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2.1 Die soziale Frage

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Das «lange 19. Jahrhundert»15 war gekennzeichnet durch tiefgreifende politische, kirchliche und gesellschaftliche Auf- und Umbrüche.16 Ausgehend von der Französischen Revolution war der Beginn des 19. Jahrhunderts geprägt durch den Kampf zwischen rationalistischen Modernisierern und konservativen Traditionalisten – um hier nur gerade die beiden grössten rivalisierenden politischen Weltanschauungen zu nennen. Kirchlich gesehen war das 19. Jahrhundert gekennzeichnet von der beginnenden Entkirchlichung, dem Kulturkampf sowie den verschiedenartigen Versuchen der Kirchen, sich in der neuen Situation zurechtzufinden. Gesellschaftlich schliesslich war das 19. Jahrhundert geprägt durch Veränderungen, die gemeinhin unter dem Begriff «soziale Frage» subsummiert werden. Unter diesem Begriff werden «Krisendiagnosen und entsprechende Bewältigungsstrategien seit der Herausbildung der Industriegesellschaft»17 zusammengefasst. An Stelle des Begriffs «soziale Frage» wird häufig auch der Ausdruck «Arbeiterfrage» verwendet, da sich in jenem Zeitraum die soziale Frage vornehmlich in der Verarmung |21| der Lohnarbeiter manifestierte.18 Die Voraussetzungen, welche die Herausbildung der Industriegesellschaft ermöglichten und insofern zur sozialen Frage führten, sind vielschichtig und äusserst komplex miteinander verwoben. Im Folgenden werden die zentralen Voraussetzungen diskutiert.

Eine erste wichtige Voraussetzung, die zur sozialen Frage führte, ist in der Industrialisierung zu sehen.19 Die Anfänge der Industrialisierung liegen im England des 18. Jahrhunderts, als diverse Erfindungen den Übergang von der Handarbeit zur maschinellen Fertigung einleiteten und der Antrieb mit Wasserkraft und Dampfmaschinen möglich wurde. In der Folge transformierte die Industrialisierung eine mehrheitlich landwirtschaftlich und handwerklich geprägte in eine von der maschinellen Produktion geprägte Gesellschaft. Die ökonomischen und sozialen Folgen der Industrialisierung für die Gesellschaft waren einschneidend und tiefgreifend. Eine der Konsequenzen war der rasante Anstieg der Anzahl Lohnarbeiter, die vielfach unter schrecklichen hygienischen und sozialen Bedingungen in den neuen Zentren der Industrie arbeiteten.

Eine weitere Voraussetzung für die Herausbildung der sozialen Frage bildete das rasante Bevölkerungswachstum.20 Dieses verursachte gravierende wirtschaftliche Nöte und trieb eine grosse Anzahl Menschen in der Hoffnung auf Arbeit in die bereits früh industrialisierten städtischen Zentren. Innerhalb einer äusserst kurzen Zeitspanne führte dies zu einer grossen Urbanisierung und damit zur Herausbildung eines Proletariates, das heisst zu einer grossen Konzentration von Lohnarbeitern auf sehr engem Raum. Da diese Lohnarbeiter nicht mehr in eine dörfliche oder landwirtschaftlich geprägte Sozialstruktur eingebettet waren, besassen sie keinerlei soziale Absicherung und waren der wirtschaftlichen Konjunktur und ihren Arbeitgebern schutzlos ausgeliefert.

Schliesslich führte die Aufhebung der Stände- und Zunftordnung zusätzlich zu einer Auflösung der herrschaftlichen Fürsorge und der mit ihr verbundenen sozialen Sicherung.21 Die Folge war schliesslich eine stark ungleiche ­Verteilung wirtschaftlicher, sozialer und politischer Rechte, was für die Lohnarbeiter mit massiven existentiellen Risiken verbunden war. Dies führte zu einer Verelendung breiter Bevölkerungsschichten, zu sozialen und politischen Konflikten, kurz zu all dem, was mit dem Begriff «soziale Frage» bezeichnet wird. |22|

Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts

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