Читать книгу Manche Engel sterben früh - Margarete van Marvik - Страница 6
Rückblick
ОглавлениеRuth ist am achtzehnten Juli 1943 in Heidelberg geboren und es sind nur noch zehn Tage bis zu ihrem siebten Geburtstag. Ihren richtigen Vater kennt sie nicht; er ist vor ihrer Geburt im Krieg gefallen. Ihren Stiefvater himmelt sie an, denn er ist groß, blond und stark.
Der 8. Juli 1950 ist ein wundervoller warmer Sommertag. Ruth freut sich auf diesen Nachmittag, denn sie wird mit ihrem Papa ins Schwimmbad gehen. Seit vier Wochen streicht sie jeden Abend auf ihrem eigens hierfür gebastelten Kalender einen Tag ab.
Den heutigen und letzten Tag des Wartens hat sie mit einem ganz dicken schwarzen Stift durchgestrichen. Ihre Badesachen sind schon seit Tagen gepackt, sodass sie die Tasche nur noch greifen muss.
Ruth ist ein aufgewecktes und fröhliches Mädchen. Ihre roten, leicht welligen Haare, die sie schulterlang trägt, lassen sie wie einen kleinen Engel erscheinen. Aus ihren grünen Augen sprüht der pure Schabernack.
An diesem Tag stürmt Ruth in die Wohnküche; sie will direkt in Papas Arme fliegen, da … Jäh bleibt sie an der Türschwelle stehen, als sie erkennt, dass er nicht wie sonst in der Küche steht, wenn sie sich etwas vorgenommen haben.
Eine beklemmende Stille breitet sich im Raum aus. Zum ersten Mal hört sie das laute Ticken der uralten Küchenuhr, die sie überhaupt nicht leiden mag. Zutiefst enttäuscht, dass sie ihrem Dad nicht in die Arme fliegen kann, sieht sie sich wütend um und spricht trotzig mit sich selbst: „Er ist nicht da!“ Anklagend zieht sie ihre Schultern nach oben und lässt sie mit einem Ruck wieder nach unten fallen. Ihre gute Laune ist dahin und zornig ruft sie: „Dad, wo bist du? Sag doch etwas! Hast du vergessen, dass wir heute schwimmen gehen wollen?“ Demonstrativ steht sie in der Küche und wartet mit verschränkten Armen auf eine Antwort.
Doch nicht ihr Dad antwortet ‒ nein ‒ ein Babygeschrei aus dem angrenzenden Schlafzimmer dringt unüberhörbar zur Küche herüber.
Kritisch sieht sie sich um und hält die Luft an. Habe ich richtig gehört?, denkt sie verstört. Skeptisch legt sie den Kopf zur Seite und geht, einen Fuß vor den anderen setzend, in Richtung Schlafzimmer. Die Tür ist nur angelehnt; leise tastet sie sich näher heran und schiebt die Tür einen Spalt auf. Was sie sieht, raubt ihr den Atem!
Mit aufgerissenen Augen und offenem Mund geht sie, mechanisch von einer unsichtbaren Hand gezogen, auf das Bett ihrer Mutter zu. In diesem Augenblick versteht und registriert sie in ihrem kleinen Kopf, wer ihren schönen Sommertag im Schwimmbad mit ihrem Dad zerstört hat.
Es ist das Baby im Arm ihres Vaters!
Wie vom Blitz getroffen starrt sie auf dieses schreiende Etwas in Papas Armen. Immer noch geschockt fragt sie ihren Vater stotternd: „W-wann gehen wir ins Schwimmbad? D-du hast doch versprochen, heute mit mir schwimmen zu gehen!“ Ihr Dad hört ihre Frage jedoch gar nicht, er ist völlig hin und weg vom Anblick seines Kindes.
Stattdessen ruft die Mutter ihr zu: „Sieh mal, das ist deine kleine Schwester; willst du sie nicht auf unserer Welt willkommen heißen?“ Willkommen heißen?! Widerwillig bewegt sich Ruth einen Schritt vorwärts zum Bett ihrer Mutter und muss zusehen, wie ihr Dad mit verklärtem Blick das Baby umschlungen hält. Verständnislos wandert ihr Blick zu ihrer Mutter, dann zu ihrem Vater und zuletzt zu dem Baby. Ruth fühlt sich restlos verraten von ihrem Dad, der wegen eines Babys die gemeinsame Verabredung hat platzen lassen.
Und was soll an diesem hässlichen Etwas mit knallrotem Kopf gefälligst schön sein?, geht es ihr durch den Kopf. Außerdem sind da, wo die Augen sein sollen, nur eitrige Schlitze zu sehen. Und sabbern tut die auch noch ‒ igittigitt!
Völlig aufgebracht, dass man ihr einfach so eine Schwester präsentiert, verschränkt sie trotzig die Arme. Um ihrer Empörung Nachdruck zu verleihen, stampft sie mit ihren kleinen Füßen mit aller Kraft auf den Boden.
Die Gedanken in Ruths kleinem Gehirn wirbeln wild durcheinander. Ich will doch gar keine Schwester; ich bin glücklich so, wie es ist, und das soll sich auch nicht ändern!
Mit gewaltiger Wucht wird ihr plötzlich klar, dass der kleine Störenfried ihr Leben verändern wird. Verzweifelt schreit sie: „Was ist auf einmal los mit euch, warum habt ihr mir nichts davon gesagt? Was habe ich falsch gemacht? Ihr wollt mich nicht mehr, deshalb habt ihr euch noch ein Baby gemacht, gebt es zu! Wir haben bisher doch so viel Spaß gehabt, auch ohne das Baby! Was habe ich euch denn getan?“
Ruth schluchzt vor innerer Zerrissenheit laut auf. Sie versteht ihre Eltern nicht mehr und glaubt mit einem Mal zu wissen, dass sie nicht mehr der Liebling ihres Vaters sein wird.
Sichtlich beherrscht zischt ihre Mama, die nun ebenfalls zornig geworden ist und offensichtlich kein Verständnis für Ruths seelischen Ausbruch hat, zurück: „Das verstehst du nicht Ruth, dafür bist du noch viel zu klein. Christin ist jetzt deine kleine Schwester. ‒ Basta! ‒ Keine Widerrede mehr, geh auf dein Zimmer.“
Vor lauter Zorn und Hilflosigkeit rennt Ruth weinend aus dem Schlafzimmer. Chaotische Gedanken schlagen in ihrem winzigen Kopf Purzelbäume und sie fragt sich immerzu: Was habe ich falsch gemacht? Warum wollen die plötzlich ein anderes Baby haben? Bin ich nicht mehr hübsch genug? Genüge ich ihnen nicht mehr zum Liebhaben? Warum haben sie mir nicht gesagt, dass Mama ein Baby im Bauch hat?