Читать книгу SUMPFLAND - Marc Drobot - Страница 10
Si vis pacem, para bellum
ОглавлениеAls mein Großvater 1993 erschossen wurde, spielte ich mit Freunden Fußball im Alaunpark; die Sprunggelenke waren noch in Ordnung und die Tage strukturiert durch Schule, Hausaufgaben, Freizeit. Wieder einmal denke ich daran. Bewusst in Bildern, die sich mein Gehirn ausmalt, schieben sich die Worte und Geschichten – denn es sind mehr Geschichten als Aussagen – ja, die Geschichten all der verschiedenen Menschen zusammen und ergeben Bilder in einer Abfolge oder auch einzeln. So tauchen sie wieder auf bei vielerlei Gelegenheit und versperren mir die Sicht. Was ist damals passiert? Und auch wenn ich es nun weiß, was damals passiert ist, bleibt die Frage: Wieso ist es so passiert? Heute ist ja heute, doch auf einer Zeitachse kommt man zu dieser Stunde nur, indem man die Punkte der Vergangenheiten unserer Biografien verbindet und die Linie bis hierher verlängert.
Er wurde erschossen in einem Alter, in dem die meisten Menschen, die erschossen werden, schon tot sind. Ich weiß nicht, was ein Mann wie er mit siebzig Jahren vom Leben noch erwartet. Ermordet zu werden, gehörte jedenfalls nicht mehr dazu. Die Zeiten dieser Ängste hatte er bereits seit Jahrzehnten hinter sich. Nun war er nur ein alter Mann, der durch die Prager Straße schlurfte und sich einige Eigenarten zugelegt hatte. Eigenarten, die seine Umwelt eben seinem Alter zuschrieb. Und in der Art, wie sich seine Schuhe auf dem festen Pflaster abnutzten, nutzte sich auch das Bild ab, das ich von ihm in mir trug. Vieles eines Lebens bleibt wohl für immer auf der Strecke. Großvater war daher wie eine Pinnwand, an der eine Handvoll Ereignisse festgemacht waren, die miteinander in Beziehung standen (vielleicht wie Zahlenbilder). Ein Charakter wie er konnte wohl auch nur eine Mischung aus Fakten und meiner Fiktion sein. So lichtlos und unkonkret mit mir verbunden, dass ich immer wieder das Bedürfnis hatte, ihn beim Familiennamen zu nennen, nicht Großvater, nicht Opa, nicht irgendwas Persönliches, nicht, als würde mich das hier etwas angehen. Denn es gab Gründe, warum ich nichts Genaueres wusste:
Er überwarf sich an einem Jahre zurückliegenden Familiengeburtstag mit seinem Sohn – meinem Vater. Dieses Ereignis gebe ich als Grund an, weshalb ich selbst zu seinen Lebzeiten nur sehr sporadisch Kontakt zu ihm hatte. Um den Frieden zu wahren, wurden selbstverständlich auch weiterhin Familienfeiern und andere wiederkehrende Festivitäten im Kreise der Familie abgehalten, an denen auch ich teilnehmen musste, doch spürten die Anwesenden nur Kälte. Das Schweigen wurde simplerweise mit Worten über Sportereignisse gefüllt. Der Streitpunkt kam zu Lebzeiten meines Großvaters nie mehr auf den Tisch, er nahm ihn vorübergehend mit ins Grab.
Doch zum Zeitpunkt der Überwerfung lag es wohl kurz und bündig offen da, aus einer verschütteten Spalte freigelegt, sich aus den Tiefen an die Oberfläche gebohrt wie Bebop und Rocksteady, hervorgetreten, wer weiß, durch Erosion? Durch den Klimawandel, der vermutlich schon damals eingesetzt hatte? Vater wiederum war so gekränkt, dass er an jenem Nachmittag – auch er hatte getrunken – aufsprang, auf Großvater zuging und mit geballten Fäusten so etwas schrie wie: „Du verbohrtes Arschloch! Wie kannst du Nazischwein nur mein Vater sein?“ Dann packte er mich und meine Schwester und trug uns wie eine Katzenmutter nach draußen und weiter bis zur Straßenbahnhaltestelle. Dort stand bereits unsere Mutter, völlig aufgelöst und verheult. Tamara, meine Schwester, und ich, wir sahen einander verdutzt an und begannen auch zu weinen. Als Letzter weinte mein Vater. Nie wieder haben wir unseren Vater so emotional erlebt, so befremdlich ausufernd in den Extremen Liebe und Hass. In diesem Moment brannte es sich wohl in unsere kindlichen Gehirne: „Nazischwein – Vater – Sein“.
Ich glaube, Vater schleppte uns die hundert Meter, um wieder Herr seiner Wut zu werden. In der Bahn sahen uns die Fahrgäste alle komisch in unsere verheulten Gesichter und da wurden Tamara und ich auf die Schöße von Mutter und Vater gesetzt. Die Familie rückte ganz dicht zusammen.
An den darauffolgenden Tagen gab es Regen. Wo früher Gebäude standen, wo später Trümmer lagen, war nun Matsch; wir liefen mit verschiedenfarbigen Gummistiefeln in der zerschlagenen, der umgeformten Johannstadt umher und während die Elbe trank, sangen wir selbst gedichtete kindliche Lieder, zusammengesetzt aus übel riechenden Fetzen der Erwachsenenwelt. „Du bist klein und gemein, dein Vater ist ein Nazischwein“ und so weiter. Wir hielten in diesen Tagen zusammen. Die anderen Kinder der Gegend mochten uns verständlicherweise daraufhin nicht besonders.
Zurück zu seinem Mord sowie zu seinem Leben.
Großvater mit seinen siebzig Jahren blickte in diese postkommunistische Sonne, rückte seine Brille zurecht und dachte sich sicher nichts dabei. Unter all diesen bunten Menschen saß er auf einem Campingstuhl hinter seinem kleinen Trödelstand. Jedes Wochenende, am Sonnabendvormittag, fanden sich die Trödler auf dem gepflasterten Elbufer gleich neben der Albertbrücke zusammen. Sie bauten ihre Stände auf und hofften auf günstiges Wetter, denn dann würde der Besucherstrom bis zum Nachmittag nicht mehr abnehmen. In all dem unnützen Plunder suchten die Menschen nach sich selbst und fanden nur Gelegenheiten, ihre Besitzlüsternheit mit Sammelgefühlen zu kombinieren. Ganze Wohnungen wurden so zugestellt mit Überdauertem, ganze Regale gefüllt mit vergilbten Büchern.
Stromer verachtete insgeheim dieses Verhalten. Er stand nur hier, um seinen eigenen Plunder loszuwerden und, wie er sagte, auch mal rauszukommen an die Sonne. Auf seinem Tapeziertisch, den er sich Woche für Woche von einem Nachbarn lieh, hatte er mehrere weiße Tischdecken ausgebreitet, davon gab es in Stromers Haus eine beachtliche Menge. Und diese Tischdecken, die seit dem Tod seiner zweiten Frau Margot kaum noch Verwendung fanden, flatterten mit ihren Beschwerern, die wie verschiedene Südfrüchte aussahen, im Vormittagswind. Die Möwen standen in der Luft. Auf diesen Tischdecken hatte er seine monumentalen Schnitzereien aufgebaut. Kleinkunst aus Überdruss. Engel verschiedener Größe und Nacktheit und, hier lag das Besondere an seinem Angebot, vier etwa dreißig Zentimeter hohe hölzerne, mit Klarlack überzogene Skulpturen, denen eine intakte Frauenkirche als Modell gedient hatte. Sie fanden Beachtung. In einer Zeit, in der das kollektive Trauma der vergangenen politischen Systeme nicht nur in den Herzen, sondern auch in den Straßen, an neuen und alten Gebäuden sichtbar wurde, bedeutete eine Frauenkirche, wie es sie für viele der Passanten nie gegeben hatte, unzerstört, ein kleines Heimatglück. Zumal niemand das handwerkliche Geschick herabgewürdigt hätte, das dazu nötig gewesen war, solch lebensechte Reinkarnationen eines Sandsteingebäudes in gewachsenem Holz auferstehen zu lassen.
Stromer hatte noch einige davon im Keller, wo sich auch seine gut ausgestattete Werkstatt befand.
Dabei handelte es sich jedoch keineswegs um einen festen Bestand, es kamen immer neue dazu. Er arbeitete hart und konzentriert bis weit in die Nächte, das führte dazu, dass sich das Zimmer begann, mit Holzskulpturen zu füllen. Und über die zahlreichen Versuche muss er dann tatsächlich ein annehmbarer Holzbildhauer geworden sein. Vieles andere aber vernachlässigte er wohl darüber. Irgendwann, wahrscheinlich nach einer von vielen Streitereien zwischen ihnen, bestand Margot – sie drohte mit dem Verbrennen im Garten – darauf, dass diese „Klötze“, die mittlerweile auch den Rest des Hauses zu bevölkern begannen, aus jenem verschwänden. Man einigte sich darauf, sie peu à peu auf dem Trödelmarkt zu verkaufen. Und da dieses Verkaufen eher ein Verschenken war, wurde in den Kellerregalen allmählich auch wieder Platz für Eingemachtes. Stromer war es egal. Es ging ihm einzig um die Arbeit, die er mit ihnen hatte, da wäre die reine Vernichtung ihm unsinnig vorgekommen. Hätte Margot jedoch darauf bestanden, nun, letztlich hätte er auch dem zugestimmt.
Einem Kind fiel ein Eis zu Boden, ein anderes Kind trat hinein. Altes Zeug wurde verscherbelt. Ein Mann lief umher. Dieser Mann sah älter aus als Stromer selbst. Seine Augen: irgendwie schlaflos. Mit Pullover und Jeans bekleidet, nichts Besonderes also. Er wählte den direkten Weg und lenkte seine Schritte auf Stromers Stand zu, der gerade zwei blutjungen Mädchen mit irgendwie gestrickten Jacken eine seiner Frauenkirchenskulpturen verkaufen wollte. Sie hatten beide kurz geschorenes blondes Haar und hielten sich an den Händen. Die beiden Männer wunderten sich über nichts mehr, denn scheinbar, unabhängig voneinander, waren sie alt geworden. Sie führten kein Leben mehr, sie standen daneben und sahen zu, ohne zu werten, ohne sich irgendwie aufzuregen oder mitzustreben. Denn etwas warf schon lange Schatten und in diesem Schatten wollten doch beide insgeheim diese Mädchen küssen, als wären es ihre Mütter, die sie doch schließlich schon einmal in die Mitte des Lebens gesetzt hatten. Es reichte einzig, dass sie jung waren, um die alten Männer in ihrem Innersten zu berühren. Der eine empfand Hass, der andere Sehnsucht. In diesem großen Schatten also geschah es.
Der Fremde, eine alles in allem faltige Gestalt, trat Stromer gegenüber. Seine Bewegungen waren so langsam, dass alles ihm entkommen konnte. Er drängte die beiden Mädchen mit seinem alten schweren Körper langsam zur Seite. Die regten sich auf und beschimpften ihn, nannten ihn einen „geilen alten Sack“, doch das halbe Spektrum ihrer hohen, nichtssagenden Stimmen konnte er sowieso nicht mehr wahrnehmen. Er versuchte, Stromers Augen in den Blick zu bekommen, was ihm nicht gelang. Stromer wich dem stumpfen Betrachten aus. Mit beiden Händen umklammerte er die Frauenkirchenskulptur, die er den Mädchen gerade gezeigt hatte. Unterdessen wickelte der Fremde vorsichtig eine Pistole, eine P 08, aus einer Aldi-Plastiktüte und nahm das Stück Mechanik in die Rechte. Er flüsterte selbstvergessen: „Endlich!“ und richtete den Lauf links geneigt zu Boden. Stromer erkannte die Waffe als Waffe, aufgrund seiner Sehschwäche, erst sehr spät, zuvor ergriff er sofort Partei für die respektlos behandelten jungen Damen und blaffte den Fremden sichtlich verärgert an: „Was soll das denn hier? Sie sehen doch, dass ich die Damen bediene, also verhalten Sie sich mal friedlich!“
„Friedlich?“ Der Fremde lachte nicht einmal. Er mühte sich ab, um mit der Linken den Verschluss zu spannen. Eine Patrone glitt in den Lauf. Der Fremde atmete durch, ließ die Linke fallen und sagte leise: „Alles, was du sagst, ist bedeutungslos.“
Er richtete die Waffe auf Stromer und sagte noch etwas wie: „Hättest du Frieden gewollt, dann hättest du nicht für den Krieg gerüstet.“
Stromer hörte das Flüstern und erkannte die Waffe. Reflexartig drückte er die Frauenkirchenskulptur nun an sich, als wäre sie ein schutzbedürftiges Kleinkind. Es lag gar keine Dramatik in der Luft. Der Fremde sagte nichts mehr und drückte ab. Seine altersbefleckte Hand zitterte, als sein Zeigefinger sich um den Abzug krümmte. Blam! Blam! Das Nichts traf Stromer ins Herz, dann drangen Projektile in seinen Körper ein. Die erste Kugel traf ihn in den Hals, zerfetzte seinen Kehlkopf, wurde am zweiten Halswirbel abgelenkt und trat seitlich wieder aus. Blut bespritzte die unschuldigen Mädchen. Die zweite durchschlug die Laterne der Frauenkirche und drang dann tief in Stromers Brust ein, hier kam das Blut nur langsam. Die Kirche fiel zu Boden, Holz splitterte, barocke Details brachen herab. Alles war verloren. Kurz aber schlug Stromers Herz schneller, sehr viel schneller, denn es ging zu Ende, denn er war aufgeregt, denn es ist unmöglich, dass so etwas möglich ist.
Als der Fremde schoss, hatte er seinen Kopf weggedreht, hatte er seine Augen geschlossen, als wollte er so weit wie möglich von seinem Handeln entfernt sein. Sein Arm war aber, das würde er nicht leugnen können, immer noch die Exekutive seines Körpers und die P 08 für alle Zeiten nur Instrument. Sein Wille war geschehen. Diese Feigheit machte also überhaupt keinen Sinn; zwar ist es allgemein üblich, dass die Judikative wegschaut, wenn gerichtet wird, in diesem Fall blieben allerdings Fragen offen. Zum Beispiel: Weshalb kommt ein Mann auf einen Flohmarkt, um dort einen anderen zu töten? Und warum tut er es dann so halbherzig? Weshalb versuchte das Opfer nicht wegzurennen oder sonst irgendwie zu handeln? Es muss doch die Waffe gesehen haben, Zeit hatte er doch. Wenn man die Berichte und Zeugenaussagen liest, besonders die der zwei Mädchen, kommt es einem fast so vor, als hätte Stromer die Gefahr, also die Waffe, einfach nicht als Bedrohung empfunden. Als hätte er sie ausgeblendet. Als hätte er die gesamte Situation ausgeblendet, da sie zu kompliziert geworden war.
Ich fragte mich daher, ob das wohl etwas zu bedeuten hatte.
Die Menschen umher zuckten schon beim ersten Schuss, die blonden Mädchen ließen ihre Hände fallen. Sie waren wie Kameras und wollten alles sehen. Beim zweiten duckten sich die Passanten weiter und suchten Schutz hinter allem möglichen Kram. Die Mädchen standen starr. Dann warteten sie ab. Der Fremde ließ die Waffe fallen. Die eine blickte ihm, die andere Stromer in die Augen und es war ihnen, als wären diese beiden abseitigen Alten in diesem Moment ihre Väter, die durch die Liebe, die sie gewählt hatten, zu grausig dummen Opfern geworden waren. Dann flog die Plastiktüte und die herumstehende Zeit nahm ihren Fluss wieder auf. Der neue Mörder setzte sich auf den Boden und begann zu weinen, „Endlich!“, während Stromer zusammengebrochen auf der Erde lag und sein Herz pulsierende Ströme Blut aus seinem zerfetzten Hals und seiner Brust pumpte. Stromers Baumwollhemd sog sich damit voll, es floss dunkel auf das Kopfsteinpflaster und versickerte in den Fugen. Sein Sterben will wohl fünfzehn Minuten gedauert haben. Niemand kann sagen, was er in dieser Zeit noch dachte. Er starb, lange bevor der Krankenwagen eintraf.
Nachdem die Schüsse verhallt waren, verflog auch die andächtige Stille der Anwesenden. Und als der Fremde dann weinend und unbewaffnet auf dem Pflaster kniete, zeigten zwei militärisch gekleidete Flohmarktstandbetreiber Zivilcourage, stießen den alten Mann um und setzten sich auf ihn, bis die ersten Streifenpolizisten eintrafen. Auch diese waren noch nicht sehr oft in solch eine Situation geraten. Man blieb also dabei und drückte den Kopf das Schützen weiter in den Straßendreck. Noch bei der Vernehmung knirschten Kiesel im Mund des Alten und er meinte einen erdigen Geschmack, vermutlich Reste von Hundekot, wahrzunehmen. Er bat um ein Taschentuch, in das er ausspuckte. Der Geschmack aber blieb. Der Mörder bewahrte ihn auf in seinem Fundus traumatischer Geschmäcker, alle gekoppelt an Erinnerungen. Als sie ihn nach der Vernehmung abführten, verschwand mit den Fragen auch der Geschmack, als hätte der Raum selbst ihn abgegeben. Zu diesem Zeitpunkt sah er auf und in die Gesichter der Beamten. Sie wirken nicht erdig. Es waren zwei bleiche Sachsen. Pragmatische Rassisten von vielleicht vierzig, fünfundvierzig Jahren. Man kann annehmen, dass ihre Laufbahn sie ohne weitere Umwege von der Freiwilligen Feuerwehr Goldbach zur Kriminalpolizei in die Landeshauptstadt geführt hatte. Sie blieben dabei.