Читать книгу SUMPFLAND - Marc Drobot - Страница 12
Interessehalber
ОглавлениеDem Mord an meinem Großvater folgte die übliche Berichterstattung der überregionalen Medien. So genannte „Schweineblätter“ hatten es sich wiederholt einfach gemacht und begonnen, verschiedene Gründe, die den Mord erklären könnten, zu skizzieren. Angefangen beim klassischen Nachbarschaftsstreit bis hin zum späten Ehebruch wurde alles angenommen. Dass die Mordwaffe selbst ein antikes Stück war, welche die Ermittlungsbehörden keinem Besitzer zuordnen konnten, heizte kurzzeitig den Verdacht an, es könnte sich um eine symbolische Vergeltungsaktion innerhalb der Führungsstruktur der Flohmarktmafia handeln. Nachdem der Hintergrund der beiden beteiligten Männer eingehend überprüft worden war, ließ man diese Theorie allerdings fallen. Es fanden sich keine Verbindungen. Es waren doch nur alte Männer.
Die einige Wochen später stattfindende Gerichtsverhandlung wurde dementsprechend kaum noch wahrgenommen. Aufgrund des geringen Selbstzerfleischungscharakters machte es für die großen Tageszeitungen keinen Sinn mehr, darüber zu berichten. Der Fall geriet schnell in Vergessenheit und neuen Unmenschlichkeiten gehörte die Aufmerksamkeit. Es soll hier allerdings nicht allein auf die Unmoral der Presse hingewiesen werden, auch innerhalb unserer Familie hatten die Betroffenheit und wohl auch das Interesse an dem Thema über die Wochen und Monate nachgelassen. Ich weiß noch, die ersten Tage nach dem Tod unseres Großvaters stand ich nur da und versuchte mit meinen zehn Jahren zu begreifen, was das nun für mich und für unsere Familie bedeuten würde. Denn ich war von einer Sekunde auf die andere der Enkel eines Toten. Es war das erste Mal, dass ich bewusst den Verlust eines Familienmitglieds wahrnahm, dass ich darüber nachdachte. Ich weiß noch, wie ich mich wunderte, dass ich nicht traurig war wie die anderen. Wie ich mich wunderte, dass ich den Tod nicht verstand. Traurig machte mich nur die Trauer der anderen. Doch als mir klar wurde, dass es eben nicht ein Verlust war, der mich berührte, spürte ich bald, dass sich für die Familie nichts groß ändern würde. Die Straßenbahnen fuhren noch im gleichen Takt, die Menschen draußen waren angeschlagen wie eh und je. Und da ich, wie schon gesagt, nie ein sonderlich enges Verhältnis zu meinem Großvater hatte, war sein Tod, abgesehen von den besonderen Umständen, doch ein Ereignis, das keine Wellen schlug. Das Geschehene entwickelte sich auch innerhalb unserer Familie schnell zu einem Ereignis, mit dem man sich leichterhand abfand. Und bis auf meinen Vater gingen, nach einer kurzen Zeit der Verwirrung (Trauer?), alle durchaus rational mit dem Verlust Stromers um. Mein Vater, der wiederum seinen Vater zu Lebzeiten verachtet hatte, wurde im Angesicht des Todes äußerst nachsichtig, der Verlust ließ ihn einige Wochen nicht zur Ruhe kommen. Immerhin hatte Stromer ihn aufgezogen, ernährt und geliebt. Und auch wenn sie sich nie gegenseitig verstanden hatten, so waren sie doch immer miteinander verbunden gewesen, der eine definierte den anderen. Wäre Stromer nicht der Mann gewesen mit der Biografie, die er hatte, so wäre mein Vater ein anderer, so wäre ich ein anderer, so wären alle andere, vielleicht bessere Menschen geworden.
Doch kurz gesagt, der Alltag ließ die Ereignisse schnell zu Geschichte werden und bei all den täglichen Prozeduren berührten sie mich kaum noch. Ich ging weiter zur Schule, kam irgendwann in die Pubertät und überstand auch das mit einigen Kopfschmerzen, ohne rückfällig zu werden. Wirklich in Erinnerung gerufen wurden mir die Dinge erst wieder, als ich meine (fantastisch aussehende) Schwester Tamara kurz nach der Geburt ihrer ersten Tochter besuchte. Ich liebte sie an diesem Tag. Ich liebte alle. Der Kleinen hatte sie den Namen Lilith gegeben, nach der populären jüdischen Sagengestalt, welche – in Auslegungen jüdisch-feministischer Theologie – zu Adams erster Frau bestimmt war. Denn da der Niedrigste (der kleine Gott) ihr befahl, sich ihm unterzuordnen oder unten zu liegen, je nachdem, verweigerte sie sich schlussendlich Adam und erpresste den Niedrigsten, ihr Flügel zu verleihen, denn sie kannte seinen Namen, was ihr nahezu unbegrenzte Macht gab. So konnte sie dann auch das Paradies überwinden. Heute hatte der Name Lilith Konjunktur. Viele Töchter esoterisch verblendeter Feministinnen bekamen diesen Namen angehängt. Ich verstand also nicht so recht, was sich meine Schwester dabei dachte, der Kleinen einen solchermaßen schwer mit jüdisch-christlich-feministischer Mythologie aufgeladenen Namen aufzubürden. Ich glaubte, in dieser Namenswahl ihre Verbitterung darüber zu erahnen, dass sie mit der kleinen Lilith sitzen gelassen worden war. Ich sagte nichts. Ich konnte sehen, dass sie glücklich war, glücklich und sehr lebendig. Ich schloss Tamara in meine Arme. Was spielten Namen da noch für eine Rolle, später könnte sich die Kleine ja ebenso gut „Lil’ Bitch“ nennen. Frohen Mutes grinste ich durch die Gegend und Lilith saugte fordernd und noch ohne Trennungsschmerz an Tamaras Busen. Dann schlief sie ein.
Flüsternd wurden wir Geschwister euphorisch und erinnerten uns an die Zeit, als wir beide noch nicht vollständig zu Junge und Mädchen gemacht waren. Als wir nichts als zwei Gestirne waren, die zusammen Mist bauten. Und zwangsläufig kamen wir auf dieses eine Lied, das trotz der vielen Jahre immer noch schlecht vernarbt in unseren Köpfen steckte. Und später, als ich Lilith und meine Schwester verlassen hatte und allein unter einer Dusche stand, da presste sich unter Schmerz und Blut (ich brach unvorsichtigerweise mit dem Seifbeutel eine alte Schürfwunde am Ellenbogen wieder auf) auch ganz spärlich die Erinnerung an einen wütenden Vater und an eine Geburtstagsfeier, die den Anlass und den Raum dafür bot, hervor. Das ging mir von da an nicht mehr aus dem Kopf.
Gepeinigt von einer Wurzelgeschichte fragte ich bei nächster Gelegenheit meine Eltern, was damals eigentlich zwischen Vater und Großvater vorgefallen war. Beide waren wohl etwas verdutzt, dass ich sie darauf ansprach, wo doch seit Jahren niemand mehr über Großvater gesprochen hatte. Vater seufzte, als wäre er sehr traurig darüber, sich erinnern zu müssen. Dann sagte er nur: „Begraben und vergessen!“ und erzählte weiter von seinen Modellflugzeugen.
Als ich wiederum einige Tage später von irgendeinem Seminar zerstückelt in meine neue WG zurückkehrte, war mein Vater kurz zuvor da gewesen und hatte eine Kiste für mich abgegeben. Ich war erst vor drei Monaten hier eingezogen und versuchte noch, die besten Umgangsformen für das Leben in einer Zweier-WG zu erlernen. Zu den normalen Schwierigkeiten, zur Abtrennung von den allzu familiären Strukturen kam auch noch dieses Mädchen-Junge-im-selben-Alter-Ding, das verkomplizierte unsere Kommunikation in den ersten Wochen erheblich und sorgte oft für Verwirrung. Claudi jedenfalls hatte meinen Vater hereingelassen und offensichtlich hatten sie sich bei Kaffee und Kuchen ausführlich über mich ausgetauscht. Da ich allerdings niemals erfuhr, was alles gesagt wurde, war mir von diesem Tag an klar, dass Claudi, sollte sie einmal in Argumentationsnot geraten, mit Sicherheit einige Dinge über mich wusste, die sie dann ausspielen würde. Seitdem ärgerte sie mich damit, angeblich über Wissen aus meiner frühesten Kindheit zu verfügen. Und dieses dynamische Ärgernis führte dazu, dass sich unsere Gespräche veränderten. Wir forderten uns heraus und begannen so zaghaft mit der Preisgabe der Verschlossenheit. Die Kiste aber, die mein Vater zurückgelassen hatte, enthielt Interessantes, das sich zusammen mit der kürzlich zurückgekehrten Erinnerung an Großvater vermischte und so als verdichtetes Surrogat in mir wirkmächtig wurde. Ich begann, mir Fragen zu stellen. In der Holzkiste, etwa von der Größe eines Bierkastens, lag – wie ein Kind in einem Sarg in weißes Leinen gebettet – eine hölzerne Frauenkirchenskulptur. Unter der Figur fand ich neben militärischen Artefakten und neuzeitlichen Landser-Heften ein Kriegstagebuch, das augenscheinlich jenem Großvater Stromer gehört hatte.