Читать книгу Schweigen über Köln - Maren Friedlaender - Страница 16
Vergangenheit, die nicht vergeht
ОглавлениеMonika Münzer saß an ihrem Schreibtisch mit Blick auf die gegenüberliegenden Häuser in der Schillerstraße. Sie hatte Glück gehabt, eine Wohnung in Bayenthal zu finden, ein Eckhaus, ehemals für eine Familie gebaut. Die betagte Besitzerin hatte ihr die zwei oberen Etagen zu einem annehmbaren Preis überlassen. Die Mieten in der Gegend waren in letzter Zeit explodiert, aber Frau Schänzel ging auf die 85 zu und hatte eine zuverlässige, sympathische und hilfsbereite Mitbewohnerin gesucht. Das war Monika Münzer. Sie liebte diese Gegend. Alles fußläufig erreichbar. Aldi, Rewe, Penny, alles um die Ecke. Ihr täglicher Einkauf garantierte Frische und passte problemlos ins Fahrradkörbchen, selbst wenn sie Gäste mit ihrem beliebten Ratatouille an Roastbeef bewirtete. Milch, Butter und Schinken für Frau Schänzel fanden auch noch Platz im Einkaufskorb.
Monika nahm einen Schluck von ihrer frisch gebrühten Latte Macchiato und checkte am Samstagmorgen die Online-Medien: Welt, Spiegel, FAZ – Thema Flüchtlinge, Merkel, wie immer auf Tauchstation; Trump, der Bösewicht; Macron, der Hoffnungsträger. Ferienbilder von Macrons Frau Brigitte an der Cote d’Azur. Motsi Mabuse bekommt ein Kind. Who the hell war Motsi Mabuse? Miss Tagesschau frisch verliebt und irgendwas mit Dieter Bohlen, lebte der überhaupt noch? Bild textete: »Machte Hollywood-Star extra ins Bett? Sie sagt, es war der Hund.« Was für eine Schlagzeile! Mit was für Zeug dröhnten sich die Leute bloß zu? Irgendetwas war in den letzten Jahren geschehen. Das Niveau der Berichterstattung sackte auf der nach unten offenen Skala stetig ab. Danach Kölner Stadtanzeiger, mal gucken, was so los war in ihrer Jeckenstadt. Das Abonnement hatte sie vor Jahren gekündigt. Sie hatte von gutem Journalismus eine andere Vorstellung. Monika Münzer selbst recherchierte akribisch, sauber. Ohne abgesicherte Fakten gab es keine Veröffentlichung. Beim WDR hatte sie gekündigt, mit Verzicht auf eine beamtenartige Lebensstellung mit Pensionsansprüchen. Sie konnte diesen Gesinnungs- und Haltungsjournalismus nicht mehr guten Gewissens vertreten. Besser gesagt – er kotzte sie an. Zuletzt waren ihre Beiträge immer häufiger zensiert oder nicht gesendet worden mit meist fadenscheinigen Argumenten. Keine Karriere ohne eine gewisse Haltung zu Themen. Nun arbeitete sie als Freie. Die Aufgabe eines Journalisten – so wie sie es sah – bestand darin, neugierig zu sein, die Fenster nach allen Seiten zu öffnen, Informationen zu beschaffen, die Leser mit Fakten zu versorgen, ohne eine vorgefasste eigene Meinung zu verwursten. Wie eine Krake hatte der Gesinnungsjournalismus sich im Lande ausgebreitet. Es gab eine Art stillen Konsens zu gewissen Themen, eine Übereinstimmung, was gerade noch politisch korrekt war, und einen Shitstorm, sobald man bestimmte Themen hinterfragte. Migration, Umwelt, Gendergedöns, Ehe für alle, künstliche Befruchtung für alle, Organe für alle, Me-too-Hype. Als aber der Redaktionsleiter beim WDR ihr unter den Rock griff, verlief ihre Beschwerde im Sand. Ein verdienter SPD-Genosse, der Herr Redakteur, mit guten Kontakten in die Parteizentrale. So einer bekam keine Abmahnung.
Als Buße hatte er einen Sonderbericht in Sachen Frauenbewegung ins Programm genommen. »Frauenbewegungen – haha«, witzelten die männlichen Kollegen. »Frauenbewegungen – dagegen haben wir doch nichts.« Blinzeln mit schmierigem Grinsen gewürzt. Idioten.
Egal. Mit solchem Kinderkram verschwendete sie ihre Zeit nicht. Sie kam zurecht mit den Chauvis. Weniger mit der Meinungsdiktatur, der sich die meisten ihrer Journalistenkollegen unterwarfen, um nicht in die rechte Schmuddelecke verbannt zu werden. Münzer hielt die Selbstzensur für gefährlich. Wo endete das? Im Totalitarismus.
Sie hatte versucht, den Dauererregungszustand wegzumeditieren, aber der Ärger kam beim Nachrichten lesen immer wieder mal hoch. Im Kölner Stadtanzeiger stieß sie auf den Bericht über einen Todesfall in der Nacht vom Freitag auf Samstag, ein unbekannter Toter. Täter ebenfalls unbekannt – flüchtig. Der Fundort irritierte sie. Friedrich-Schmidt-Straße, Ecke Vincenz-Statz-Straße. Monika Münzer wusste alles, was am 5. September 1977 dort passiert war, jedes zugängliche Detail, obwohl sie zu dem Zeitpunkt ein Kind war, als Hanns Martin Schleyer an genau dieser Stelle von Mitgliedern der RAF entführt wurde.
Sie blickte auf die Pinnwand in ihrem Arbeitszimmer. Dort hingen die Fahndungsplakate: RAF-Täter der ersten Generation, RAF-Täter der zweiten Generation. Und teils gesuchte RAF-Mitglieder der dritten Generation, einige nicht identifiziert. Ein Mitglied der Gruppe hatte Monika Münzer aufgespürt, in akribischer Kleinarbeit, jahrelangen Recherchen und mit Unterstützung eines Spezialisten.
Wer war der Tote am Stadtwald? Sie las. Keine Angaben über die Identität des Ermordeten. Münzer griff zum Telefonhörer und wählte die Nummer von Müller. Es meldete sich der Anrufbeantworter: Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht. Monika Münzer überlegte einen Moment, ob sie auflegen sollte, später wieder versuchen. Sie entschied sich für eine kurze Bitte um Rückruf. Für ihr robustes Aussehen hatte Monika Münzer eine überraschend zarte Stimme, fast einschmeichelnd, einnehmend und eindringlich in ihrer sanften Art, mit der sie Menschen zu den erstaunlichsten Dingen überreden konnte.
Monika Münzer griff in ihr schulterlanges blondes Haar, drehte die widerspenstigen Locken zu einem Zopf zusammen und steckte ihn hoch, eine Geste, die sie immer dann gedankenverloren wiederholte, wenn sie nervös war. Sie widerstand dem Impuls, ins Auto zu steigen, um zur Friedrich-Schmidt-Straße zu fahren, eine Strecke von 15 Minuten. No big deal, dachte sie, kurz mal schauen. Stattdessen hockte sie sich auf ihr Sofa, zog die Beine ganz nah an ihren Körper heran und wickelte sich den flauschigen Bademantel eng um den frierenden Leib, sodass sie zu einer kleinen Kugel zusammenschrumpfte. Wie damals.
Zwei Stunden später rief Müller zurück.
»Ich will nur wissen, ob du etwas damit zu tun hast?«, fragte Monika Münzer.
»Er lebte, als ich ihn verließ«, sagte Müller wahrheitsgemäß.
Mehr wollte sie nicht wissen.