoir weggezogen … mich vor ihn hingekniet … den Mund geöffnet … seinen Schwanz gelutscht … seinen Samen geschluckt.

Die Toilette roch nach Urin und Desinfektionsmitteln und verwelkten Schnittblumen. Anschließend hat der Geliebte meiner Mutter ins Waschbecken gekotzt.

Ich fuhr mit einem Taxi in meine Wohnung. Ich habe aufgeräumt … ich habe abgewaschen … gesaugt.

Am Nachmittag klingelte es an der Wohnungstür. Es war Marcel … Wir waren verabredet … wir wollten ins Kino gehen … Ich habe die Tür nicht geöffnet. Ich habe den Fernseher eingeschaltet und mir Sportsendungen angeschaut … Wenn mein Vater mich vögelte, lief oft der Fernseher. Er liebte Sportsendungen … Fußball … Eishockey … Radrennen … alles … Das habe ich nie verstanden.

Am Abend ging ich aus, ich trug immer noch meine schwarze Trauerkleidung. Ich fuhr mit der Metro ins Zeitungsviertel. Eine Freundin hatte mir erzählt, dass hier kürzlich ein neuer Nachtclub aufgemacht habe … Ich habe ihn nicht gefunden. Auf der Straße sprach mich ein Ausländer an. Er wollte zum Gare de l’Est … ich schickte ihn in die entgegengesetzte Richtung.

Ich ging in eine überfüllte Bar, setzte mich an den Tresen und bestellte einen Martini.

Ein Schnauzbart sprach mich an. »Ich habe dich schon einmal gesehen!«

Ich antwortete. »Du hast mich aber noch nicht nackt gesehen!« Ich ließ ihn abblitzen, er war hässlich.

In der Ecke stand ein junger Mann … zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig … blond, schmalhüftig, groß. Er sah so süß und so verdammt dumm aus … Ich wollte Sex mit ihm haben … auf der Stelle … jetzt gleich, sofort … hier … heute Nacht.


Der autobiographische Roman »Ich Nichts Denken« der erst zweiundzwanzigjährigen Pariser Schriftstellerin Albertine Mounier zählt in Frankreich zu den erfolgreichsten und meistdiskutierten Büchern der letzten Jahre. Albertine Mounier, die Tochter des 1998 bei einem Autounfall ums Leben gekommenen Philosophen und Zeitungskolumnisten Paul Mounier, bezeichnete ihr Buch in einem Radiointerview als »literarischen Selbstmord und persönliche Sterbehilfe«. Der Roman löste in Frankreich höchst unterschiedliche Reaktionen aus, nicht nur die Schilderung der inzestuösen Beziehung zu ihrem Vater, auch die schonungslose Nennung und Beschreibung ihrer zahlreichen Sexualpartner – vor allen Dingen das Verhältnis mit dem rechtskonservativen Politiker Alain Revel – führten zu einem regelrechten Skandal und brachten der Autorin Morddrohungen und Vorwürfe der Egomanie und blinden Zerstörungssucht ein. Gegen Albertine Mounier und den Verlag Brasson laufen noch siebzehn Verleumdungsklagen, in einer Zeitungsanzeige erklärten sich jüngst annähernd fünfzig französische Schriftsteller, Intellektuelle und Künstler mit der Autorin solidarisch.

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