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Der unsichtbare Angestellte

Manche Menschen halten mich für einen Geist. Aber ich bin kein Geist. Ich lebe. Ich bin aus Fleisch und Blut und arbeite für einen großen Versicherungskonzern in Göteborg, SÄKERHET, es ist einer der größten Versicherungskonzerne in Schweden. Ich arbeite jede Woche sechsunddreißigeinhalb Stunden, keine Minute mehr, keine Minute weniger. Von Montagabend bis Samstagfrüh, außer an gesetzlichen Feiertagen.

Pünktlich an jedem Monatsersten überweist mein Arbeitgeber das Gehalt auf mein Konto 48360647 bei der Königlich-Schwedischen Drei-Kronen-Bank. Mein Bruttoeinkommen beträgt zur Zeit 39.740 Kronen pro Monat. Die Urlaubstage lasse ich mir als Überstunden auszahlen. Am Ende jedes Jahres werden meine Bezüge um 1,25 Prozent angehoben. Ich halte das für angemessen.

Seit siebenunddreißig Jahren arbeite ich für SÄKERHET, doch niemand weiß, wie ich aussehe. Ob ich ungepflegt zur Arbeit erscheine, in Jeans oder im Dreiteiler. Ob ich einen Bart trage, Brille oder Glatze. Ob ich groß bin oder klein, gedrungen oder schmal, blass oder braungebrannt, ob ich Handball mag oder Eishockey.

Meine Vorgesetzte Malin Kindvall hat mich noch nie gesehen. Auch keiner meiner Kollegen und Kolleginnen. Hasse Skoglund (Referat 2.4.1.1, später Referat 2.4.2), der letzte Kollege, der mich noch persönlich kannte, ist vor dreiundzwanzig Jahren, im Marienkäfersommer 1986, gestorben. Ich habe die Kondolenzkarte für seine Familie unterschrieben und mich finanziell an dem Trauerkranz für seine Beerdigung beteiligt.

Ich bin ein Musterangestellter. In den gesamten siebenunddreißig Jahren habe ich keinen einzigen Tag gefehlt. So soll es auch bleiben. Noch nie hat sich jemand über mich beklagt. Es gibt auch keinen Grund dafür.

In der Regel betrete ich das Gebäude um einundzwanzig Uhr dreißig. Die Pförtnerloge ist dann unbesetzt und die Reinigungskräfte haben das Gebäude bereits verlassen. Ich melde mich am Zeiterfassungssystem an und gehe zu meinem Arbeitsplatz im dritten Stockwerk. Es gibt einen Aufzug, doch ich nehme die Treppe. Ich nehme immer die Treppe, in Fahrstuhlkabinen bekomme ich Platzangst.

Mein Schreibtisch ist fast immer leer. Manchmal liegt eine Aktenmappe darauf – oder eine Zeitung oder eine Plastiktüte. Ich lege die Aktenmappe, die Zeitung oder die Plastiktüte dann auf die Fensterbank oder auf den Schreibtisch meines Kollegen. Ich teile mir das Büro mit Ove Alexandersson (Referat 2.2.6). Er ist ein angenehmer, unauffälliger Kollege, ich kann nichts Negatives über ihn sagen.

Ich schaue, ob Ove Alexandersson seine Kaffeetasse gespült und die Blumen gegossen hat. Dann prüfe ich, ob die Mülleimer geleert wurden, in den letzten fünf Monaten wurde das bereits zweimal versäumt. Ich habe mir vorgenommen, beim nächsten Mal einen Beschwerdebrief an die Reinigungsfirma zu schreiben.

Nachdem ich geschaut habe, ob die Tasse gespült, die Blumen gegossen und die Mülleimer geleert wurden, gibt es für mich eigentlich nicht mehr viel zu tun. Ich könnte mich an meinen Schreibtisch setzen, in einem Buch lesen oder ein Kreuzworträtsel lösen. Das habe ich früher oft gemacht. Doch seit 1992 besitze ich keinen eigenen Bürostuhl mehr. Ich bin auch der einzige Mitarbeiter im Haus ohne Computer, Internetzugang und Telefon.

Ich lege mich auf den Fußboden, der mit weicher, graubrauner Auslegware überzogen ist, und betrachte die rechteckig geriffelte Decke – so lange, bis ich müde werde und einzuschlafen drohe. Dann stehe ich auf und gehe eine Etage tiefer in das Büro von Caroline Öqvist. Caroline Öqvist (Referat 3.2.5) ist meine Lieblingskollegin, sie hat vor acht Jahren bei SÄKERHET angefangen. Caroline Öqvist sammelt Postkarten mit Leuchtturm-Motiven und isst gerne Früchtemüsli. Ihr Radiogerät ist auf die Frequenz 94,3 Megaherz eingestellt – so wie das der meisten anderen Kollegen. Seit Caroline Öqvist nicht mehr raucht, steht unter ihrem Schreibtisch eine Personenwaage.

Vor ihr saß Frederik Källström (Referat 3.3, jetzt 1.2) in dem Büro, davor Lotta Sjögran (Referat 3.4.1.2, jetzt 2.4.1.2). Frederik Källströms Büro befindet sich jetzt in der vierten Etage, Lotta Sjögran heißt seit der Heirat mit Petter Bengtsson (Referat 2.1) Lotta Sjögran-Bengtsson, ihr Büro befindet sich jetzt wie meines in der dritten Etage.

Im Erdgeschoss des Gebäudes sind die Poststelle und das Rechenzentrum untergebracht, in der ersten Etage befinden sich die beiden Chefbüros und die Vorzimmer. Nur die Vorzimmer sind beschriftet: Vorzimmer Dr. Holmén, Vorzimmer Dr. Elmander. In den Etagen zwei, drei und vier folgen die Referate 3, 2 und 1. In der vierten Etage sind auch noch die Buchhaltung und die Materialausgabe untergebracht. Die Chefs und ihre Sekretärinnen trennen die Arbeiter von den Angestellten.

Bevor ich in die Poststelle gehe und mein Postfach prüfe, schalte ich oft Caroline Öqvists Computer und Monitor ein und warte, bis nach einer Viertelstunde der Bildschirmschoner anspringt. Dann verwandelt sich der Computer in ein einziges großes azurblaues Meer – mit weiß schäumenden Wellen, durch die lachende Delphine hüpfen. Ich könnte dem munteren Treiben stundenlang zusehen, ohne Zweifel hat Caroline Öqvist den schönsten Bildschirmschoner im ganzen Haus.


Orvar Söderberg ist »Der unsichtbare Angestellte« in Eddie Mellbergs gleichnamigem ersten und bislang einzigen Roman. Söderberg arbeitet für eine Göteborger Versicherungsfirma, allerdings nur in den Nachtstunden, wenn das Gebäude bis auf ihn menschenleer ist. Orvar Söderberg hat keinen Kontakt zu seinen Arbeitskollegen, er nimmt nicht an den Betriebsausflügen teil und schaut zu, wie die Namensschilder an den Türen wechseln. Söderberg führt ein stilles, zufriedenes Angestelltenleben – bis zu dem Tag, an dem das Büro seiner Lieblingskollegin plötzlich leer geräumt ist. Mit einem Schlag gerät sein Leben aus den Fugen. Wie Orvar Söderberg war auch Eddie Mellberg jahrzehntelang für einen Versicherungskonzern in Göteborg tätig. Während seiner Arbeitszeit schrieb Mellberg den sozialkritischen Thriller, der sieben Monate lang die schwedischen Bestsellerlisten anführte, bis er von Anna-Maria Schelins »Das zartgelbe Haus mit den Zwiebeltürmchen« abgelöst wurde.

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