Читать книгу Manche Engel sterben früh - Margarete van Marvik - Страница 12
Die Schulzeit
ОглавлениеIm Laufe der Jahre entwickelt sich Ruth zu einer zierlichen, rothaarigen Schönheit. Ihre katzengrünen Augen schauen melancholisch in die Welt. Ihre Haare trägt sie seit einiger Zeit Kinn lang mit geradem Pony, der bis zu ihren Augenbrauen reicht. Die Jungs aus ihrer Klasse umschwärmen Ruth. Sie nennen sie heimlich „die Unnahbare“.
Sie ignoriert die bewundernden Blicke und will mit den Jungs nichts zu tun haben.
Nein, es schmeichelt ihr nicht einmal, denn sie weiß auch, wenn sie nicht pünktlich nach der Schule nach Hause kommt, ist der Ärger vorprogrammiert.
Das wissen aber die Jungs, die sie umschwärmen, nicht. Silke hat die gemeinsame Schule nach der vierten Klasse verlassen und geht jetzt auf eine weiterführende Schule. Ruth hat keinen Menschen mehr, dem sie sich anvertrauen kann, und wird zur absoluten Außenseiterin.
Sie zieht sich mehr und mehr in ihr Schneckenhaus zurück. Auf dem Nachhauseweg versperren ihr die Jungs ihrer Klasse den Weg und lassen sie erst durch, wenn sie das Wegegeld von zehn bis fünfzig Pfennig bezahlt hat.
Dann grölen die Kerle ihr hinterher: „Feuerlöscher, lösch mich.“
Die Jungs sehen es als Vergeltung dafür, dass sie sich für keinen der Kerle aus ihrer Klasse interessiert.
Alle Wetten, die sie untereinander abschließen, verlaufen im wahrsten Sinne des Wortes im Sand. Das ärgert die Jungs ungemein und sie fühlen sich in ihrem Ego verletzt und schreien dafür nach Rache.
Nur in der Nacht, wenn auch Christin schläft, findet Ruth Ruhe und kann dem Alltag entfliehen.
Unter ihrem Kopfkissen verbirgt sie eine kleine Taschenlampe, die sie von Silke zu ihrem elften Geburtstag geschenkt bekommen hat. Wenn die Schwester schläft, holt sie die kleine Lampe und eines ihrer Lieblingsbücher unter der Matratze hervor und fängt an zu lesen.
Die Taschenlampe hält sie mit ihrem Mund, der mit den Zeilen wandert. Mit jeder gelesenen Seite taucht sie ab in die unendliche Welt der Bücher; in ein ihr noch zutiefst geheimnisvolles Reich, das sie mit jedem Mal mehr erforscht.
Für ein paar Stunden taucht sie ein in das Treiben des Textes, der sie mild und heimisch, dicht und unablässig wie Schneeflocken umfängt.
Dort hinein tritt sie mit grenzenlosem Vertrauen; eine Hand liegt beim Lesen immer auf einer Buchseite während die Abenteuer sie den Atem anhalten lassen.
Ruth ist Nacht für Nacht in eines der Bücher, die Silke ihr regelmäßig aus der Bücherei vorbeibringt, versunken.
So entflieht sie für einige Stunden ihrer frostigen und lieblosen Kindheit.
Oft liest sie bis in die Morgenstunden.
Die Batterien für die Taschenlampe bekommt sie von Silkes Mutter. Nach solchen durchgelesenen Nächten geht Ruth unausgeschlafen zur Schule.
Den langen Schulweg von fast vier Kilometern muss sie nach wie vor zu Fuß gehen.
Hin und wieder, wenn sie in ihren Gedanken versunken ist, vergisst sie schlichtweg den Schultornister zu Hause. An solchen Tagen wird es besonders schlimm für sie. Ihre Mitschüler lachen sie aus und zeigen mit dem Finger auf Ruth. Ab und an bekommt sie Hiebe mit dem Rohrstock über die ausgestreckte Hand. Ein grausamer Schmerz durchzieht sie jedes Mal, dennoch beißt sie sich auf die Lippen, damit kein Laut ihren Mund verlässt. Immer öfter schläft sie während des Unterrichtes ein, Strafarbeiten sind an der Tagesordnung. Ihre einzigen Verbündeten sind ihre Freundin Silke und deren Mutter. Dort findet sie während der Schuljahre Geborgenheit und Verständnis.
Silkes Mutter behandelt sie wie ihre eigene Tochter.
Die Kommunikation zwischen ihr und ihrer Mutter wird mit zunehmendem Alter komplizierter. Ruth bettelt regelrecht um ein wenig mehr Freizeit und um ein paar Groschen, damit sie sich die nötigsten Schulutensilien kaufen kann. Mitunter ist das Glück auf ihrer Seite und sie erwischt ihren Vater in den späten Abendstunden. In solchen Momenten steckt er ihr ab und an fünf Mark zu, damit sie sich die benötigten Schulsachen besorgen kann.
Immer wenn sie ihrem Vater begegnet, wird sie melancholisch. Sie vermisst sein freundliches und aufmunterndes Lächeln so sehr. Sie vermisst die Streicheleinheiten, seine Heiterkeit und den Spaß, den sie die ersten Jahre ihrer Kindheit miteinander gehabt haben.