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REYKJAVÍKS RABENELTERN
MAX RETTET FRIERENDE BABYS
An seinem ersten freien Tag hat Max viele Pläne. Einer davon ist, so lange zu schlafen, wie es geht. Danach will er die Gegend um die Wohnung herum erkunden, in die Innenstadt laufen und bei all dem möglichst viel mit Einheimischen in Kontakt kommen. Als er gegen neun Uhr aufwacht, ist es draußen noch ein wenig dunkel, aber die Sonne ist definitiv bereits aufgegangen.
Er macht sich fertig und verlässt das Haus, um in Richtung Hafen zu gehen. Wie er auf der Karte gesehen hat, liegen auf der anderen Seite nur Wohngegenden, und deshalb geht es wie immer nach Norden. Auf dem Weg gibt es eine Apotheke, einen kleinen Bio-Supermarkt und eine grüne Tankstelle. In Island sind vor allem die Tankstellen der Ketten N1 (rot-weiß), Olis (grüngelb) und Orcan (schwarz-rot) weit verbreitet. Bei dem Supermarkt handelt es sich um einen, der keiner Kette angehört und recht hochwertige Produkte anbietet: Zu teuer für Max’ schmales Budget. Max ist nicht sonderlich gut im Haushalten, muss man dazu sagen: Würde er nicht so oft in Cafés sitzen und außerhalb essen gehen, wäre zu Hause auch mehr als Haferbrei und Süßigkeiten drin.
Vom Supermarkt aus geht er durch die kleinen Seitenstraßen nach Osten in Richtung Innenstadt. Immer wieder biegt er von der einen in die andere Straße ab und schaut sich um: Viele kleine Häuser, meist mit bunten Holzfassaden, reihen sich aneinander. Hier und da ist eine der Fassaden bemalt, manchmal gibt es einen kleinen Garten. Reykjavík wirkt eher wie ein Dorf als eine Stadt. Max kommt aus Berlin, wuchs aber auf dem Land auf und würde die Stadt definitiv nicht als große Stadt, geschweige denn als Großstadt einordnen.
Nach einer Weile landet Max auf dem Marktplatz, wo einige Kinder Skateboard fahren. Neben ihnen stehen metallene Rohre, aus denen Dampf austritt. Hier beginnt die Downtown von Reykjavík, also die Gegend der Stadt, wo es Restaurants, Bars, Cafés und Geschäfte gibt – die Fußgängerzone quasi. Max geht ein paar Meter und kommt an einem roten Café vorbei, vor dem ein kleines rotes Schild mit der Aufschrift »Go ahead & breast-feed: We like both, babies and boobs!« steht. Max muss grinsen und geht weiter. Dieses Café, das Laundromat, soll noch zu seinem Lieblingsort an freien Tagen werden, und er wird noch viele schöne Nachmittage hier verbringen. Seit Ende 2018 hat das Café allerdings leider geschlossen.
Max geht weiter in Richtung Osten. Nach einer großen Kreuzung geht es entweder geradeaus die Laugavegur entlang oder nach rechts zur großen Kirche, der Hallgrímskirkja. Die Laugavegur ist die große Einkaufsstraße von Reykjavík und voll mit Geschäften, Restaurants und Cafés. Hier tummeln sich die meisten Touristen. Max geht also nach rechts auf die große Kirche zu. Es geht ein Stück bergauf, und als Max auf der Höhe eines kleinen bunten Hauses ist, macht er eine furchtbare Entdeckung: Vor der orangenen Holzfassade steht ein einsamer Kinderwagen. Darin liegt ein Baby und murmelt etwas vor sich hin. Max hat panische Angst vor Babys, und wenn er um direkten Kontakt nicht herumkommt, fremdelt er mehr als jedes Kleinkind. Aus sicherem Abstand wirft er also einen Blick in den Kinderwagen und sieht, dass der oder die Kleine zwar warm eingepackt ist, aber schon ganz rote Bäckchen hat. Er schaut sich kurz um, kann aber niemanden sehen, der Herrchen oder Frauchen sein könnte. Also dreht er sich zu dem orangefarbenen Gebäude um. Auf einem runden gelben Schild steht in blauer Schrift »Babalu« und darüber in roter Neonschrift »Café«.
Max schaut noch einmal kurz zum Kinderwagen und geht dann in das kleine Häuschen. Rechts von ihm führt eine blaue Holztreppe nach oben, links geht es in einen kleinen Raum voller Holzbänke und Tische. Nur wenige Menschen sitzen im Café. Max geht nach links und sieht am Ende des Raums eine kleine Theke. Dahinter steht eine junge Isländerin, die ihn freundlich mit Góðan daginn! begrüßt.
»Da draußen steht ein Kinderwagen!«, sagt Max laut und ohne irgendeine Begrüßungsfloskel.
Die junge Dame schaut ihn fragend an.
»Vielleicht sollten wir die Polizei rufen?«, schlägt Max vor.
Die junge Dame fragt erstaunt: »Warum das denn?«
Jetzt schaut Max erstaunt. Dann hört er ein Kichern an einem der Tische vorne im Raum. Direkt am Fenster sitzen zwei blonde Frauen und halten sich die Hand vor den Mund. Eine von beiden ruft der jungen Frau am Tresen etwas auf Isländisch zu und wendet sich danach an Max: »Zum ersten Mal in Island?«
Was ist diesmal schiefgelaufen?
Die Rabenmütter (und -väter) von Reykjavík sind bekannt dafür, ihre Babys im Kinderwagen vor dem Café abzustellen, um dann Platz zu nehmen und bei einem leckeren Kaffee über das Tagesgeschehen zu sprechen. Nicht nur im Sommer, auch in den kälteren Jahreszeiten kann man dies oft beobachten, und in Island würde auch niemand auf die Idee kommen, nach den Eltern zu suchen: Im Zweifelsfall sitzen die nämlich hinter der nächsten Fensterscheibe und haben ihre Sprösslinge bestens im Blick.
Island ist eines der kinderfreundlichsten Länder der Welt und erlaubt es, Kinder auf eine ganz andere Art und mit ganz anderen Herangehensweisen großzuziehen. Babys werden schon früh allein im Kinderwagen schlafen gelassen, die meisten Kleinkinder spielen überwiegend unbeaufsichtigt im Freien, und das Wort Helikoptereltern kennt man hier nur aus dem Fernsehen.
Eltern und Familien werden in Island in besonderer Weise berücksichtigt und in die Gesellschaft integriert: An Universitäten gibt es beispielsweise Betreuungsprogramme für Babys und Kleinkinder. Es besteht hier also kein Grund, sich entweder für Familie oder für Karriere zu entscheiden, durch Rücksichtnahme und Unterstützung wird beides gleichzeitig ermöglicht. In nicht geringem Umfang ist diese Situation sicherlich auf die starken Frauen in Island zurückzuführen, die sich seit vielen Jahrzehnten für mehr Gleichberechtigung engagieren.
Während Kinder in Deutschland zunehmend ganztägig betreut werden und vor allem in Großstädten immer auf einen Aufpasser angewiesen sind, wachsen die meisten Kinder in Island von klein auf mit einer gewissen Selbstständigkeit auf. Nach Schule und Hausaufgaben verlassen sie oft das Haus und kommen dann erst am späten Abend wieder nach Hause. Wo sie sich in der Zwischenzeit herumtreiben und was sie machen, ist zu großen Teilen ihre Sache.
Sind nun alle Eltern in Island faul und/oder Rabeneltern? Mitnichten: Das Erziehungskonzept basiert schlicht auf Autonomie und Vertrauen und funktioniert seit Generationen ausgesprochen gut. Hier spielen natürlich viele Faktoren wie die Bevölkerungsdichte, die sehr geringe Kriminalitätsrate und die Nähe zur Natur eine große Rolle. In Berlin würde eine Isländerin den Kinderwagen wohl kaum vor dem Café stehen lassen.
Was können Sie besser machen?
Sollten Sie in Reykjavík oder sonst wo in Island Kinderwagen vor Geschäften, Cafés oder auch Häusern sehen – keine Panik. Die Eltern sind vermutlich irgendwo ganz in der Nähe und haben auch immer ein Auge auf das Kind.
Sie sollten sich auch nicht herausnehmen, das Ganze als Einladung zu verstehen, die Babys anzusprechen oder gar anzufassen. Sie fänden es ja sicher auch nicht angenehm, wenn der Poolboy in Spanien sich zu Ihnen auf die Sonnenliege gesellt. Solange kein offensichtlicher Grund zur Sorge vorhanden ist, können Sie ruhig davon ausgehen, dass es dem Baby gut geht, und Ihres Weges gehen.
CAFÉS & RESTAURANTS
In Island ist übrigens jedes Café und jedes Restaurant angehalten, kostenlos Wasser zur Verfügung zu stellen. Meist wird das durch große Glaskaraffen mit ein paar Gläsern abgedeckt. Würde Max sich nun mit dem Wasser begnügen und keine weiteren Speisen oder Getränke bestellen, wäre das im Grunde okay, aber natürlich nicht besonders gern gesehen. Abgesehen davon gibt es nicht viel zu den Cafés und Restaurants in Island zu sagen, denn die meisten Sitten und Benimmregeln kommen aus unserem Kulturkreis und unterscheiden sich nur wenig bis gar nicht. Durch die Nähe zu den USA ist es in einigen Lokalitäten üblich, bei einer Kaffeebestellung den Becher kostenfrei nachfüllen zu lassen, das ist aber keinesfalls überall so. In den meisten Cafés gilt Selbstbedienung, das heißt die Bestellung sollte am Tresen aufgegeben werden. Speisen und Getränke werden dann zum Tisch gebracht.
Weil Restaurants in Island durch das hohe Lohnniveau relativ teuer sind, gehen die Isländer wesentlich seltener auswärts essen als zum Beispiel die Deutschen. Das führt allerdings zu einem höheren Qualitätsanspruch, wenn sie denn einmal essen gehen, und dementsprechend sind die Restaurants meist von hoher Qualität.