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„ÜBER den ZERFALL der FAMILIEN im OSTEN“
ОглавлениеAlbum 10.Mai 2014
Katja hatte in ihren Träumen etwas anderes vom Leben erwartet.
Was hatte ich aber von meinem Leben erwartet? Was hatte ich außer meinen Träumen und dem eisernen Willen, glücklich zu werden mit dem Mann, den ich geliebt habe? Warum hatte ich mich so lange treiben lassen? Hatte ich nicht bemerkt, dass mein Leben in eine falsche Richtung stolperte? Doch, es war mir bewusst, nur, ich hatte Angst vor einem neuen Beginn. Angst vor der Einsamkeit, Angst, meinen Eltern zu gestehen, dass ich unglücklich bin. Obwohl ich mit Georg mehr einsam gewesen war, als wenn ich allein gelebt hätte. Oft lief ich in den Nächten durch die schmalen Gassen bis zum Donaukanal im Glauben ihn irgendwo zu treffen. In solchen Nächten dachte ich an Katja.
Ich war noch nicht zehn Jahre alt. Meine Mutter versprach unserem Nachbarn, dem Besitzer eines Ladens „Waren aller Art“, ich würde seine Frau. Eines Tages erlaubte sie ihm, mich auf seinen Schoss zu nehmen. Er setzte mich zwischen seine Schenkel und streichelte meine dürren Beine mit feuchten zittrigen Händen. Ich wollte herunter, aber er hielt mich fest und steckte eine Birne in meinen Mund.
Der Saft rann über mein Kinn. Mutter und er lachten. „Nicht so, eine Birne muss man saugen. Irene, zeig deiner Tochter, wie man richtig eine Birne isst.“ Meine Mutter weigerte sich und log, es mir oft genug gezeigt zu haben.
Eines Morgens lauerte der Nachbar hinter unserem Zaun und versuchte, mich zu küssen. Sein fetter Körper zitterte. Ich weiß nicht mehr, wie oft er seinen Versuch wiederholt hatte.
Meine Erinnerungen versagen bei Erlebnissen, die in meiner Kindheit besonders schmerzhaft waren.
Auch die oftmaligen Streitereien meiner Eltern. Die vorgetäuschte oder doch echte Ohnmacht meiner Mutter, und dann die Tränen meines Vaters. Ich weiß nicht mehr, was mich damals mehr erschreckt hatte. Meine am Boden liegende Mutter, wobei ich entsetzliche Angst hatte, sie zu berühren, oder die Tränen des Vaters. Er saß wie eingeschrumpft in einer Ecke in der Küche, wo sich meistens die Zweikämpfe abgespielt hatten, weinte schamlos und schrie:
„Gott, warum hast du mich gestraft!?
Da ich niemals ein Taschentuch zur Hand hatte, zerrte ich ein Geschirrtuch hervor, um Vaters Tränen abzutrocknen, was eine unerwartete Reaktion bewirkte. Vaters leise Tränen verwandelten sich meistens in lautes Schluchzen, was meine ohnmächtige Mutter auf die Beine stellte.
Ich habe nie herausgefunden, ob diese Tatsache meinen Vater gefreut oder noch trauriger gestimmt hatte. Nach jeder derartigen Auseinandersetzung haben meine Eltern eine zweitägige Versöhnungsreise unternommen, und ich musste das Haus hüten. Die Nächte waren lang, und jeder Schatten in der Wohnung sah aus wie ein Gespenst. Im Freien war ich weniger ängstlich und kreiste um das Haus herum bis zum Morgengrauen.
Manchmal, wenn ich allein war, kam Kostia, Sohn einer Nachbarin, zu mir. Sie sind aus der Ukraine hierher zugezogen.