Читать книгу SUMPFLAND - Marc Drobot - Страница 6
Kalte Eröffnung
ОглавлениеEine kalte Eröffnung. Ein Polterabend in einem kleinen sächsischen Dorf. Eine große Pause an einem Gymnasium in Brandenburg. Eine S-Bahn-Fahrt ins Berliner Umland. Ein Campingplatz bei München.
Eine Collage von Übergriffen. Wem passiert so was schon?
Unter blauem Himmel an einer Backsteinmauer lehnte ein schlaksiger Junge mit Haltungsschaden und wirrem Haar, Gedanken an Bilder von Mädchen verschwendend, die es so nicht gab. Er hieß Sebastian und es waren Sommerferien. Er war fünfzehn und überredete seine Eltern bei deren Gartenarbeit, ihn doch mit seinen Freunden zum Zelten an die Ostsee zu lassen. Es gelang.
Nun saßen er und seine Freunde am Timmendorfer Strand und blickten in ein Lagerfeuer. Die Dämmerung zerrte am Umgebungslicht und das Meer war ganz nah. Die Freiheit lag in allem. Sie waren vielleicht betrunken, lachten, hatten Spaß. Da waren ein paar Mädchen aus dem Ort, die sie nachmittags am Stand mehr oder weniger kennengelernt hatten. Sie waren geblieben und scherzten mit den Jungs aus dem Süden. Die Wellen rollten heran und die Nacht machte alle blind. Sebastian unterdessen glühte. Er trank noch weiter vom Hansapils. Irgendwann gefiel ihm eines der Mädchen besonders, sie hob sich ihm schon seit dem Nachmittag aus der Masse der andern Gesichter ab. Er hatte Glück, jemand stand auf und ging pinkeln. Nun saß er neben ihr. Außen herum war nichts mehr zu erkennen, alles verschluckte die Dunkelheit. In den Augen der Verliebten spiegelte sich das Feuer. Viele Augen sahen in das Feuer und die Pupillen waren schwarz und voll großer Erwartungen. Alle hatten das Gefühl, heute Nacht etwas zu entdecken, von dem sie bereits gehört hatten. Sie waren das erste Mal verantwortungsbewusst und selbstbestimmt. Hatten die vielen Worthülsen ihrer Eltern, Lehrer, Erzieher im Ohr, hatten das Allermenschlichste, hatten die irrationale Sehnsucht nach weitläufigen Fehlern im Herzen.
Eine Handvoll schwarzer Silhouetten hatte sich unbemerkt der Gruppe genähert. Es waren riesenhafte Gestalten mit verschränkten Armen. Direkt aus dem Reich der Finsternis; ohne ein Geräusch zu machen, hatten sie sich angepirscht. Jemand, der Sebastian gegenübersaß, musste sie zuerst erkannt haben, denn Sebastian konnte die Angst, den abrupt zerfallenen Gesichtsausdruck, das Verstummen des Lachens an ihm wahrnehmen. Da wusste er, etwas Bedrohliches musste sich hinter ihm befinden. Es hatte Baseballschläger aus Aluminium dabei. Es grollte: „Was macht ihr hier? Ihr kleinen Pisser!“ Jetzt wussten alle Bescheid. Panisch sprangen einige auf, andere kauerten sich zusammen. „Ist das hier ’n Schwulentreff?“
Dann bemerkten die Gestalten die gefärbten Haare, die kindlichen Gesichter, die Angst, die nun da war, wo vorher Ausgelassenheit herrschte. Aus einem kleinen Kassettenrecorder plärrte ein Song der Ärzte. Das hübsche Mädchen schrie: „Lasst uns in Ruhe! Was wollt ihr denn?“
„Halt die fresse, Schlampe! Was sagt deine Mutter eigentlich dazu, dass du den Zecken ihre Schwänze lutschst?“ Und alle lachten im Gleichschritt. Einer packte sie und zerrte sie an den Haaren in die Höhe.
Das Mädchen schrie, es war sehr patriotisch. Dann wollte sie etwas sagen, vermutlich beschwichtigen, doch sofort traf eine Faust ihr schönes Gesicht. Eine Augenbraue platzte auf. Das Mädchen wurde zur Seite geschleudert, konnte aber nicht umfallen, da sie an den Haaren gehalten wurde.
Da sprang Sebastian auf, um sie zu retten. Adrenalin durchsprudelte ihn. Überall um ihn herum war jetzt Geschrei und Bewegung. Doch sein Widerstand wurde bemerkt und niedergeschlagen. Sofort traf ihn etwas Hartes am Hinterkopf. Blut spritzte nun auch bei ihm. Er tastete nach der warmen, pulsierenden Stelle und sackte bewusstlos zusammen. Dann trafen schwere Tritte seinen Körper, als sie nachließen, bewegte er sich schon lange nicht mehr. Der Sand sog alles auf. Im flackernden Licht des Feuers wurde das Überleben romantisch. Dass wild geschrien wurde, störte auch nicht, das Meer übertönte vieles und schluckt nimmermüde die Demütigungen der Schwachen.
Es wurde gerannt und hinterhergerannt, bis Ruhe einkehrte und die Hungrigen satt waren. Sie nahmen den halben Kasten Bier als Beute und verschwanden dorthin zurück, woher sie gekommen waren. Bald waren sie verschluckt im Dunkeln, ihre Stimmen aber sangen noch lang „Deutschland, Deutschland über alles!“
Unterdessen lagen überall um die Reste des Feuers verletzte Kinder im Sand. Die wenigen, die dem Überfall heil entkommen waren, zögerten zurückzukehren. Die Zeit verstrich sehr langsam. So langsam, dass niemand mehr sagen konnte, wann es geschehen war. Es war für immer geschehen in den Köpfen der Kinder. Sie hatten einstecken müssen und nun mussten sie es mit sich rumtragen. In diesem Zusammenhang fand die spät auf den Plan getretene Polizei niemanden. In den umliegenden Siedlungen kamen einige Jungs spät nach Haus.
Der Urlaub war dann Geschichte. Rettungssanitäter brachten Sebastian in ein Krankenhaus in Wismar. Man rasierte ihm den Hinterkopf und nähte die Platzwunde mit dreizehn Stichen. Er hatte einiges an Blut verloren. Nachdem sein Kopf versorgt war, zog man ihn bis auf die Unterwäsche aus. Dann behandelte das Personal der Notaufnahme die Prellungen, die seinen gesamten Körper bedeckten. Zwei Rippen waren gebrochen. Am nächsten Tag kamen dann die Schmerzen bei jedem Atemzug. Glücklicherweise hatte seine Lunge nichts abbekommen. Seine Kumpels waren zum Teil auch verprügelt worden. Einer konnte sich ins Meer flüchten, ein anderer entkam dem Strand in der Dunkelheit. Viele aber mussten mit ähnlichen Verletzungen wie Sebastian behandelt werden. Auch das besondere Mädchen wurde eingeliefert, sie musste die Nacht im Krankenhaus verbringen. Ihr Gesicht war geschwollen. Ein Verbund aus Sand, Blut und Haaren hing strähnig über ihr Gesicht. Man machte sie sauber, gab ihr Beruhigungsmittel und brachte sie auf die Kinderstation. Dort betreute man sie, bis ihre Mutter eintraf, die die Nacht bei ihrer Tochter verbrachte.
Gegen Mittag des nächsten Tages trafen Sebastians Eltern ein und sprachen mit der Polizei. Dann wurde Sebastian in ihrem Beisein befragt. Er erzählte, was er wusste. Erinnerung war so einfach nicht möglich. Seine Mutter war sehr aufgebracht, fast hysterisch, sie drückte stark seine Hand. Sein Vater hatte ein sorgenvolles Gesicht, versuchte aber, Ruhe und Zuversicht auszustrahlen, um die Sache nicht noch schlimmer zu machen. Vier Tage später nahmen seine Eltern ihn mit zurück nach Dresden.
Die Tage vergingen, die Fäden wurden gezogen, das Haar wuchs erneut und verdeckte die Narbe. Körperlich ging es Sebastian bald besser. Das besondere Mädchen sah er niemals wieder.