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Das erschütternde Erlebnis

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Im Oktober 1956 hämmert Silke an Ruths Wohnungstür. Ruth öffnet erbost die Tür und will ein Donnerwetter vom Stapel lassen. Doch ihr bleiben buchstäblich die zurechtgelegten Worte, die sie auf der Zunge trägt, im Hals stecken.

Völlig konfus, leichenblass und mit aufgerissenen Augen steht ihre Freundin vor ihr. So hat Ruth Silke noch nie erlebt!

Entschlossen packt Ruth Silke am Arm und schiebt sie auf die andere Straßenseite. In diesem Augenblick ist es ihr egal, dass Christin allein in der Wohnung bleibt. Sie steuert die Bank unter ihrem Lieblingsbaum an. Tröstend legt sie ihr die Arme auf die Schultern, so wie es Silke immer tut, wenn es ihr schlecht geht. Ruth ahnt nicht im Leisesten, warum Silke so kopflos und gleichzeitig so zerstreut wirkt. Geduldig wartet sie, bis die Freundin ihren Kummer in Worte fassen kann.

Unter Tränen stammelt diese: „Meine Mama ist nicht mehr bei mir, sie hat mich verlassen.“ Silke wird von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt, bevor sie weiterspricht. „Sie ist gestern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Sie ist mit ihren Stöckelschuhen und den Einkaufstaschen am Asphalt hängen geblieben. Sie ist gestolpert, als der Linienbus gerade um die Ecke gefahren ist. Der sofortige Bremsversuch ist gescheitert und sie geriet unter die wuchtigen Räder und blieb einfach reglos liegen.“

Silke macht eine Pause, um das Unsagbare selbst zu begreifen. Dann spricht sie wie ein Tonband, das gerade abgespult wird, monoton weiter: „Den Transport in das Krankenhaus hat sie nicht überlebt.“ Silke schüttelt ein Weinkrampf nach dem anderen. Ruth ist sprachlos und zutiefst erschüttert; ihr fallen keine tröstenden Worte ein. Sie rüttelt Silke an den Schultern und schreit: „Was sagst du da? Damit macht man keine Scherze!“ Umklammert halten sie sich fest und lassen ihren Tränen freien Lauf.

Ruth kann Silke nicht trösten; auch in ihr wütet ein brennender Schmerz. Frau Mahler ist für sie wie eine Mutter gewesen. Oh Gott, warum ist das Leben so grausam? denkt sie.

Damit sie nicht lauthals losheult, versteift sich Ruths Körper.

Stillschweigend sitzen die beiden eng umschlungen auf der Bank unter dem alten Baum. Wie lange sie dort sitzen, wissen sie nicht, Zeit spielt keine Rolle mehr. Nichts spielt mehr irgendeine Rolle ohne Silkes Mutter. Ohne Silkes Mutter ist alles endlos geworden.

Konfus und ohne Vorwarnung springt Silke auf und schreit ihren Zorn und ihre Hilflosigkeit aus sich heraus. Hektisch zerrt sie an Ruths Jacke, um Ruth zu sich hochzuziehen. Ruth hat nicht die geringste Vorstellung, was im Inneren ihrer Freundin gerade vor sich geht. Silke hämmert heftig mit ihren Fäusten auf Ruth ein und schreit herzzerreißend: „Warum hat sie mich alleine gelassen, was soll ich denn ohne sie tun? Sag es mir, Ruth! Warum nur?“

Ruth versucht ihre Freundin zu beruhigen, doch es gelingt ihr nicht. Sie zerrt Silke über die Straße und bringt sie nach Hause. Ruth ist es egal, ob sie wieder einmal Hausarrest bekommen wird, weil sie Christin ohne Aufsicht lässt. Sie sagt sich: Silke ist jetzt wichtiger! Schließlich ist Christin sechs Jahre alt, da kann sie ruhig mal für eine Stunde alleine bleiben. In dem Alter bin ich auch alleine zu Hause gewesen, beruhigt sie sich.

In Silkes Wohnung angekommen, durchsucht sie hektisch die Schränke und hofft einen Schnaps oder Ähnliches zu finden. Mir hat der Schnaps immer über meinen Kummer hinweggeholfen, warum sollte er also nicht auch Silke helfen?, kurbelt es in ihrem Kopf. Irgendwann wird sie fündig, nimmt die Flasche Martini und kippt zwei Gläser davon randvoll.

Sie gibt Silke ein Glas und befiehlt: „Auf ex“, und sie trinken den warmen Martini ohne Eis ex.

Es dauert keine zehn Minuten und Silke muss sich übergeben. Sie brüllt und schreit, steckt sich immer wieder einen Finger in den Hals und kotzt sich die Seele aus dem Leib. Ihre Kehle brennt wie Feuer; Silke hat noch nie zuvor Alkohol getrunken. Ruth ist zufrieden mit dem, was sie sieht, und verfrachtet Silke ins Bett. Sie wartet, bis sie eingeschlafen ist. Erst dann, es ist bereits nach Mitternacht, verlässt sie die Wohnung ihrer Freundin. Silkes Vater ist nirgendwo zu sehen.

Leise öffnet Ruth die Wohnungstür und glaubt ungesehen in ihr Zimmer zu gelangen. Christin hat sie in der tiefen Trauer, die sie noch immer umgibt, vollkommen aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Erst in dem Moment, als sie die Türschwelle betritt, fällt es ihr wieder siedend heiß ein. Ruth holt tief Luft und betet inständig, dass ihre Mutter bereits schläft.

Diese Hoffnung zerschlägt sich schlagartig. Wie eine Dampfwalze stampft die Mutter auf sie zu. Ruth sieht aus dem Augenwinkel den Gürtel in ihrer rechten Hand. Bevor sie ausweichen kann, peitscht dieser unaufhörlich auf sie ein. Sie spürt, wie die Gürtelschnalle ihren Beckenknochen streift. Ruth verkneift sich den Schrei, den sie vom brennenden Schmerz ausstoßen will. Geistesgegenwärtig hebt sie ihre Hände, um ihr Gesicht zu schützen. Zu spät! Sie fühlt, wie ihre Lippen pelzig werden und ihre Augen trüb vom Blut ihrer aufgeplatzten Augenbraue.

„Das ist zu viel!“, schreit Ruth vor Schmerz. Innerlich auf das Tiefste aufgewühlt, reißt sie ihrer Mutter den Gürtel aus der Hand, schiebt sie mit unsagbarer Kraft an die gegenüberliegende Wand und zischt drohend in ihr Ohr: „Wenn du es wagst, mich noch einmal anzufassen, bringe ich dich um. Das verspreche ich dir hiermit hoch und heilig! Und noch etwas: Deine Christin kannst du dir sonst wohin stecken ‒ ich werde nicht mehr auf sie aufpassen.“

Ruth dreht sich auf dem Absatz um und stampft, als sei sie fünf Zentner schwer, in Richtung ihres Zimmers. Sie registriert, dass ihr Vater wieder nicht zu Hause ist.

Die heutigen Ereignisse waren zu viel für Ruth. In dieser Nacht weint sie sich in den Schlaf. Böse Träume begleiten sie. Auch sie kann nicht begreifen, dass Frau Mahler, die wie eine Mutter zu ihr war, einfach aus ihrem Leben verschwunden ist.

Sie hat ihr den Trost und die Liebe zukommen lassen, die sie in der eigenen Familie vermisst hat.

Manche Engel sterben früh

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