Читать книгу unGlaubliche Patienten - Marcus Schütz - Страница 4
Granatsplitter
ОглавлениеEine alte Dame sitzt mir gegenüber. Alt wie gesagt, rundlich, schwerfällig. Sie hat sich bis in den vierten Stock hoch geschleppt und japst noch nach Luft, wie ein Goldfisch in einem zu kleinen Aquarium.
Wie ich ihr denn helfen könne.
Sie schaut mich merkwürdig an, ihr Blick ist irgendwie gebrochen.
Es sind die Knochen, sagt sie.
Da bin ich Spezialist.
Sie wolle aber keine Behandlung. Sie will meinen Rat. Sie sei immer zur Kur gefahren.
Ja, da gibt es heute gute Möglichkeiten.
Schon im Mittelalter sind die Leute nach Bad Wilsnack gepilgert, denke ich, um durch den Anblick der blutenden Hostien geheilt zu werden. Oft war die kleine Kirche so voll, dass die meisten Pilger nicht einmal das Innere des heiligen Raumes geschweige denn die Hostien zu Gesicht bekamen.
Sie könne jetzt nicht mehr so gut laufen, die Arthrose. Aber es habe ihr doch immer gut getan. Gerne sei sie in die Slowakei nach Pieš?any zur Kur gefahren.
Die Krankenkasse wird wohl nichts mehr dazuzahlen.
Das sei egal, sie hat die Firma ihrer Mutter übernommen. Sie produziere Untertrikotagen, Dessous sagt sie nicht. Untertrikotagen. Ich schaue auf ihr Geburtsdatum – sie ist schon Ende 80. Immer wieder bleiben meine Augen an ihrem Blick hängen.
Auch das Herz mache ihr jetzt zu schaffen. Sie weiß nicht, ob sie die Strapazen der Reise überstehen wird.
Oft waren die Kranken des Mittelalters so schwach, dass sie selbst nicht pilgern konnten. Sie schickten Verwandte. Bis aus Ungarn waren sie wegen der Heilung nach Bad Wilsnack gekommen. Zu Fuß. Wie lange werden sie da unterwegs gewesen sein?
Ich fange an den Wunsch der Dame zu bekräftigen. Aus meiner Sicht gäbe es keine Anhaltspunkte, die gegen eine Kur sprechen, sage ich. Geld spiele schließlich keine Rolle und manches Bad stärkt auch Herz und Kreislauf. Immerhin hatte die Dame den Weg bis in mein Dachgeschoss geschafft.
Für die Pestkranken kratzten die Pilger mit Münzen den Backstein aus der Kirchenmauer. Das Pulver brachten sie als Heilmittel mit nach Hause. Viele Kranke wurden so tatsächlich geheilt.
Wieder tasten sich unsere Augäpfel gegenseitig ab. Was ist nur mit ihrem Blick?
Es sei 45 in Berlin gewesen, gleich hier um die Ecke. Da sei eine Granate mitten auf der Straße eingeschlagen. Ein Splitter fuhr durch ihr linkes Auge in ihr Hirn. Da liege er immer noch. Auf der Schädelbasis. Es gäbe auch keine guten Glasbläser mehr und die Krankenkasse zahle nur noch alle zwei Jahre ein neues Auge. Früher hätte es schließlich jedes Jahr ein neues gegeben.
Was denn mit dem Granatsplitter im Hirn sei.
Abgekapselt. Nur wenn sie schnell ihren Kopf drehte, werde ihr schwindlig. Da spiele aber die Arthrose nicht mehr mit, mit der schnellen Kopfbewegung. Abends nehme sie das Auge immer heraus. Ihr jetziges drücke etwas.
Zusammen mit den Zähnen, hätte ich fast gefragt, bei der Vorstellung, wie sie ihr Auge in ein Wasserglas auf dem Nachttisch gleiten lässt. An ein Glasauge hatte ich wirklich nicht gedacht als sich unsere Blicke kreuzten. Ich bin begeistert wie gut das Glasauge die Bewegungen des gesunden Auges mitmachte. Meistens jedenfalls, das war so merkwürdig an ihrem Blick.