Читать книгу Manche Engel sterben früh - Margarete van Marvik - Страница 7
Ruths Geburtstag
ОглавлениеRuth erholt sich relativ schnell von ihrem ersten Schock. Seit ihre Schwester Christin auf der Welt ist, verbringt sie die meisten Tage bei ihrer Freundin Silke. Gemeinsam planen sie Ruths Geburtstagsparty, so wie jedes Jahr. Ruth wird ihren siebten Geburtstag feiern und freut sich auf die Einschulung Ende August. Letztes Jahr war sie durch eine Lungenentzündung ans Bett gefesselt gewesen. Die Einschulung ist daraufhin auf dieses Jahr verschoben worden. Darüber ist sie sehr traurig und enttäuscht gewesen.
Die Tage bis zu ihrem Geburtstag vergehen wie im Flug. Ruth glaubt ganz fest daran, dass ihre gemeinsame Mutter Gudrun, wie in den Jahren zuvor, die Feier ausrichten wird. Traurig ist sie allerdings, dass ihr Vater an ihrem Ehrentag keine Zeit für sie haben wird. Zwei Tage zuvor hat sie noch auf seinem Schoß gesessen, als er ihr entschuldigend erklärt hat: „Weißt du, als Polizist darf ich nicht einfach meinen Dienstplan ändern, außerdem muss ich Sonderschichten einlegen, damit ich euch ernähren kann, und überdies wollen wir doch aus diesem Loch hier raus. Das geht nur, wenn wir genügend Geld gespart haben. Du weißt, deine kleine Schwester Christin braucht noch zusätzlich Windeln, Milch und vieles mehr. Das muss alles erst verdient werden.
Es tut mir leid, meine Große, aber es geht wirklich nicht. Ich verspreche dir aber ganz fest, gemeinsam mit dir und deiner Freundin Silke ins Kino zu gehen. Es läuft gerade dein Lieblingsfilm Das doppelte Lottchen.“ Ruth nimmt an diesem Abend die Erklärung ihres Vaters mit Enttäuschung hin; innerlich kocht sie vor Wut und grummelt in sich hinein: Schon wieder steht die blöde Schwester dazwischen. Wegen ihr gibt es schon seit Tagen nur Margarine mit Zucker auf dem Brot oder Brotsuppe mit dem Rest der übrig gebliebenen Milch. Oh Mann, wie sehr ich das hasse, und das alles nur wegen der blöden Schwester.
Ruth schiebt ihre Rachegedanken, die sie gerade übermannen, zur Seite und versucht sich auf den Kinobesuch zu freuen. Es ist für sie und ihre Freundin eine Seltenheit, einen Film auf so einer großen Leinwand zu sehen, denn einen Fernseher besitzen sie nicht, lediglich ein altes Radio.
Neugierig springt sie an diesem für sie so wichtigen Geburtstag aus ihrem Bett. Gut gelaunt zieht sie ihren dunkelblauen Trägerrock mit der weißen Rüschenbluse an. Diese Farbkombination mag sie gern, es passt gut zu ihren roten Haaren. Kindlich dreht sie sich vor dem Spiegel um die eigene Achse. Sie ist zufrieden mit dem, was sie sieht. Ruth lächelt ihrem Spiegelbild zu und flüstert: „Heute bin Ich etwas Besonderes und nicht meine blöde Schwester Christin.“
Vor einigen Tagen hat sie im Traum ihr buntes Fahrrad vor ihrem Bett stehen sehen. Sie war restlos enttäuscht, dass es nur eine Illusion gewesen ist.
Ihrer Mutter hatte sie das bunte Fahrrad im Fahrradladen Schiller auf dem Weg zum Einkaufen gezeigt. Es ist ein wunderschönes gebrauchtes Rad, mit knallgelbem Sattel, gelben Schutzblechen und gelber Klingel. Der Rahmen ist blau-weiß gestrichen. Ruth hat sich restlos in dieses Rad im Schaufenster verliebt. Sie nutzt jede Möglichkeit, der Mutter zu erklären, warum sie sich dieses Vehikel so sehr wünscht. Einen Schulbus gibt es noch nicht. Ruth erschaudert schon allein bei dem Gedanken, bei Hitze, Regen oder Schnee den langen Schulweg mit einer schweren Schultasche laufen zu müssen.
Mit gemischten Gefühlen geht sie in die Wohnküche. Ihre Mutter ist bereits damit beschäftigt, Christin zu wickeln. Sie scheint ziemlich genervt zu sein, dass Ruth mit schleichendem Schritt die Küche betritt.
Argwöhnisch setzt sich Ruth an den Tisch und stützt ihren kleinen roten Lockenkopf mit ihren Händen ab. Mit den Augen sucht sie in der Küche nach dem Fahrrad; es steht aber kein Rad im Raum! Es ist mucksmäuschenstill, sodass sie überdimensional die verhasste alte Küchenuhr ticken hört. Mit bösem Blick sieht sie dem gigantisch großen Zeiger, der wie ein riesiges Zeitmonster unaufhaltsam Minute für Minute weiterläuft, zu. Es vergehen zwanzig Minuten und ihre Mutter macht noch immer keinerlei Anstalten, ihr zum Geburtstag zu gratulieren. Ruth schließt fest ihre Augen und wünscht sich inbrünstig, dass ein wohlwollender Geist ihr gewünschtes buntes Fahrrad mit dem knallgelben Sattel vor ihr abgestellt hat. Nach dieser inständigen Bitte öffnet sie vorsichtig ihre Augen und ist schrecklich enttäuscht.
Nichts – einfach nichts – passiert in diesen Minuten – kein Fahrrad – kein Kuss – keine Umarmung – kein liebes Wort – einfach nichts!
Ruth starrt unentwegt mit ihren stechenden grünen Augen ihre Mutter an, die mit der kleinen Monsterschwester beschäftigt ist.
Sie spürt, wie ihre kleine Kehle auszutrocknen droht. Sie wagt nicht nach Luft zu schnappen; unruhig rutscht sie mit ihrem Po auf dem Küchenstuhl hin und her. Sie fühlt, wie der Zorn in ihrem Bauch Richtung Kopf krabbelt. Sie spürt, wie die Glut der Wut ihren roten Schopf erreicht. Angst macht sich in ihr breit, als eine Stimme in ihrem Kopf flüstert: „Gleich fängst du an zu brennen, du hast einen knallroten Kopf, die Farbe in deinem Gesicht ist kaum von deinen Haaren zu unterscheiden. Wenn du nicht aufpasst, bringt dein Zorn deinen kleinen hübschen Kopf mit einem Donnerknall zum Platzen.“
Schonungslos muss Ruth zusehen, wie die gemeinsame Mutter Christin knuddelt und abknutscht und wiederholt voller Entzückung wispert: „Ach, was bist du doch für ein kleiner süßer blonder Engel.“
Es trifft sie wie ein Hammerschlag, dass Mama tatsächlich ihren so wichtigen Tag ignoriert. Sie ist zutiefst verzweifelt.
Ihre Gedanken kreisen in ihrem schönen Kopf wild durcheinander: Bin ich zu einem Geist geworden? Sieht sie mich nicht am Küchentisch sitzen? Heimlich zwickt sie sich selbst, um auszukundschaften, ob sie noch lebendig ist. Die Spannung in ihrem kleinen Körper zerreißt ihr Herz und sie kann diesen emotionalen Stress nicht länger ertragen. Mit unbändiger Kraft stößt sie den Stuhl, auf dem sie sitzt, zur Seite. Es kracht so heftig, dass Christin anfängt zu schreien. Ruth ist es in diesem Augenblick völlig egal. Die abscheuliche Erfahrung der Missachtung durch ihre Mutter reißt ihr das Herz aus dem Körper. Schlagartig auftretende Bauchschmerzen lassen sie erschaudern. Ihr kleiner Brustkorb zieht sich zusammen, sie atmet schwer und glaubt ersticken zu müssen. Kleine bunte Kreise tanzen vor ihren Augen und wieder flüstert eine Stimme in ihrem Kopf: „Das tut dir richtig weh, so unendlich weh.“ Tränen kullern wie ein kleiner Wasserfall aus ihren katzengrünen schmalen Augen. Sie schreit ihren unsäglichen Zorn, den sie in diesen Moment fühlt und körperlich spürt, aus sich heraus: „Weißt du denn nicht, was für ein besonderer Tag heute für mich ist? Hä, weißt du’s wirklich nicht? Es ist mein Geburtstag!“ Bestürzt und mit unbeschreiblichem Hass kommen diese Worte aus Ruths kleinem Mund.
Nach diesem Gefühlsausbruch brennen ihre Hände so stark, als fasse sie ins offene Feuer. Ruth muss hilflos zusehen, wie an ihren Handoberflächen lauter kleine Pusteln entstehen, die anschließend zu eitern anfangen. Die Ärzte finden keine Erklärung für diese eitrigen Ausbrüche, die sich seit diesem Zeitpunkt wiederholen. Nach solchen Anfällen muss sie wochenlang Handschuhe tragen.
Ruth geht einen Schritt auf ihre herzlose Mutter zu und trommelt mit ihren zu Fäusten geballten kleinen Händen auf sie ein.
Die Mutter reagiert erbost und stößt sie ohne vorherige Warnung mit einer derartigen Wucht von sich, dass sie stolpert und unsanft auf dem Fußboden landet.
Augenblicklich wird es ruhig in der Küche, selbst das Baby hat das Schreien eingestellt. Wäre in diesem Moment eine Stecknadel auf den Boden gefallen, Ruth hätte sie gehört.
Perplex und fassungslos sieht sie ihre Mutter an, nicht fähig, auch nur ein Wort zu erwidern; sogar das Schluchzen bleibt ihr im wahrsten Sinne des Wortes im Halse stecken.
Die gemeinsame Mutter reagiert völlig emotionslos auf Ruths Wutanfall. Sie wendet sich wieder Christin zu und belehrt unterdessen Ruth tonlos: „Mein Kind, hast du immer noch nicht begriffen, dass ich momentan andere Sorgen habe, als an deinen blöden Geburtstag zu denken! Außerdem benötigen wir das Geld für das Baby und eine neue Wohnung. Das hat dir dein Vater doch vor ein paar Tagen erklärt. Hast du das etwa schon vergessen?“
Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen prasseln diese herzlosen Worte auf Ruth nieder.
Instinktiv duckt sie sich, wie ein verdroschener Hund.
Die gefühllose Reaktion ihrer Mutter reißt Ruth regelrecht den Boden unter den Füßen weg, die in ihren grellen gelben Socken stecken und die sie passend zu ihren Schuhen und in Erwartung des Fahrrades angezogen hat.
Wieder meldet sich die Stimme in ihrem Kopf und plappert unaufhörlich auf sie ein: „Was hast du nur getan, dass sie so sauer auf dich ist? Wieso hasst sie dich auf einmal so, dass sie dir nicht mal an deinem Geburtstag in den Arm nimmt?“,
Diese Gedanken bohren wie eine rotierende Bohrmaschine in ihrem Kopf.
Weinend rennt sie aus der Küche, knallt die Tür hinter sich zu und stürmt mit unsäglichem Zorn im Bauch die Treppen herunter, direkt auf die Straße.
Dort setzt sie sich, wie schon so viele Male in letzter Zeit, auf den Stufenabsatz vor den Hauseingang, während ihre Gedanken unaufhörlich weiterkreisen. Oh, wie sehr ich Christin hasse! Die ist an allem schuld! Wegen der wollen die mich nicht mehr haben! Ich bin denen doch nur noch lästig. Vielleicht sollte ich dieses abscheuliche Baby aus dem Fenster werfen oder lieber im Klo runterspülen. Besser ich gehe weg von hier. Was soll ich denn noch hier? Die werden nicht einmal merken, wenn ich fort bin.“
Zusammengekauert sitzt sie auf dem Treppenabsatz vor dem Haus und betrachtet verzweifelt den uralten Baum auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Traurig flüstert sie ihm zu: „Du lieber, armer Baum, du bist genauso traurig und einsam wie ich, weil niemand auf dir herumklettern will. Mich will auch niemand mehr haben.“
Um ihre Gefühle in den Griff zu bekommen, holt sie ihren bunten Peitschenkreisel aus der Tasche und peitscht verbissen auf den Kreisel ein. Dieser hüpft hin und her, sodass die bunten Farben immer schneller ineinanderlaufen. Ruth schwingt die kleine Peitsche schneller und schneller, als sei sie von Dämonenhand geführt.
Ihre unsägliche Enttäuschung, die Ohnmacht ihrer Hilflosigkeit und die Wut, die sich in ihr aufgestaut hat, all das überträgt sie auf den Kreisel.
Derart vertieft in ihrem Kreiselspiel hört sie nicht ihre Freundin Silke kommen. Silke ist ein Jahr jünger als sie und wohnt auf der anderen Straßenseite in einem Dreifamilienhaus. Silke ist fast einen Kopf größer als Ruth, dafür ein bisschen kräftiger in der Statur. Sie trägt ihre langen braunen Haare immer zu Zöpfen gebunden. Das deutlich gerötete und leicht rundliche Gesicht passt zu ihrer kleinen Augenform und ihren langen Zöpfen. Sie hat Silke direkt nach ihrem Zuzug nach Durlach kennengelernt, seitdem ist sie ihre beste Freundin.
Silke rüttelt Ruth an den Schultern. Sie erschrickt, ihre Freundin weinend und geistesabwesend mit ihrer Kreiselpeitsche in der Hand zu sehen.
Sie ist gekommen, um ihr zum Geburtstag zu gratulieren.
Silke bleibt stumm und nimmt Ruth tröstend in die Arme.
Schluchzend und empört, sich ständig an den Händen kratzend, stottert Ruth immer noch fassungslos vor sich hin: „Es gibt heute keine Geburtstagsparty; meine Mutter will mich nicht mehr haben, sie hat einen neuen Liebling, meinen Geburtstag hat sie extra vergessen.“
Stillschweigend und zutiefst erzürnt nimmt Silke Ruths Hand und zieht sie mit sich. Wortlos trippeln sie in Silkes Zimmer. Frau Mahler, Silkes Mutter, sieht fragend ihre Tochter an. Silke antwortet mit einem Schulterzucken.
Am Nachmittag, als Ruth sich ein bisschen beruhigt hat, erfährt Frau Mahler die traurige Geburtstagsgeschichte. Sie ist entsetzt und zornig über so viel Gefühlskälte und organisiert schnell Kuchen und Kakao, um Ruths Ehrentag gebührend zu feiern.
Es ist eine traurige Feier; Ruth und Silke kauen lustlos auf dem Kuchen herum. Jede ist mit ihren Gedanken auf einem anderen Schauplatz.
Alle Versuche, die beiden Mädels aufzumuntern, scheitern. Erst am Abend bringt Frau Mahler Ruth auf die andere Straßenseite bis vor die Wohnungstür.
Bestürzt stellt Ruth fest, dass sie nicht vermisst wird. Leise und geduckt, wie ein geschlagener Hund, schleicht sie in ihr Zimmer, welches sie in naher Zukunft mit ihrer verhassten Schwester wird teilen müssen. Ihr Vater ist immer noch nicht nach Hause gekommen. Tränen schießen erneut in ihre Augen.
Verdrossen sieht sie sich in ihrem kleinen Zimmer um und fragt sich verzweifelt: Wo soll denn hier noch ein Schlafplatz hin? Es ist doch sowieso schon so eng. Lediglich ein Schrank und ein Bett finden in diesem Zimmer Platz. Unter dem kleinen Fenster hat vor einigen Tagen ihr Stiefvater einen Schreibtisch gebaut, damit sie demnächst ihre Schulaufgaben machen kann. Ruth denkt zurück an Heidelberg, das sie vor zwei Jahren für diesen kleinen Vorort von Karlsruhe verlassen musste.