Читать книгу Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts - Marcel Köppli - Страница 19

2.3.1 Die sozialpatriarchale Haltung

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Die erste Einstellung bezeichnet Jähnichen als die sozialpatriarchale Haltung, diese sei in der Kirche vor allem in ländlichen Gegenden weit verbreitet gewesen, im Verlaufe des 19. Jahrhunderts jedoch immer mehr an den Rand gedrängt worden.29 Sie manifestierte sich sowohl in der landeskirchlichen Verflechtung mit dem Feudalsystem in der Tradition eines sozialen Patriarchalismus wie auch in der konservativen Reaktion auf die 1848er-Revolution. Jähnichen charakterisiert diese Haltung folgendermassen: «Im Horizont dieses Einstellungstyps wird das Schema der durch Autoritätsbeziehungen geprägten Über- und Unterordnungen im Blick auf die sozialen Verhältnisse als unwandelbare Ordnung Gottes sanktioniert. Der bedingungslosen Pflicht zur Unterordnung und Treue der Untergebenen entsprach im Rahmen der patriarchalischen Sozialauffassung eine ganzheitliche Fürsorge- und Schutzverpflichtung der übergeordneten Stände. Zwar ist in diesem Sinn in den Predigten und in kirchlichen Verlautbarungen immer wieder an die Verantwortlichkeit der übergeordneten Stände appelliert worden, der deutliche Akzent lag jedoch in der Einschärfung einer gläubigen Ergebenheit in das gesellschaftliche Los, verknüpft mit einer religiös begründeten Wertschätzung von Arbeitsfleiss und Treue sowie der Bereitschaft, das dadurch bedingte Leid anzunehmen und im Glauben zu tragen.»30 Im Protestantismus des 19. Jahrhunderts war die sozialpatriarchale Haltung, die auch oft einfach als «Patriarchalismus» bezeichnet wird, die vorherrschende Haltung, durch die alle anderen Einstellungen geprägt worden sind und die auch im schweizerischen Protestantismus sowie bei den untersuchten Unternehmern vorherrschend anzutreffen war.31

In der Untersuchung des Patriarchalismus waren Ernst Troeltschs (1865–1923) und Max Webers (1864–1920) Analysen des Protestantismus besonders einflussreich. Troeltsch diskutierte in seiner Untersuchung «Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen» den «Typus des christlichen Patriarchalismus» |25| gleich in verschiedenen Passagen.32 Weber führte in seinem Aufsatz «Wirtschaft und Gesellschaft» den Patriarchalismus unter der Überschrift «Patriarchale und patrimoniale Herrschaft»33 aus. Im Anschluss an Troeltsch und Weber bezeichnen Jähnichen und Friedrich den Patriarchalismus als «soziale Ordnungsstruktur, die – basierend auf der Hausgemeinschaft als dem ganzheitlich den entsprechenden Personenkreis und Besitzstand umfassenden Rechtsverband – dem Hausherrn eine einzig auf Tradition normierte, grundsätzlich schrankenlose Herrschaftsausübung einräumte, die unlösbar mit fundamentalen Fürsorgepflichten gekoppelt war.»34

Die Ursprünge des Patriarchalismus reichen zurück in das neutestamentliche Schrifttum. Während der Zeit der Reformation erfuhr der Patriarchalismus zudem einen starken Auftrieb und eine erneute theologische Legitimation. Besonders deutlich ist dies in Martin Luthers grossem Katechismus, insbesondere in seiner Auslegung des vierten Gebotes, in dem der Gehorsam gegenüber Vorgesetzten und der staatlichen Obrigkeit mit dem Gehorsam gegenüber den Eltern gleichgesetzt wird, was zur Folge hatte, dass der Patriarchalismus zur vorherrschenden Haltung in der lutherischen Sozialethik wurde. Selbstverständlich wurde dabei jedoch nicht nur allein der Gehor­­­sam gegenüber den Vorgesetzten eingefordert, sondern auch betont, dass von den Vorgesetzten die Wahrnehmung von Fürsorgepflichten erwartet wird. ­Troeltsch spricht in diesem Zusammenhang auch von einer «patriarchalischen, agrarisch-kleinbürgerlichen Ethik»35.

Es ist offensichtlich, dass der Patriarchalismus in einer feudalen Agrargesellschaft eine durchaus adäquate sozialpolitische Haltung darstellte. So liegt die Stärke des Patriarchalismus – wenn er denn ernst genommen wurde – auch darin, dass er zu einer sozialeren Gestaltung der Machtausübung verhalf und |26| so «zu einer personalen Humanisierung der Herrschaftsverhältnisse»36 führte. Ob der Patriarchalismus allerdings auch eine adäquate Antwort auf die Industrialisierung und die soziale Frage im 19. Jahrhundert war, muss bezweifelt werden und ist Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Im 19. Jahrhundert werden angesichts der sozialen Frage auch zunehmend die Schwächen und Grenzen des Patriarchalismus sichtbar. Derweil nämlich auf dem agrarisch geprägten Land der Patriarchalismus durchaus noch seine positiven Auswirkungen zeigen konnte, versagte er angesichts der sozialen Frage in den stark anonymisierten und säkularisierten Städten. Auch die protestantischen Unternehmer des SABBK thematisierten diesen unumkehrbaren Trend zumindest ansatzweise. Denn die Beziehung zwischen den Unternehmern und ihren Arbeitern war vermehrt der Anonymisierung unterworfen, so dass eine patriarchale Lösung der sozialen Frage je länger desto weniger möglich war.

Protestantische Unternehmer in der Schweiz des 19. Jahrhunderts

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